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Wälder sind den Dichtern günstig, aber diesmal versagen sie.
Sie sollten doch den nassen Winkel einmal besuchen – jetzt erst hörte Viktor die sanfte Stimme seiner Hausfrau, als er vor dem Tore stand und Straße auf-, Straße absah, um zu erfahren, wohin er gehen solle. Sie hatte es vorgestern gesagt, aber heute vernahm er es erst. Man fährt mit dem Dampfboot um zwölf Uhr – fuhr die Stimme der Unsichtbaren fort. Und Viktor empfand eine große Lust, den schönen Ort mit dem häßlichen Namen sofort kennen zu lernen und dort die Einleitung zu seinem Buche in sein Taschenbuch niederzuschreiben.
Nun ist es gerade noch eine Stunde, bis das Dampfboot abgeht, das ist sehr gut, dachte Viktor, als er mehr in die Mitte der Zotzelsgasse trat, die Uhr am Rathausturm studierte, den frischen Hauch, der über die Dächer wehte, wie einen ermutigenden Gruß empfand und dabei an die Hemmnisse dachte, die sein Werk erfuhr. Es fehlte etwas in seinem Zimmer, dies Etwas mußte ihm die Feder führen, wenn es da war, sein Fehlen hatte sie ihm offenbar heute morgen aus der Hand genommen. Wohl hingen Bilder an den Wänden, unbekannte, ferne Vettern der Frau Schwendeli und unbekannte, ferne Kousinen des seligen Herrn Schwendeli, und mitten unter diesen Trefflichen ein Öldruck, der vor Zeiten einem Kolporteur mit zwei Gulden bezahlt worden war, um Heiden bekehren zu helfen, es war ein blauer Wasserfall im grünen Waldlande, und an der andern Wand kämpften zwei Hirsche mit einander auf Leben und Tod, ein Kunstwerk, durch dessen Erwerb sich Herr Schwendeli mit einem Gulden an der Erbauung einer evangelischen Kirche in Böhmen beteiligt hatte. Viktor hatte mit seinem herzlichen Tiefsinn diesen armseligen Wandschmuck, der gute Menschen erfreut hatte, in Beziehung zu dem Leben seiner Wirtin gesetzt und ihn mit einer gewissen Zuneigung betrachtet, aber mit einem Male ward er doch inne, daß nicht das von der Wand zu ihm herabschaute, was er bedurfte. Gerade über seinem Schreibtisch sollte das Herrliche thronen, das ihn grüßen, ihn trösten, ihm zur Vollendung seines Werkes helfen sollte.
Ehe das Dampfboot geht, kann ich gerade noch die Bilder kaufen. Die Uhr stimmte zu, auch die Nähe eines Kunstladens sagte vornehmlich: gerade noch ehe das Dampfboot abgeht, und während er drei Stunden später im Walde »am nassen Winkel« von Gestalt gewordner Herrlichkeit träumte, wanderten »Iphigenie mit dem Segelfalter« und »Orpheus und Eurydike« von Anselm Feuerbach in schönen Kunstblättern nach Zotzelsgasse 66a, beide bereit, dem jungen Schriftsteller aus allen Kräften an seinem ersten Buche dienlich zu sein, sobald es ihm gefallen würde, wieder daran zu arbeiten.
Um zwölf Uhr pfiff der kleine Kanaldampfer einen heisern Pfiff und zog seine schmale, trübe wellenlose Wasserbahn vom Gebirge die fruchtbare Ebne dahin nach dem Flusse, der einige Stunden von der Stadt floß, und trug leere Marktkörbe und leider auch noch gefüllte Marktkörbe und gestikulierende Verkäuferinnen und rauchende Bauern zu ihren Dörfern hinaus. Viktor sah mit regem Anteil bald auf diese Gruppen hin, bald auf die Stadt mit ihrem dunkeln Hintergrunde waldreicher Berge, bis ihn eine Frauengestalt fesselte und nicht mehr losließ. Er hatte sie nicht das Boot betreten sehen, nun war sie für sein Gefühl mit einemmale da. Sie saß vorn am Bug des Schiffchens auf einem Klappstuhle, den einen Arm auf die Brüstung gelehnt, und schaute unverwandt den Weg dahin, den das Dampfboot verfolgte, vielleicht auf das Wasser, vielleicht auf die Gärten, auf die Maisfelder, auf die Hanfäcker, auf die Wiesen, wie das Gelände kam und ging. Vielleicht sah sie in eine zweite Welt; Viktor zog das vor, er sah Iphigenien vor sich, wie er sie vor einer Stunde im Bilde gesehen hatte. Ihr Gesicht konnte er nicht befragen, denn sie saß so, daß es als ein zartes, junges Gesicht mehr geahnt als gesehen werden konnte. Ein Sommerhut bedeckte das volle, braune Haar. Wie die Falten des Kleides fielen, wie sich der linke Arm auflehnte, die andre Hand gelassen ruhte und das Haupt sich regungslos verhielt, das sprach eine Sprache von jugendlichem Adel des Wesens, die Viktor mit sehnsüchtiger Unruhe vernahm und ihn, wie er nun war, zwang, sich fernzuhalten und den Wunsch zu bemeistern, die Züge der Unbekannten bei einer Wendung des Kopfes zu sehen.
