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Wie Herr Viktor Narzissus Zangkel
nicht dazu kam
sein erstes Buch zu schreiben.

Erstes Kapitel.

Worin man sieht, daß es eilt.


Nach seiner Meinung hatte Viktor Narzissus Zangkel keine bessere Wahl mit seiner Wohnung treffen können, als wie es vor drei Tagen geschehen war. In der Zotzelsgasse, der Straße der kleinen Leute, war das erste neue Haus gebaut worden, was denen in den großen Straßen auf ein Haar glich, aber doch nur ein Haus für kleine Leute war. Der Tüncher und Maler Christian Lebrecht Niemand hatte es errichtet, und zwar als ein Doppelhaus in Hufeisenform, und eine Brandmauer ohne alle Türdurchlässe trennte für so lange die beiden Häuser völlig, als die Zotzelsgasse noch keine Herrschaftswohnungen nötig hatte, und darnach sah es einstweilen nicht aus. Auch in dem Hofe, den das Hufeisen einschloß, war die Trennung der Einwohnerschaft durch eine Mauer durchgeführt, aber diese war nicht allzu hoch, und wer von Hinterhaus zu Hinterhaus mit einander plaudern oder nach dem Gange der Dinge auch einmal mit einander zanken wollte, konnte das bequem von den Galerien aus tun, die in allen Stockwerken rings um die ganze Hofseite liefen. Zotzelsgasse 66 a sah Zotzelsgasse 66 b sehr gemächlich in alle auf den Hof führenden Stuben und Stübchen, und die Gegenseite vergalt gleiches mit gleichem.

Als Viktor eine Wohnung suchte und sich auch hierhin von dem Tageblatt hatte führen lassen und aus die Galerie hinausgetreten war, drehte er sich mit hellen Augen um und sagte zu seiner Führerin, der Inhaberin dieser Wohnung im dritten Stock, Frau Revisor Schwendeli Witwe, gebornen Lautenschläger: »Ich behalte die Wohnung!« Denn seine Augen hatten gefunden, was sie bedurften: kleine Häuschen mit Fliederbüschen, Gärtchen, Gärten, Bleichplätze mit hellen Leinwandstreifen, Wiesen, ansteigende bunte Gelände, und darüber die nahe blaue Linie des Gebirges; Menschenstimmen klangen aus den Gärten der alten Stadt herauf zu ihm, helles Kindergetön, die Rufe und Antworten arbeitender Menschen, alles Leben und Bewegung, und alles so fern, daß es nicht störte, und zugleich so nah, daß in dem, der die Menschen liebte, nicht das Gefühl der einsamen Weltabgeschiedenheit auskommen konnte. Eine hohe, sehr schlanke Birke schlug fast an die Wand seines Hauses und stieg mit den letzten Blättchen bis nahe zu ihm empor, und gegenüber Menschen, nicht Dachziegel und blinde Scheiben in Lukenfenstern; ein junger Mann saß in dem, dem seinen in 66 b entsprechenden Zimmer und zeichnete, wie es schien – Viktor dachte: das ist ein scharf geschnittenes Profil –, dann kam eine Küche, ein Mädchen trocknete gelassen einen Teller und sah unverwandt herüber, da nun offenbar in 66 a ein Mieter gefunden war, und an dem letzten Fenster dieses Gegenübers, wo das Seitenhaus auf das Haupthaus traf, saß eine alte Frau, strickte und las über eine Brille hinweg – ein Fräulein, dachte Viktor, und so war es; sie regierte den jungen Mann, das Mädchen und so viele Leute in 66 b, als sich von ihr regieren ließen.

Viktor war entzückt. Jetzt mußte es gelingen!

