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Der Herr Oberlehrer lächelte neulich sarkastisch, als wir von Imponderabilien sprachen, und sagte kühl ablehnend: Imponderabilien? – ein ausrangierter Ausdruck!
Ich aber sage: Im Geistesleben gibt es Imponderabilien! Es bleibt dabei, auch wenn die Physik diesen Begriff beseitigt hat. Im Leben des Geistes treten Wirkungen und Kräfte ein, denen kein Wägen, kein Messen auf die Spur kommt; kleine, kleinste Dinge, unfaßbare, dem Auge und der Forschung wie ein Verfolgter ausweichend, aber wirksam, rührig, plötzlich tätig, an Stellen, auf die sich keine Absicht richtete, und still wie eine Maus, der man mit dem Lichte in ihren Schlupfwinkel nachleuchtet, wenn Wirkungen gewollt und herbeigenötigt werden sollen. Wer aus eigenem Antriebe oder von Amts und Staats wegen in anderen das Gute zu wecken und zu fördern sucht, regelt mit strenger Gewissenhaftigkeit sein Tun, feilt seine Reden und kann, wenn er sich still auf sich besinnt, sich oder anderen über seine Absichten und sein Tun 35 Rechenschaft ablegen; wenn er aber sähe, was unter seinen Worten und Taten gewirkt hat, so wäre er gewiß sehr erstaunt, daß die Worte gewirkt haben, die er zufällig sprach, von denen er gar nichts mehr weiß, daß dagegen der ganze Aufwand klug gegliederter Maßnahmen und Reden wie ein Glockengeläute in der unendlichen Steppe war, dünn verklungen und rasch erstorben in der echolosen Weite.
Hier schwieg Martin, weil es ihm schien, als wollte der Oberlehrer sprechen. Dieser aber sagte halb ironisch – die Ironie war eine gesellschaftliche Tändelei von ihm, er war im letzten Grunde ein ganz ernster Mensch –: Nach Ihnen!
Und Martin fuhr fort: Als ich elf Jahre alt war, streifte mich einmal ein sanfter, vorwurfsvoller Blick, ohne daß ich ihn innerlich merkte; vierundzwanzig Jahre später fing ich ihn erst auf, verstand ihn sofort und ward von Kummer geschlagen. Ich war damals in Montreux; eine Tischnachbarin erzählte, ich weiß wirklich nicht, in welchem Zusammenhange, der Same des Fingerhutes gehe im hohen Walde nicht auf, sobald aber die Bäume gefällt würden, so sproßten die Körner, und hätten sie hundert Jahre im Boden gelegen, zu den hohen Stauden empor. In dem Augenblick, als das neben mir gesagt wurde, errötete ich, ich sah jenen Blick, den meine Mutter auf ihren Knaben warf. Sie war zu einer Gesellschaft geladen, sie trug ein altes seidenes Kleid, ihr einziges besseres Kleid, das sie aus freundlicheren Zeiten gerettet hatte: wir 36 waren damals sehr arm. Ich begleitete meine Mutter und trat auf der Straße, ohne es zu wollen, auf ihr Kleid; ein großer Riß zeigte, was ich getan hatte. Sie drehte sich rasch um, und ich sah ein erschrockenes, ein erzürntes Gesicht; ich aber sagte gleichgültig, nach Knabenart, nicht affektiert gleichgültig: Das macht nichts, das näht man wieder zu! Da sah mich meine Mutter sanft und mit stillem Vorwurfe an, ich aber ging pfeifend weiter. Dieser Blick hat mich, allerdings sehr spät, aber nicht zu spät, vieles gelehrt; vielleicht war es das beste, das mir die Heimgegangene gegeben hat.
Die Freunde schwiegen, als Martin geendet hatte. Jeder mochte an Vater und Mutter denken.
Dem Oberlehrer aber schien es, als wäre es gut, wenn nun ein heiteres Wort gesprochen würde, und er sagte: Im geistigen Sinne gestehe ich das Vorhandensein von Imponderabilien gerne zu. Ich selbst habe ein Wort von Goethe einmal in meinen Studentenjahren als ein solches wirkungsvolles Imponderabile empfunden. Ich hatte einen Spazierstock, den ich sehr liebte, den ich überallhin mitnahm, den ich durch die Finger wie ein Rad laufen ließ und dem ich nicht gram wurde, als er mir den Namen Balancierfritz eingetragen hatte. Er war ein sehr unruhiger und phantastischer Stock und verleitete mich nur zu oft zu gleicher Unruhe. Er versuchte, ob der Mörtel an den Weinbergsmauern haltbar sei, er sah darauf, daß Steinchen, die im Wege lagen, vor ihm das Weite suchten, er stieß nach Blättern, die auf dem Boden lagen, mit 37 dem Ehrgeize, eine bestimmte Stelle zu treffen, und ich machte alle diese Unziemlichkeiten mit. Einmal aber ersahen wir beide uns eine kleine, schwarze Spinne, die sich am sonnigen Boden wärmte, zum Gegenstande der Treffsicherheit. Der Versuch gelang, das Tier war blitzschnell getroffen und tot; da aber fiel mir in demselben Augenblick Goethes teilnahmsvolles Wort ein.