So kam die Anlegestelle am Waldrande, wo er das Boot für sein Ziel zu verlassen hatte. Als er einen letzten Scheideblick auf die Fremde werfen wollte, war auch sie aufgestanden und unter den wenigen Weggehenden. Viktor hielt sich zurück, um der ruhig Dahinschreitenden nachzusehen, aber siehe da, sein Weg, den er vorhin erfragt hatte, war zunächst auch ihr Weg. Das unbekümmerte Ausschreiten der jungen Wanderin hatte etwas von Aufatmen und Ausruhen, offenbar war sie für ihr Gefühl der Welt ledig und mit dem glänzenden Frühlingswalde allein. Wie sie auf dem grünbewachsenen Waldwege dahinging, war es ihm, als ginge seine herrlichste Gedankenwelt zu holdseliger Gestalt geworden vor ihm her. Ernst, Demut, Kraft, Sehnsucht, Glaube und Anbetung war, in liebliche Jugend verklärt, erschienen und zog ihn in geheimnisvolle Gründe, wo das nicht war und wohnte, was die Welt beherrscht, und unglücklich macht. Ein Gefühl des Glücks überströmte ihn; dies Glück sollte kein Ende nehmen, weiter wollte er gehen, das Edle vor Augen, bis sein Herz einst still stünde. In diese Gedanken nickten Tannen hinein, Buchen kamen dann, auch sie eines Sinnes mit Viktor, die Welt mit glänzenden Blättern, mit Faltern, mit Vögeln, die herniederflatterten, war ein bestätigendes Echo seiner Gedanken.
Darüber aber war sein Schritt zu rasch und zu laut geworden. Die Unbekannte hatte anfangs gar nicht bemerkt, daß sie aus dem schon mehrfach von ihr gegangenen Pfade nicht allein sei, und also auch nicht geahnt, daß sie für einen ungesehenen Begleiter eine Summe herrlicher Gedanken sei, ein heiliger Traum – dann vernahm sie Schritte und achtete ihrer nicht, endlich aber fühlte sie, mehr als sie es beobachtete, wie sich das Tempo der fremden Schritte änderte, und nun ward ihr die Waldeinsamkeit bewußt, und Unruhe legte sich aus ihr junges Gemüt, endlich eine unbestimmte Angst. Und dies erkannte Viktor: er sah, daß die Fremde die Handschuhe auszog, sie rasch wieder anlegte und dann den linken Handschuh abermals abzog und den Sonnenschirm unruhig bald in den einen Arm legte, bald in den andern, er verstand diese Zeichen und sorgte dafür, daß ihn rasche Schritte an die Seite des jungen Mädchens brachten und ein einfacher, freundlicher Gruß ihr zeigte, daß ihr ein guter Mensch begegnet sei.