Auch Frau Schwendeli war entzückt. Ein feiner junger Mann! so hatte sie ihn gleich eingeschätzt; er ließ mich zuerst in das Zimmer treten, behielt den Hut nicht auf, sah auch, daß eine Matte vor der Tür lag und hat hübsche, helle Augen. Nett, sehr nett. Dann sagte sie laut: »Und was soll ich bei der Polizei anmelden?«

Viktor sah sie fragend an, als ob sie ihm sagen könnte, was er denn eigentlich sei; da ihm aber das runde, gutmütige Gesicht der Vermieterin keine Auskunft gab, besann er sich und sagte: »Ich heiße Viktor Narzissus Zangkel.«

Die Hausfrau holte eilig Papier und Bleistift und schrieb nicht ohne schweigende Verwunderung diesen Namen nieder. Etwas ganz apartes, dachte sie.

»Ich habe,« fuhr Viktor langsam fort, als wäre deutsche Sprachstunde und er diktierte, »ich habe vor wenigen Tagen in Marburg in Hessen das naturwissenschaftliche Staatsexamen bestanden (»sehr gut« verschwieg er, er hätte es sagen dürfen, wenn er streng bei der Wahrheit hätte bleiben wollen), nachdem ich zwei Jahre die Gärtnerei zu Hause praktisch betrieben hatte, und werde nun in zwei Monaten bei meinem Vater Gehilfe im botanischen Garten in Endenburg. Inzwischen will ich hier« – er stockte und sagte dann etwas verlegen – »schriftstellern. Was müssen sie nun schreiben?«

Frau Schwendeli ordnete diesen besonderen Fall in die Welt ein, die sie kannte, und sagte: »Da werde ich wohl schreiben müssen: ›Hochfürstlich Endenburgischer Hofgartenassistent‹, beabsichtigt hier zu schriftstellern« – das letzte sagte sie mit Stolz.

Und so ward denn Viktor Narzissus Zangkel durch Frau Schwendeli zum hochfürstlich Endenburgischen Hofgartenassistenten ernannt, ihm zum stillen Ergötzen, aber eine Ernennung, die die Polizei so ernst nahm, daß sie von ihr sorgfältig zum 29. Mai gebucht wurde.

Aber nur dieses; das, was Viktor nach Haßlach und in die Zotzelsgasse geführt hatte, ließ der Polizeivermerk aus dem Anmeldezettel der Frau Schwendeli als völlig »belanglos« aus. Er aber wollte ein Buch schreiben, sein Buch, sein erstes Buch, es war die höchste Zeit, denn die zehn Jahre, die ihm das Schicksal als Frist gesetzt hatte, waren bald vorüber.

Viktor war ein bildhübscher Untersekundaner gewesen, er trug damals noch langes, gewelltes Haar, war fleißig und hilfsbereit, machte bereitwillig alle Streiche mit, die niemand schadeten und nicht geistlos waren, und fiel infolge einer frühen größern Ernsthaftigkeit und Unfähigkeit zu Ausflüchten gewöhnlich dabei hinein. Dann aber lachte er mit den Lachern. Das Thema des deutschen Aussatzes für die Weihnachtsferien waren »Die Gedanken des Odysseus« gewesen, »ehe er in Scheria die Mittel zur Heimfahrt erbittet«, und Viktor hatte seinem Odysseus ganz überschwängliche Gedanken geliehen; ihn rührte das Schicksal einer Menschenseele, die heimverlangt. Während seine Kameraden einen Seefahrer sahen, der sich überlegt, ob er nicht besser in Scheria bei den Phäaken bliebe, um zu werden als ihrer einer, vernahm Viktor die tiefen Rufe des immer und immer wieder Verstrickten und Gehemmten nach dem Ithaka seines Lebens und seiner Seele. Der Lehrer hatte den Aufsatz vorlesen lassen, denn trotz alles Ungriechischen in Gedanken und Ausspruch war die Sprache der Arbeit voll ursprünglicher Kraft und Biegsamkeit, aber aus die Mitschüler übte das Pathos des Odysseus natürlich nur eine komische Wirkung aus. Doch der Aufsatz ward zu Ende gelesen, und dann sprach der Lehrer das Wort, das ihm Viktor nie vergaß: »Lacht nur, wenn er in zehn Jahren schreibt, dann lacht ihr nicht mehr!«

Und nun eilte es. Es fehlten nur noch wenige Monate, dann waren die zehn Jahre unwiderruflich abgelaufen, und war der erste August vorüber, und hatte er Viktor neue, schwere Pflichten übertragen, dann sah Viktor keine Möglichkeit, je wieder zum Schreiben zu gelangen.

