Hermann Oeser
Des Herrn Archemoros Gedanken über Irrende, Suchende und Selbstgewisse
Hermann Oeser

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In einer kleinen ehemaligen Amtsstadt war im Jahr 1795 von einem Manne, den die Gelehrten unter seinen allerdings sehr ungelehrten Nachbarn einen Mystiker nannten, eine Gesellschaft gegründet worden, der der fromme und sinnige Mann den Namen »Kassandra, zum innigen Mitgefühl« gegeben hatte. Es galt ihm und den Mitbegründern um die gemeinsame Pflege ernster, geistiger Interessen. Die Gesellschaft setzte sich in all den Jahren ihres Bestehens aus strebsamen Beamten und gebildeten Bürgern des Städtchens zusammen. Sie hatte keine Geheimnisse, keine Statuten, keine Beiträge, keine Abstimmungen, keinen Vorstand, nur das älteste Mitglied leitete die Besprechungen. Mit dieser schlichten Verfassung kam der Verein beinahe hundert Jahre auf das beste aus. Veränderungen, die das Städtchen in jedem Betrachte schwer trafen, Verlegung der Behörden in eine größere und mehr im Mittelpunkte der Landschaft gelegene Stadt, führten neunzig Jahre nach der Gründung die Auflösung des Vereins herbei.

Seine Geschichte hatte sich äußerlich in den Hunderten von Silhouetten, Lithographien und Photographien der Mitglieder abgespiegelt, die die Wände des 6 Versammlungszimmers bedeckten, innerlich aber in der stattlichen Reihe von Bänden, die den einzigen Zwang enthielten, der nach dem getreulich befolgten Willen der Stifter den Mitgliedern auferlegt war. Jeder Vortrag mußte unter Bezeichnung des Tages, an dem er gehalten worden war, in ein Buch eingetragen werden. Von hier aus durfte er in die Presse der Provinz wandern, wenn der Verfasser glaubte, sich mit seinem Vortrage an einen weitern Kreis wenden zu dürfen.

In diesen Büchern fanden zugleich manche Arbeiten Aufnahme, die neben den ernsteren Gegenständen der Vereinssitzung die Teilnehmer durch die heitere Laune jüngerer Mitglieder erfreut hatten. Wer die Bände durchliest, wie sie nun, von fleißigen Händen geschrieben, seit 1795 einer zum anderen sich gereiht haben, dem tritt ein ernstes Bildungsstreben, eine herzliche Teilnahme an den Erlebnissen der Landschaft, an der äußeren und inneren Lage der Landsleute und ein reges Durchleben religiöser und kirchlicher Fragen entgegen.

Einer der fleißigeren Mitarbeiter an diesem Archiv des Vereins Kassandra war in dem letzten Jahrzehnt seines Bestehens ein Herr Archemoros, über den nur das zu sagen ist, was sich bei einem aufmerksamen Durchmustern der Vereinsbücher aus den Anspielungen der kleinen Beiträge ergibt, in denen das harmlose Neckspiel, wie es das vertrauliche dauernde Zusammensein von Vereinsgenossen überall zeitigt, freundnachbarlich seinen Kleinkrieg führte. Hier hatte nun namentlich ein junger Jurist – seine Arbeiten zeigen, daß er 7 diesem Stande angehörte – Herrn Archemoros, den er auch zuweilen, wohl wegen seiner stark hervortretenden religiösen Interessen, nur als »Seine Hochwürden« bezeichnete, mit seinem griechischen Namen geneckt, ja in der Faschingszeit, indem er dem Worte eine Ableitung gab, die jene alte Sprache nicht verbietet, einen »Erznarren« herausgelesen. Daraufhin hatte Herr Archemoros bei einem bequemen Anlaß die Gelegenheit ergriffen, seinen ehrlichen Namen aus den Händen seines jugendlichen Verfolgers zu retten.

»Meine Voreltern«, so sagte er hier, »hießen Fürgang; aber im sechzehnten Jahrhundert hat ein gelehrtes Mitglied unserer Familie den Namen durch den griechischen Eigennamen ersetzt, indem er offenbar dem deutschen Worte den Sinn des griechischen lieh: »Einer, der auf den Wegen des Schicksals anderen vorangegangen ist.« Mir aber sei und bleibe mein Name ein Symbol für alle meine Äußerungen euch gegenüber, daß ich nur von dem rede, was ich in mir erfahren habe, und daß ich mir bei der Darstellung fremden Irrtums immer bewußt bleibe, daß die Möglichkeit zu dem gleichen Irrtum, zur gleichen Sünde von Anfang auch in mir liege. Ich bin mit euch ein Suchender, ein Irrender und ach, wie oft auch ein Selbstgewisser. Aber ihr kennt mich nun so lange, daß ihr wißt, daß ich nicht wie ein Naturforscher die Geheimnisse des Gemütes zu ergründen suche, sondern als ein Liebender.«

Die hier vorgelegten Aufsätze des Herrn Archemoros mögen zeigen, inwieweit er seine Stellung zu den 8 Menschen und den Charakter seiner Arbeiten richtig bestimmt hatte. Sie lagen in reinlicher Abschrift bereit, um Aufnahme in den Blättern seiner Heimat zu suchen, als der Verein sich auflöste und sein Archiv mit einem der letzten Mitglieder in die Ferne wanderte. Sie treten nun diesen Gang an, ohne in den alten trauten Raum zurückkehren zu dürfen, in dem Herr Archemoros und seine Freunde so manche im besten Sinne gute Stunde verlebt hatten. 9

 


 


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