Als ich einstmal eine Spinne erschlagen,
Dacht' ich, ob ich das wohl gesollt.
Hat Gott ihr doch wie mir gewollt
Einen Anteil an diesen Tagen!
Seitdem ruht die Erinnerung wie ein Wächter vor der Lust zum gedankenlosen Zerstören und bewahrt mich in der Tat treu davor.
Mein Vater – so nahm nun Eugen das Wort, von dem ihr alle wißt, daß er ist, was man einen Strenggläubigen nennt, war in seinen jüngeren Jahren, man kann sagen, religionslos; sein Elternhaus und ein dürftiger Religionsunterricht waren zu gleichen Teilen daran schuld. Als er nun einmal als junger Beamter bei einem schwer erkrankten Freunde wachte, da steigerte sich in jener Nacht die Krankheit so, daß mein Vater den Eintritt des Todes fast von Augenblick zu Augenblick erwartete. In der Angst um das Leben seines Freundes suchte er nach Gott, aber er hatte verlernt, ihn anzurufen, das Vaterunser war ihm so gut wie unbekannt geworden, kein Gebet der Kinderjahre wurde wach, nur allein das Wort: Hüter, ist 38 die Nacht schier hin? fiel ihm ein, und nun saß er lange, qualvolle Stunden der Nacht, und so oft er keine Handreichung zu leisten hatte, hielt er die Hände gefaltet und rief zu Gott: Hüter, ist der Tag noch fern? Dem Freunde aber und ihm brach ein neuer und freudiger Lebenstag herein.
Wenn Erinnerungen einmal wach werden, so ruft eine die andere. Eugen fuhr fort: Laßt mich euch noch erzählen, wie ich selbst aus religiöser Gleichgültigkeit, wie sie so oft gerade über die Söhne frommer Eltern im Einatmen der akademischen Freiheit kommt, die erste Aufrüttelung erfuhr. Als ich mit unserem Freunde Paulsen, dem Geographen, eine Wanderung durch den Schwarzwald unternahm, bei dem es ihm im wesentlichen um den Besuch der Donauquellflüßchen zu tun war, marschierten wir an einem heißen Julitage von Triberg her durch das obere Bregtal, den sogenannten Katzensteig; wir hatten vor, erst in Furtwangen zu rasten, aber die grelle Hitze und die schattenlose Straße nötigten uns, früher Halt zu machen. Wir kehrten im Gasthaus zum Hirschen ein und rasteten hier in einer Wirtsstube, deren Tapete mich gleich nach dem ersten Eintreten lebhaft beschäftigte. Sie trug nämlich in vielfacher Wiederholung das Bild des guten Hirten, der das verirrte Lamm auf seinen Schultern gerettet nach Hause bringt; keine Christusgestalt, sondern ein Hirte in schottischer Tracht, der bunte Hochlandsplaid fehlte nicht; einer der beiden begleitenden Hunde trug die Schottenmütze fest zwischen den Zähnen 39 gefaßt. Auch Paulsen sah die Tapete nachdenklich an und sagte: Man muß der Welt nur hinstellen, was zum Sinnen und zur Einkehr auffordert; die rechte Stunde bringt den rechten Beschauer. Wer wegen der Stumpfheit der Menge jene Aufrufe zu Höherem nicht ausstreut, betrügt den einen, der zu bewegen gewesen wäre. Ich billige es, daß man überall, wo es schicklich ist, die Wegweiser nach oben aufrichte. – Abends, als ich zur Ruhe ging, fuhr mir der letzte Satz plötzlich durch den Sinn; ich sagte leise, wie ein Schulpensum, vor mich her: Ich billige es, daß man überall, wo es schicklich ist, die Wegweiser nach oben aufrichte. Darüber faltete ich unwillkürlich die Hände und befahl mich zum erstenmal, seitdem ich Student war, wieder dem guten Hirten.
