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Mit meinen Nachbarn zur Linken stehe ich in keiner Verbindung. Übrigens kenne ich sie recht gut, wir grüßen uns, und wenn ich mein Tor aufschließe und zufällig mein Nachbar gleichzeitig in seinem Schlüsselringe ebenfalls nach seinem Torschlüssel sucht, so macht er mir unter allen Umständen einige Mitteilungen über das Wetter, denen ich zustimmen muß, da sie nur unbestreitbar Richtiges enthalten. Längere Unterhaltungen sind mir nicht erwünscht, seine Stimme ist laut, und sein Ton der eines Mannes, der immer recht hat.
Vor einigen Wochen traf ich ihn und seine Frau in dem großen, neuen Bazar. Der gleiche Anlaß hatte uns dorthin geführt: ein Bekannter von uns feierte seine silberne Hochzeit, und es galt, ihm ein kleines Geschenk zu finden. Mein Nachbar wählte ein Reisenecessaire, das reich mit allen Notwendigkeiten eines verfeinerten Lebens gefüllt und dementsprechend teuer war. Wir 72 verließen zusammen den Laden, und draußen, gleich vor der Ladentüre, sagte seine Frau: Du hast ja den Preis entfernen lassen! Das wäre auch nicht nötig gewesen! – Frau, wie kommst du mir vor? war seine entrüstete Antwort; wie sieht das aus, wenn der Preis stehen bleibt! Was sollte der Herr Oberdomänenrat von uns denken? Das ist nicht nobel! Weißt du, das tun nur die Parvenüs! – Die Parvenüs!! wiederholte er so laut, daß jemand, der weit unten am entgegengesetzten Ende der langen Straße ging, über dies Fremdwort und den Ton, in dem es gesprochen war, nachdenken konnte. Seine Frau schwieg gekränkt, bis wir uns an meinem Tore verabschiedeten.
Zwei Tage später trafen wir uns zufällig wieder und eben bei jenem Oberdomänenrat, dem aus der Tatsache, daß Gott ihm und seiner Frau gemeinsam fünfundzwanzig Jahre vergönnt hatte, ein persönliches Verdienst erwuchs, das von der Behörde, von elf Vereinen, in denen der Jubilar entweder aktives oder passives Mitglied war, und von dreiundsiebenzig Freunden anerkannt wurde. Mein Nachbar sprach vor mir seinen Glückwunsch aus, und ich hörte, wie er sagte: Wahrhaftig, Verehrtester, Sie müssen es mir ein wenig anrechnen, daß ich persönlich komme; es ist Samstag, das Kontor steht voll Menschen, es ist Zahltag, die Korrespondenz muß vor Sonntag erledigt sein, ich esse heute nicht zu Hause, damit ich unter allen Umständen den Sprung zu Ihnen tun konnte. Und der Jubilar schüttelte dem vielbeschäftigten Manne ohne Unterlaß die Hände, und 73 die Jubilarin sagte: Ja, heute erleben wir eine Freundschaft! Wer hätte sich so was träumen lassen! Ich aber dachte im stillen: Herr Nachbar, Herr Nachbar, Sie halten doch sonst darauf, daß man den Preis entfernt!!
Übrigens nahmen meine Nachbarn noch ein Glas Champagner an. Ich ging allein nach Hause. Es war ein heller, klarkalter Wintertag, der Reif umkleidete die Bäume, die Zweige, die Gartenspaliere, die Fensterrahmen; ein schöner blauer Himmel spannte sich weit aus. Seine reine und unermeßliche Bläue führte meine Gedanken, die sich in den mit Geschenken und Gästen überfüllten Räumen des Jubilars angesponnen hatten, zu dem Ewigen fort. Ich dachte an den jüngsten Tag und sah seltsamerweise nichts als eine Schar Engel, die eifrig damit beschäftigt waren, in den Tugenden und großen Lebensergebnissen, mit denen die eben Auferstehenden vor dem Antlitz Gottes treten sollten und wollten, den Preis auszuradieren!
Mit meinen Nachbarn zur Rechten bin ich innig befreundet. Die Knaben wollen auf meinen Schultern reiten; das kleine Töchterchen lädt mich dringend ein, seine Puppe golden oder goldig zu finden; die Frau Doktor bringt kalten Aufschnitt zum Abendbrot, entschuldigt sich wegen der Einfachheit des Gerichtes, setzt aber lachend hinzu, dafür sei die Wurst schon gepellt, und der Herr Doktor – wir nennen uns du – will, ehe ich noch meinen Überzieher abgelegt habe, meine 74 sofortige Zustimmung in irgend einer Sache, einem religiösen Problem, einer philosophischen Frage oder wegen eines Zeitungsartikels, der ihn geärgert hat, denn er ärgert sich über die Zeitungen, auch über die seiner Partei. Es sind liebe Leute. Fehler haben sie nur solche, und nur so viele, daß das Gemüt, das sie liebt, sich an diesen Fehlern ergötzen kann. Mängel sind Kitt, sagt die Frau Doktorin und überläßt dem Zuhörer, diesen Satz zu verstehen, denn sie liebt nicht, ihre Bilder zu erläutern.