Feine, ebenmäßige, belebte Züge, ein braunes Auge mit warmem, tiefem und offenem Blick hatten sich zu ihm gewandt, und in der kurzen Zeit, die er noch mit der Fremden wandern durfte, konnte er sich auch überzeugen, daß dieser warme Blick etwas sonniges haben konnte, ein aufblitzendes, freudiges Leben, das aus einem lebendigen Frauengemüt quoll. Dies sonnige Aufleuchten war nun allerdings nicht Viktors erster Beredsamkeit zu verdanken, denn er verfiel in dem Gespräch, das sich nun so im Dahingehen entspann, zunächst auf Gegenstände, die er feinem vertrautesten Mitwisser, dem viel und hastig beschriebenen Notizbuche um keinen Preis unvertraut hätte, weil ihn dann das Notizbuch vielleicht für jünger gehalten hätte, als er war. Nein, die Frage seiner schönen, jungen Begleiterin, wohin er wandre, brachte die Erlösung. Er bekannte, daß er den »nassen Winkel« aufsuchen wolle, der Name sei ihm zugleich häßlich und geheimnisvoll anziehend erschienen. »Dann sind Sie wohl ein Poet? denn allen andern Menschenkindern klingt er abstoßend,« sagte die Fremde mit einem fröhlichen Blick, der den Jüngling mit einem gewissen tieferen Anteil streifte. Viktor sagte nicht ja, aber er sagte auch nicht nein; er gestand, daß ihm etwas vorschwebe, das er gestalten müsse; ihr rascher, fragender Blick entlockte ihm den Titel jenes Etwas, er sagte verlegen, als zöge er den Schleier vor dem verborgnen Wunder zurück: er wolle über die Midaskinder schreiben.
Ah, sagte die Fremde, ich ahne, wo das hinausgeht, das sind die Unglücklichen, die nur das lieben, was ihnen zum Mittel ihrer selbstsüchtigen Zwecke dienen kann, und für deren Unersättlichkeit sich die ganze Welt in ein System ihrer Zwecke verwandelt. Wir kennen solche Menschen, die Eltern und ich. Die letzten Worte sprach sie erregt. Viktor sah seine Begleiterin betroffen an; an diese Seite der Midasvorstellung hatte er nicht gedacht, aber er verfolgte sie raschen Blickes, doch konnte er sich nicht enthalten, zunächst zu sagen: Sie kennen also die Midassage? Die Fremde lächelte und sagte nun wieder ruhiger und mit wohlklingender Stimme: Ich bin Lehrerin, da lernt man mancherlei kennen!
Durch Viktors Seele flogen eine Menge Erinnerungen an Lehrerinnen in Locken, Lehrerinnen in Brillen, sanfte Lehrerinnen, und was er sonst an höflichen und unhöflichen Bildern fand, und nun sah er die junge Lehrerin an seiner Seite an und dachte, sie sei anders, als er sich seither die normale Lehrerin vorgestellt hatte. Zum Glück sagte er das nicht, sonst hätte die Fremde vielleicht mit seinem Notizbuch gemeinschaftliche Sache gemacht.
Was er dann weiter sprach, galt ihrer ersten Bemerkung. Ich habe bis vorhin an diese Möglichkeit der Auslegung nicht gedacht, aber es ist etwas an ihr. Diese Verwandlung von Niederm und Hohem, von Verwerflichem und Beseligendem in klingende Münze, in das Gold des Eigennutzes läßt sich allerdings auch aus der Midassage lesen, aber verzeihen Sie – und dies sagte er mit einem so abbittenden Blicke, daß sie ihm offenbar verzieh, ehe sie wußte, was er verbrochen habe, und offenbar freundlich verzieh, denn sie sah ihn mit so lebendigem Blicke an, daß er gerade in diesem Augenblicke das Midasgold hoher Lauterkeit in ihrem Auge aufblitzen sah – verzeihen Sie, ich sehe in der alten Fabel etwas andres, ich sehe Augen (und er sah sie und sprach mit tiefer Bewegung, die die Zuhörerin bereitwillig auf seine Rechnung setzte, da sie nichts von ihren Augen wußte), ich sehe Augen, die das Lichte, Liebliche, Heilige und Entzückende sehen, wie Kinderaugen, die sich geschlossen haben, ehe die Sonne untergegangen ist, und sich öffnen, nachdem sie wieder ausgegangen ist, und die darum nicht wissen, daß auch Nacht, Dunkel und Düster in der Welt ist.
Ich kenne solche Augen, sagte sie bestimmt und kurz.
Vor Viktors beunruhigter Seele stieg das Bild eines wunderschönen, jungen Mannes aus, das Bild eines glücklichen jungen Paares, die Braut kannte er, sie schritt neben ihm wie ein Maitag, aber der Glückliche? Wer war es?
O, wenn Viktor gewußt hätte, wie nahe diese Augen waren, aus welch altem Gesichte sie hervorleuchteten, drüben am Waldrande, wo das kleine »Herrenhaus« zwischen Gärten und Feldern auf die Buchen hier und den Fluß dort hinschaute!