Man hatte schon lange dem Staatsanwalt angesehen, daß er auch etwas zu sagen hatte, und als Eugen geendet hatte, richteten sich wie nach Verabredung alle Blicke auf ihn. Er lächelte, ergriff dann aber ohne Vorrede das Wort, wie er es beabsichtigt hatte: Lassen Sie mich Ihnen erzählen, wie ein einziges Wort mir den Mut zum Einschlagen meiner jetzigen Laufbahn machte. Ich war Primaner, aber es wollte nicht vorwärts gehen; zwei neue junge Lehrer kamen, der eine wußte entsetzlich viel Griechisch, der andere hielt uns für analytische Geometrie für überreif, aber in beiden Fächern fehlte es uns gar sehr an den Grundlagen; als ich einmal einige dreißig Fehler im griechischen Skriptum hatte und eine stattliche Anzahl »Fünfer« 40 in der analytischen Geometrie besaß, überkam mich eine große Mutlosigkeit; ein Zeugnis, das dann auch in anderen Fächern schlechte Aussichten erweckte, schlug dem Faß den Boden aus, ich hielt mich für völlig unbegabt; meine Freude an der deutschen Literatur kam mir wie ein Unrecht vor, ich selbst konnte nicht erkennen, was andere vielleicht sahen, aber mir nicht sagten, daß ich doch ein reges Interesse, einen gesammelten, frischen Sinn für manches Schöne und Bedeutende hatte; ich trat aus dem griechischen Unterrichte aus und bereitete mich mit leidenschaftlichem, aber unfrohem Eifer auf Postelevenprüfung vor. Nun wurde eben damals eine Verwandte von mir konfirmiert, und zu Ehren dieses Tages kam ein Onkel aus der Ferne, der wegen seines Reichtums und seiner hohen geistigen Bedeutung immer in der Familie mit besonderer Auszeichnung genannt worden war. Ich sah ihn damals zum ersten- und zum letztenmal. Es war ein alter, schneeweißer, durchaus imponierender Aristokrat. Er nahm keine Notiz von mir, und ich war in meinem Primanergemüt tief dadurch verletzt. Plötzlich aber bei Tisch sagte er ohne jede äußere Veranlassung über die Tafel hinüber zu mir: Junger Mann, Sie denken! Diese vier Worte waren in der Tat die einzigen, die er an mich richtete, aber sie beseligten mich, ich liebte ihn dafür unaussprechlich, ich hörte begeistert auf alles, was er an jenem Tage noch sprach, ich ging am nächsten Morgen zu unserem Direktor und bat ihn, mich wieder zum griechischen Unterrichte zuzulassen; ich erhielt die nötige Schelte und die noch 41 nötigere Erlaubnis, machte ein erträgliches Examen und wurde durch vier Worte königlicher Staatsanwalt!
Die Freunde lachten. Jetzt ergriff Franz das Wort und sagte: Ich stelle nunmehr den Schlußantrag, erteile mir selbst aber zuvor noch das Wort zur letzten Erzählung.
Man sah ihn erwartungsvoll an, und er begann, wie folgt: Es war einmal einer ein Pfarrer dreißig Jahre in seinem Dorfe und hatte sechzigmal dreißig Predigten an den Sonntagen gehalten, sonst aber hatte er die Leute gewähren lassen. Da hatte er umsonst gearbeitet. Aber am ersten Tage seines einunddreißigsten Amtsjahres begegnete ihm draußen vor dem Dorfe ein Bauer, der seit dreißig Jahren alle Predigten seines Pfarrers gehört hatte, ohne daß sie zu seinem Herzen gedrungen waren. Zu dem sagte der Pfarrherr: Hannfrieder, ich seh's Euch an, Ihr seid gedrückt in Eurem Gemüte, denkt an das bittere Leiden und Sterben unseres Herrn Jesu Christi und richtet Euch vertrauend daran auf! Da erzählt der Hannfrieder dem Herrn Pfarrer, was ihn traurig gemacht hat, geht heim, segnet seinen Pfarrer und sagt: Ja, wenn wir den Herrn Pfarrer nicht hätten! Der kann's, der hilft einem in seiner Verlassenheit.
Nun, Hans, was hast du aus alledem gelernt? fragte jetzt, nachdem Franz geschlossen hatte, der Oberlehrer das jüngste Mitglied des Freundeskreises. Er hieß scherzweise der »Jüngste«, war ein gescheiter, ruhiger und harmloser Mensch und litt, nach dem einstimmigen Urteil aller, an chronischer Unverständigkeit.
42 Hans sagte vergnügt: Ich habe daraus gelernt, daß man getrost reden soll, was einem auch durch den Sinn fährt: es kann alles wirken; ich komme mir seit einer halben Stunde recht – – – »bedeutend« vor.
Unverständiger Hans! 43