Ein großer Mangel der Frau Doktor ist, wenn man ihrem Manne glauben darf, der, daß ihr zu viel einfällt. Sie hat einen Sternschnuppengeist, sagt er. Du redest von einer Sache, sie hört zu, und auf einmal fällt ihr etwas darüber ein, das wie eine Sternschnuppe aus einem unbekannten Winkel des Weltalls kommt und in einen unbekannten Winkel des Weltalls eilt, nein saust, verbesserte er sich, vergnügt lächelnd; aber was ihr so einfällt, ist auch hübsch wie eine Sternschnuppe.
Jüngst war ich wieder dort zu Gaste. Wir saßen in der Dämmerung zusammen, die Lampe war nicht angezündet; die Frau Doktor »dämmert gerne«. Ein winterlich-weicher, grauer Tagesschein erhellte noch spärlich den Raum; wir sprachen ein wenig, manchmal nur einer, zuweilen schwiegen wir und hörten, wie es im Ofen knisterte oder wie die Uhr tickte. Im anstoßenden Studierzimmer brannte die Lampe, damit Heinrich, der älteste Sohn, ein angehender Sekundaner, seine Schularbeiten vollenden konnte.
75 Nach einer Weile kam Heinrich herein und fragte, was das lateinische Wort Introite, nam et heic dii sunt. bedeute; übersetzen könne er es, aber er verstehe es nicht. Der Doktor zog seinen Ältesten zu sich heran und legte ihm zärtlich beide Hände auf die Schultern und sagte: Hast du schon einmal etwas von Heraklit gehört? Heinrich besann sich und sagte dann treuherzig – er war ein harmloser, frischer und geistig regsamer Knabe: Ja, schon dreimal! In unserm griechischen Übungsbuche steht: Die Griechen nannten den Philosophen Heraklit von Ephesus den Dunkeln; und bei dem Klassenausfluge im Juni sagte der Herr Oberlehrer, als wir ein zweites Fäßchen anstecken wollten: Ihr Jungen, der alte Heraklit sagt zwar, die trockene Seele ist die beste, aber da es heutzutage keine Note eins mehr gibt, wollen wir nur gute Seelen sein und noch ein Fäßchen bestellen! – Wir lachten. Heinrich ließ sich aber nicht irre machen und fuhr fort: Das drittemal habe ich erst in dieser Woche von dem Herrn Doktor Frohwein (seinem Lehrer der Naturkunde) von Heraklit gehört; er sagte: Heraklit habe schon fünfhundert Jahre vor Christi Geburt den Kreislauf des Lebens erkannt. Mehr aber weiß ich nicht von ihm.
Der Doktor hatte seinem Sohne mit Freuden zugehört und sagte nun seinerseits: Dieser Heraklit war ein tiefsinniger und frommer Mann. Ja, der Märtyrer Justinus von Sichem hat ihn einen Christen vor Christus genannt. Als ihn einmal einige Leute wegen seiner Weisheit und Frömmigkeit aufsuchten, und zwar an 76 einem Tage, an dem es recht kalt war, da fanden sie ihn nicht in seinem Gemache, sondern in dem Backofenstübchen; er aber sagte, weil er wußte, daß der Mensch immer vor Gott steht, wo er auch stehe, also überall ein Gotteshaus ist, wo auch der fromme Mensch sich aufhalte: »Tretet ein, denn auch hier sind die Götter«, wie es dein lateinisches Wort uns überliefert. Sieh, mein Junge, fuhr er zutraulich und herzlich fort, indem er die Hand seines Knaben faßte, Gott läßt sich nicht bloß im Gotteshaus finden, er ist auch mitten unter uns, wenn wir unsere Hausandacht halten, gleichwie Christi Mutter auf dem Holbeinischen Bilde dort an der Wand ungesehen im Kreise einer dankbar betenden Familie steht. Gott schreitet, dich liebend, neben dir, wenn du wanderst und seiner suchend oder dankend gedenkst! Dann ließ er die Hand los, und Heinrich ging zu seiner Arbeit zurück.
Kaum hatte sich die Türe hinter ihm geschlossen, so sagte die Frau Doktorin: Es ist zu merkwürdig, an wen ich vorhin habe denken müssen. Du rätst es nicht. Mir ist ja der Ehrenberger eingefallen. Der Ehrenberger, der Schornsteinfeger? fragte der Doktor; ich hörte, wie er seine Frau Sternschnuppe bewunderte, daß sie an jenen Schornsteinfeger gedacht hatte, dem auch er in seinen Kinderjahren manchmal ausgewichen war.