Aber er war nicht bange. Zwei freie Monate lagen vor ihm. Er wußte, was er schreiben wollte. Es sollte ein wunderbares Buch von den fünf klugen Männern und Frauen werden, wie er sie träumte, und wie er sie sah, beides im Lichte guter Tage. Denn Nachtträume suchten ihn wenig auf, schon darum nicht, weil er mäßig und ein Mann rühriger Bewegung war. Seine Tagesträume aber waren Bilder voll Schönheit, Ahnungen voll Bedeutung, und wenn er einmal im gewöhnlichen Sinne träumte, so knüpfte der Traum die Tagesgesichte mit seinen Jugenderinnerungen zu einem unentwirrbaren Knoten zusammen.

Diese Erinnerungen führten ihn gern in den Schloßgarten in Endenburg. Der Garten zieht wie ein Gedicht, das Geschichte und Natur zusammen erlebt und niedergeschrieben haben, in uralten Bäumen, dunkeln Alleen, in Resten von Wall und Schanzen, vor denen kein Feind mehr steht, und die nun der Efeu umklammert und durchrankt, vom Schloßberg in das Tal hinab. Durch dies Gedicht rauschen die Wasser, die vom hohen Gebirge heruntereilen und nun hier in natürlichen Fällen unter Farnwedeln und Brombeergebüschen hinabspringen und unter zierlichen, schmalen Brücken dahinschäumen.

Viktor hält die Hand seines Vaters gefaßt, des Hofgärtners, eines gutherzigen, sinnigen und heitern Mannes; zahllose Fältlein an beiden Augen ziehen sich manchmal zusammen, und die Augen lächeln dann, und der Schelm im Herzen redet durch die Fältlein, die Augen und einen Mund, der nur für freundliches da ist. Er nennt seinem Knaben die Blumennamen, erschließt ihm den Blick für das merkwürdige Eigenleben dieser und jener Pflanze. Wenn die Sonne abends durch die Bäume noch auf den Rasen golden hinscheint, dann sagt der Vater: »Sieh, Viktor, der liebe Gott schaut durch den Wald.«

Dann knüpften die Erinnerungen an spätere Tage an. Viktor ist Lateinschüler und lernt aus Büchern und Geschichten, daß alle Leute, die in der Welt zu Ehren kamen, Vorfahren haben. Und er entdeckt, daß auch er sie hat, und daß der Vater mit besondrer Freude von ihnen erzählt. Noch hört er, wie der Vater sagt: »Wir Zangkels sind alle ertrunken seit dem ältesten, von dem wir wissen. Das war der hochfürstlich hechingensche Kapellmeister Narzissus Zangkel; von ihm heißt jeder älteste Sohn in allen unsern Zangkelfamilien Narzissus. Er war ein guter Musikant und eine wackre Seele. Im Jahre 1600 wurde er mit allen den Seinigen, alle aus freiem Entschlusse, evangelisch, und gleich darnach forderte Gott von ihm den Beweis, daß er die Zeit geringer achte als Gottes ewigen Willen: er reiste durch den Schwarzwald, um nach Basel zu gehen, sein Brot unter Evangelischen zu verdienen, da fiel vor seinen Augen ein Knäbchen in die Kinzig, dem Städtchen Hausach gegenüber; er sprang in den Fluß, es zu retten, aber das rasche Wasser nahm ihn mit, nachdem er das Knäbchen zum Ufer getragen hatte. Das war ein leibliches Ertrinken; seitdem hat uns Gott vor einem solchen Tode bewahrt, aber er hat uns ein andres Ertrinken dafür geschenkt. Sein Sohn ward ein Pfarrherr im Baselbiet, ein kindlicher Mann, von dem wir noch Zeugnisse in alten Büchern haben: er ertrank in den Sternen. Nachts studierte er sie von seinem hochgelegnen Pfarrhofe aus und füllte ihr Licht, ihre Bahnen, ihr Kommen und Gehen mit feinen Gedanken aus. Seinen ältesten Sohn zog es in das Vaterland feines Großvaters zurück, er ertrank in süßer Musik und zog fromme Herzen erst zu Hause, dann in Welschland und dann wieder zu Hause in die heilige Flut seiner Töne hinab. Sein Sohn war dein Urgroßvater, eine kleine Weile ein Pfarrer und Schulmann, bis ihn Leiden darniederwarf. Da kämpfte er in den tiefen, reißenden Wellen den Kampf des Ewigen gegen einen von jeher schwachen Körper und eine von jeher alles zeitlich Schöne leidenschaftlich liebende Seele und erfüllte den Willen Gottes. Das war ein rechter Narzissus: alle Holdseligkeit und Heiligkeit, die im tiefsten Grunde eines Menschengemüts wohnen kann, kämpfte sich im Leiden hindurch an die Oberfläche und entfaltete sich rein und tröstlich und beseligend für die Seinen, die klagend sein Leiden mit ihm erlebten. Er brachte unser Geschlecht nach dem Endenburger Land, und hier hat es da und dort Wurzel geschlagen, und ein jeder hat seine Wellen gefunden, in denen er sich und seinem Lande zum Heile versank. Dein Vater, mein Viktor, ist in den farbenreichen, stillen, redlichen und schönen Blumen ertrunken, so lange ich zurückdenken kann, und nun möchte ich gar zu gern erfahren, ehe ich sterbe, worin du ertrinken wirst, mein Viktor Narzissus?«