»Eine adlige Seele schaut heraus,« fuhr sie fort, und das Schlechte schämt sich vor ihnen seiner Schlechtigkeit, und was noch nicht ganz an ihm verdorben ist, lebt auf und sucht sich seiner selbst zu erwehren und neu zu werden, damit es vor der Herrlichkeit der Midastochter bestehen kann. Sie sehen, sagte sie lächelnd, ich bereichere Ihr Buch um ein Kapitel von Midastöchtern, denn ich denke an meine Großmutter – die ich in zehn Minuten mit Stürmischkeit umarmen werde,« hätte sie hinzusetzen müssen, wenn das Leben sie nicht schon gelehrt gehabt hätte, im Gespräche mit neuen Menschen die Erwähnung persönlicher Verhältnisse sorgfältig zu vermeiden.
Viktors Antlitz klärte sich so auffallend auf, daß die Fremde dachte: er hat auch eine Großmutter und liebt sie; und diese Liebe des Enkels gefiel ihr, und sie trug auch diesen Posten abermals zu seinen Gunsten in die Rechnung ein.
Hier müssen Sie abbiegen, wenn Sie das Wirtshaus zum »nassen Winkel« besuchen wollen, sagte sie, noch ehe Viktors Züge den alten Ausdruck wieder ganz hatten. Sie sind in wenigen Augenblicken dort. Damit grüßte sie freundlich, aber doch so, daß Viktor sich entlassen sah. Sie selbst ging an der Wegteilung zur Linken weiter. Auf Viktor wartete zur Rechten ein schmaler Waldpfad, dem er nun folgte, da er nicht ungehorsam sein wollte. Aber zwischen den Stämmen des jungen, dichten Buchenwaldes verborgen, sah er doch der Fremden nach, bis ihr helles Kleid zum letztenmale und unwiederbringlich zwischen den Stämmen ausgetauscht und verschwunden war. Einmal glaubte er aus der Ferne ein Bellen zu hören; es war ihm, als sollte er diesem Rufe nachgehen, dann war es ihm wieder, er solle es nicht tun, und dabei blieb es.
Der viel betretene Pfad führte ihn bald nach der Waldschenke zum »nassen Winkel«. Von den Menschen, die Gründe gehabt hatten, dieses Wald- und Wiesenparadies von heute so rheumatisch zu benennen, lebte niemand mehr, vermutlich lebten auch ihre Urenkelgeschlechter nicht mehr, der Name aber war an dem Waldwinkel hängen geblieben, wie ein vergessener Hut oben am Nagel in einer eben ausgeräumten Wohnung – es hatte ihn niemand entfernt, als man Gräben zog, daß die Wasser sich senkten, und ein Wald von weißstämmigen Buchen und Alleen mit dichtem Grasteppich und Wiesen mit dem Blütenmeere des Vorsommers, und Schmetterlinge mit ihrem endlosen Gaukelspiele an die Stelle der kleinen schwarzen Wasserflächen traten. Die Blätter, wie sie sich das Jahr über von den Zweigen lösten, fielen nicht mehr auf den nassen Boden, sondern schwebten langsam auf die Pflanzengeschlechter herab, die ihren Zug mit dem Schneeglöckchen eröffneten, mit Anemonen alle Winkel und Waldflächen weithin ausfüllten, mit Maikraut die Städter und die Landkinder lockten und dann vor Wintersanbruch das liebe Grün vertrauensvoll der Stechpalme überließen, die es über die Schneezeit hinaus für bessere Zeiten retten sollte. Nun, jetzt war es Vorsommer, und Viktor sah, was der »nasse Winkel« bedeutete. Zwischen dem weit ausladenden Waldrande und einem Wiesenmeere stand der freundlichste Erdenwinkel. Eine Linde berührte mit ihren mächtigen Zweigen den Wald und spannte ihren grünen Schirm weit aus über Tische und Tischlein und schaute über ein Haus und die grünen Wipfel ringsum und über die summenden Wiesen weit hinaus. Das Haus daneben duckte sich unter sein altes Strohdach, das es sich wie eine gewaltige Haube über die Stirn gezogen hatte; die Hauswand war weiß getüncht und mit grünen Läden lustig aufgeschmückt, die Zimmer und dieses Zimmerchen fröhlichen Waldhüters hatten reine, braune, glänzende Tische und reine, braune glänzende Stühle mit Herzeinschnitten in der steilen Lehne und ungemütlichen steifen Sperrbeinen für gemütliche Leute. Und es kamen nur Leute, die alles so haben wollten, wie es war, denen auch die vielen Vögel recht waren, die in Brutkästgen und in Klausnerkäfigen wohnten, hüpften, pickten, zwitscherten und an den Stäben zerrten, als wollten sie zu ihrer Kunst auch noch das Harfenspielen lernen; gemütliche Leute, die selbst die Hanfkörner und Salatsamen und viele andre unbenennbare Körner billigten, die die energischen Schnäbel aus den Köberchen hinaus und in die Nudelsuppe, den Maiwein und den berühmten Kaffee des Vogeljakob streuten.