Ja, der Schornsteinfeger Ehrenberger! Ich sah mich als Kind in unsrem Dorfe auf der Gasse. Von weitem sehe ich den Ehrenberger, wie er etwas schleppt, etwas ganz Schweres. Ich rannte die Gasse hinauf zu ihm, um zu sehen, was für ein weißes Rätsel der schwarze 77 Mann trüge. Es war etwas ganz Wundervolles; ich zog meinen Zopf über die Schulter herunter und zerrte und nestelte daran, und dann sagte ich: Herr Ehrenberger, schenk mir das. Nein, Fräulein Christel, das ist ja mein Meisterstück, sagte er, das kann ich dem Fräulein nicht schenken. Richtig, der Ehrenberger hatte einen Herd mit seiner geheimnisvollen Zugeinrichtung – mit allen Chicanen, wie der Vetter Paul sagt – im kleinen aus weißen Gipssteinchen gebaut und ihn irgend einer Kommission irgendwo vorgezeigt; dafür war er Meister geworden, und nun trug er sein Werk wieder nach Hause, aber so, daß das ganze Dorf es nach und nach genießen konnte. Er ersah sich die Gartenmäuerchen, das Brückengesimse und die Prellsteine, um es abzustellen; wir Kinder zogen hinter ihm drein und vermehrten ihm die Freude, daß er Meister geworden war.
Er wohnte im Kirchgäßchen, in einem elenden kleinen Häuschen; es war so elend, daß sogar wir Kinder das Haus für erbärmlich hielten. Aber das Hänschen wurde doch ein Wallfahrtsort für uns, denn der Gipsherd stand dort so, daß man ihn gut sehen konnte, wenn man sich auf den Zehen erhob und das Näschen an die blau und grün schillernde Fensterscheibe drückte.
Einmal aber wagte ich mich in das Haus, um den kleinen Herd recht nahe zu sehen. Da sah ich ein Elend, ein Elend! Der Ehrenberger war plötzlich erkrankt. Ich merkte es gleich, daß er krank sei; daß er arm war, wußte ich. Da lag er nun im ärmlichen Bette, und seine müde Frau ging leise herum, um etwas für ihn zu tun. 78 Der Schornsteinfeger war erfreut, daß ich kam; er sagte mit schwacher Stimme: Ach, Fräulein Christel, Ihr habt ja junge Beine, geht doch zum Herrn Bürgermeister und sagt ihm, der Bach habe nach dem starken Regen von voriger Woche das Ufer an dem »Pflanzenland« so weit in den Fußpfad hinein abgerissen, daß was passieren könnt'! Hier hustete er schwer und lange, dann lag er eine Weile still und erschöpft; es trieb ihn aber etwas, weiter zu sprechen, er sagte leise und durch Schmerzen unterbrochen: Das Fuchsiastöckchen am Fenster, das bringt der Borngässern, die arme alte Person ist krank und hat nichts, was ihr Freude machen kann. Die Schmerzen zwangen ihn, zu schweigen, er rang innerlich schwer; ich fürchtete mich vor ihm und wich nach dem Fenster zurück.
Als er wieder sprechen konnte, sagte er, seine Frau sanft anblickend: Fräulein Christel, meine Frau kann nicht lesen, lest mir doch einmal den dreiundzwanzigsten Psalm vor; dort liegt die Bibel. Ich suchte da, wohin der Kranke gewiesen hatte, und fand eine alte, in schwarzem Leder gebundene und mit Metallklammern versehene Bibel, sie war stark zerlesen. Dann las ich mit beklommener Stimme und mit zuckenden Lippen den Psalm vor. Er hörte still und mit gefalteten Händen zu. Dann kam ein neuer Anfall, der ihn schüttelte, ich weiß nicht mehr, war es Husten oder Krampf oder ein Fieberschauer; dann wurde er still, winkte auf einmal, ohne ein Wort zu sagen, seiner Frau wie einen Abschiedsgruß, und dann regte er sich nicht mehr. Aus dem 79 leidenschaftlichen Aufweinen der Frau merkte ich, der Ehrenberger war gestorben. Eine schreckliche Angst überfiel mich, ich nahm hastig den Fuchsiastock in den Arm und lief aus dem Hause und hielt nicht eher an, als bis ich mich hinter unserer Haustür geborgen sah.
Die Frau Doktorin schwieg. Keiner von uns ergriff das Wort. Da kam die Magd mit der Lampe herein, und ein freundlicher Schein legte sich auf Thorwaldsens segnenden Christus, der von der Wand herabschaute, und auf die vielen anderen Zeugnisse einer von warmen und guten Herzen geschaffenen Häuslichkeit. 80