Damals wußte es Viktor noch nicht, er konnte nur aus seinen belebten, redenden Augen den Vater mit tiefem, antwortlosem und erstauntem Blicke ansehen.

Heute weiß er es, und sein Buch soll davon Zeugnis ablegen, und von seinem Buche träumt er, wenn er allein wandert, wenn er Buchläden ansieht, und wenn ihm Menschen begegnen, die nach Ithaka heimverlangen. Er sieht es schön ausgestattet durch die Kunst des Buchdruckers und Buchbinders, und das Titelblatt ist besonders gelungen. Ein junger Künstler hat sich ganz Viktors Idee unterordnen können und hat ein Haus gezeichnet, das ist so wunderbar traulich und heimlich versteckt, an Fels, Wald und Wasser so hingelehnt, mit Erker, Türmchen und lustigem Rankenwerk so lockend geschmückt, daß es der Inschrift nicht bedurfte, die über dem Türsturz steht: »Haus zum Magnetberg« – man sieht, wie alle edleren Anziehungskräfte von dem Innern dieses Hauses ausgehen müssen, für das alles das schöne Außen nur wie ein rufendes Echo ist. Dies Haus schwebt ihm als ein Montsalvatsch für die Helden vor, von denen sein Buch, sein erstes Buch, handeln wird.

Aber es ist noch nicht geschrieben, und das Titelblatt noch nicht gezeichnet.

Am 31. Mai jedoch hatte Viktor alle unerläßlichen Vorbedingungen. erfüllt, er hatte sich gutes Papier gekauft, und wer aus dem Einkauf auf den Umfang des beabsichtigten Werkes geschlossen hätte, mußte auf ein sehr stattliches Buch rechnen. Das aber war nicht Viktors Absicht, ein kleines, wirkungsvolles Buch sollte seinem Herzen entquellen. Hier mußte die Arbeit nun gelingen; in der Universitätsstadt kannten ihn zu viele und brachten Abhaltung, in Endenburg kannte ihn jedermann, aber in Haßlach, so weit von der Heimat entfernt, wußte außer der Wirtin und der Polizei niemand von ihm, und die Polizei kannte ihn nicht von Angesicht, und was sie von ihm wußte, war nicht einmal ganz richtig. Viktor hätte sich die Hände reiben mögen vor Freude darüber, wie glücklich sich alle Vorbedingungen hier für ihn erfüllten.


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