Wenn ihnen eines nicht recht war, so waren es die Ohren des Vogeljakob; es gab da einen Mißstand für die Vögel und die Gäste. Die Vögel sangen seit einigen Jahren umsonst für diese Ohren, und die Gäste fragten umsonst, wieviel sie zu zahlen hätten, aber alle Parteien hatten sich still geeinigt: die Vögel sangen, als hörte der Vogeljakob noch jeden Ton, und die Gäste zahlten ehrlich, wieviel sie schuldig waren, und machten Zeichen mit den Augen, den Lippen und den Fingern, und der Vogeljakob glaubte den Vögeln und den Gästen und nickte mit dem Kopf und lachte mit den Augen und lachte mit den glatten, runden, braunroten Wangen und dem klugen Munde, und zuckte mit den Schultern und rieb sich die Hände und war glücklich. Er fütterte seine Vögel und seine Städter, und Sohn, Schwiegertochter, Enkel und Dienstboten zogen zu ihren Arbeiten hinaus, in die Wiesen, zu fernen Äckern, in die Tiefen des Waldes. Der Großvater machte alles recht, er wußte, wer Wurst wünschte und wer kalten Braten, und kannte auch die Dreierbrotgäste und bediente in seinem halb schleifenden, halb fallenden Gang alle gleich hurtig, gleich dienstwillig fröhlich, und hielt bei allen die rechte Hand an das rechte Ohr, obgleich er nur die Lippen ansah und Gedanken erriet, ehe sie nur recht gedacht waren.
Viktor ließ sich als einziger Gast unter dem Baume nieder und schaute mit leuchtendem Blick auf das Haus und den Garten mit seiner Blätterfülle, auf das tausendfältig übersummte Stückchen Wiese, das neben dem Garten sichtbar war, aus den Waldrand, auf den harmlosen Alten, der ihn bediente, dann lehnte er sich in die Bank zurück, schloß die Augen und hörte nun das vieltönige Geräusch der Insekten und das rauschende Kommen und Gehen der Vögel zwischen dem Gezweige; er sah den Wald, wie er ihn durchschritten hatte, und sah in dem Rahmen dieser Welt die schöne, schlanke Mädchengestalt eingeschlossen, das Midaskind, das ihm fortan die Feder zu seinem ersten Buche führen sollte.
Gleich sollte die Arbeit beginnen, hier, wo eine grüne, im Reichtum des Gedeihens überschäumende Welt in tiefen, seligen Midasaugen der Natur selbst aufschlug. Und das Notizbuch lag bereit, das Blei wartete auf die Hand, die Hand auf das Herz, das ihr seine herrlichsten Worte sagen sollte, aber dies Herz wandelte der schönen Fremden nach und suchte sie in den Straßen der Stadt, und lauerte ihr an allen Kirchtüren auf, und stellte Vermutungen über die Verwendung von Lehrerinnen an öffentlichen und Privatschulen auf, und als es von diesen Nachforschungen zu dem Notizbuch unter der Linde im »nassen Winkel« zurückgekehrt war, mahnte die Stunde der Heimkehr sehr gebieterisch.
Und nun beschwingte mit einemmale ein wundervolles Vielleicht Viktors Schritte, aber es ging mit diesem wie mit so vielen Vielleicht seit dem sechsten Schöpfungstage. Viktor eilte bis zu jener Gabelung der Wege, wo er verabschiedet worden war – niemand suchte den Rückweg außer ihm. Dann verfolgte er rasch den Weg, der zur Schifflände am Kanal führte. Er sah vieles, das er heute Mittag nicht gesehen hatte, da und dort reckte sich ein Gebirgsgipfel über die Bäume empor, Waldwege führten geheimnisvoll fern hinein in das grüne Gewoge, aber was er allein sehen wollte, war nicht da, nur die Erinnerung ging mit ihm und sprach köstliche Worte zu ihm.
Auf seinem Schreibtisch aber fand der im Dunkel der Vornacht Heimgekehrte ein zusammengeknäueltes Papier; es lag nichts in seinem Aussehen, das zu dem Schlusse berechtigte, daß es durch das offne Fenster hereingekommen sei, und doch nahm Viktor das ohne weiteres an, ja er dachte sofort an das scharfe Gesicht seines Nachbars. Er legte das Blatt langsam auseinander und sah, daß es aus zwei beschriebenen Seiten von klarer, fester, etwas büreaumäßiger Schrift bestand. Was er hier las, erstaunte und verwirrte ihn um der überraschenden Beziehung aus seinen eigenen Plan willen und ergötzte ihn wohl auch flüchtig, weil es den vollkommenen Gegensatz zu der Herrlichkeit des Tages bildete, den er heute erlebt hatte. Und das sonderbare Blatt lautete so:
Midaskinder.
1. Das Klingelbeutellächeln.
»Es ist etwas dran, an diesen Midaskindern. Je mehr ich mich besinne, umsomehr Arten tauchen vor mir auf wie Apfelsorten in den Obstzüchterkatalogen. Die Zipfelmütze sitzt eine Zeitlang ganz gut, auf einmal aber spitzt Midas bei der rechten Gelegenheit, vielleicht wenn der Esel gelobt wird, daß ihm die Löwenhaut vor Lust zu enge wird, oder er Klee riecht, seine Eselsohren, sie recken sich aus, die Mütze lüpft sich ein wenig, und da, da sind die Ohren – vielleicht nur auf fünf Minuten, denn Midas ist auf der Hut, aber ich sage zu mir: dieses Buch, das du dir geliehen hast, dieser Beitrag zu einem guten Zwecke, dieser Anzug vom ersten Schneider, dieses mit allerlei Abwehr angenommene Ehrenamt ist nur die Mütze, und hinter ihr liegen die schönsten, längsten Eselsohren verborgen und werden dich, Midas, verraten, wo du es am mindesten ahnst.
Da war ein Lächeln, das mich früher rührte, und eine Bescheidenheit, an die ich glaubte. Erst kam die Bescheidenheit und dann, zehn Minuten oder eine Stunde später, das Lächeln, erst die Mütze, dann die Ohren, wie es sich gehört. Ein Redner sollte sprechen und wehrte sich mit Hand und Fuß, dann sprach er für einen, der »gezwungen« worden war, sehr gut, dann setzte er sich hin mit einem Lächeln – der Weltentrücktheit, wie ich damals meinte, des Ausklingens der Begeisterung, heute sage ich einem wahren Klingelbeutellächeln, mit dem er in seiner Gemeinde herumgeht, die Stange des Klingelbeutels erreicht jeden und fordert das Almosen des Beifalls bettelnd ein.
Am häufigsten sehe ich bei jungen Damen das Klingelbeutellächeln. Erst das Wehren gegen die paar armen Takte, die das Fräulein auf dem Klaviere spielen soll – ›keine Musik mitgebracht‹ – ›kann nicht auswendig spielen‹ – ›bin so furchtbar ausgeregt‹ –, und dann nach dem Spiel das scharmante Aufspringen vom Klavierstuhl, das allerliebste Knixchen, das verschämte Huschen nach dem Platze – ei, da geht der Klingelbeutel herum und wird so geschüttelt, daß auch die arglosen Kirchenschläfer, die im Schutze der Sonate einen guten Augenblick hatten, wo sie nichtssagend sein durften, wach werden und schleunigst ein ›sehr schön‹, ›ganz prächtig‹ in den Klingelbeutel werfen und tun, als sähen sie die zierlichsten aller Eselsöhrchen nicht, mit denen die Gnade des Himmels vor allem die ›Unvorbereiteten‹ bedacht hat.« –
Viktor las still dies Blatt und legte es dann mit einer Bewegung in den Schreibtisch, als wäre er ein Schwimmer, der eine feindliche Welle vor der Brust zerteilen müsse. Um zu seiner Welt zurückzukehren, ordnete er die wenigen Waldblumen und kleinen Buchenzweige, die er mitgebracht hatte, in ein Blumenglas, versenkte sich in die Bilder Anselm Feuerbachs, die er an die Wand lehnend vorgefunden hatte, träumte durch sie hindurch von »Frau Sonnenschein« und dachte nicht, daß sein Gegenüber im dunkeln Zimmer herüberschaute, um seine erste schriftstellerische Wirkung sofort zu beobachten.