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Zweites Kapitel.

Aber aller Anfang ist schwer.


Am ersten Juni morgens um fünf Uhr setzte sich Viktor mit einem unbeschreiblichen Frohgefühl an seinen Schreibtisch. Alles war hier schön geordnet, auch Feldblumensträußchen, die er gestern am Rande der herrlichen Wiesen und der reichen Felder draußen gebrochen hatte, standen rechts und links von dem Tintenfasse und der Federschale. Nun galt es nur noch den Anfang zu finden, und es fand sich einer. Aber er entsprach doch nicht ganz der Überzeugung des jungen Schriftstellers, daß es bei einem Buche auf nichts so sehr ankomme, als wie der Verfasser seine Leser an der Schwelle empfange, und wie er sie entlasse.

Nach kurzer Überlegung sagte er sich, daß er ja erst das Titelblatt schreiben könne, und da er immer wichtige Dinge, Aufschriften auf Briefen, Einschriften in Bücher und die Geschenkzettel des Weihnachtsfestes, mit besondrer Sorgfalt ausgeführt hatte, so entwarf er das Titelblatt in mächtigen lateinischen Steinschriftbuchstaben, ließ auch ein paar Blattranken sich durch die stattlichen schwarzen Gebilde schlingen, auch ein Vöglein ward da und dort auf eine solche Ranke gesetzt, und so verging die Zeit, ohne daß er es merkte. Als zu seinem Erstaunen »schon« Frau Schwendeli mit dem Frühstück eintrat, war eben das Titelblatt vollendet worden und lehnte sich zu ruhiger und erfreuender Prüfung an ein Blumenftöckchen an, das die Vermieterin dem bescheidnen und höflichen Mieter zum Einstande hingestellt hatte; sein Auge las mit Wohlgefallen:

Midaskinder.

Ärgerlich war ihm, daß dann für den Nebentitel, den er doch für sehr nötig erachtete, noch die Lücke unausgefüllt war. Zuerst hatte er hinsetzen wollen: »Silhouetten und Reflexionen«, aber ein einziger Gedanke an seine schlichten Eltern vertrieb beide stattlichen Fremdwörter von dem Raume, den sie beanspruchen wollten. »Auch ein Buch aus dem Leben« schien ihm sehr gut, denn er wollte ja Widerrede erheben gegen die allverbreitete Meinung, als sei nur die Darstellung des Charakterlosen, Erbärmlichen und Nichtigen Darstellung des Lebens, aber als er merkte, daß nun der Name des Verfassers zu schreiben sei, kam die Erwägung, ob nicht bei der schlechten Übung unsrer Tage, den zweiten Fall mit von zu bilden, ein gedankenloser Leser so verstehen würde: Midaskinder: auch ein Buch aus dem Leben von Viktor Narzissus Zangkel, und so blieb die letzte Entscheidung einer wahrhaft guten Stunde überlassen, und einstweilen lautete der Titel:

Midaskinder.

Von

Viktor Narzissus Zangkel.

Und nun forderte das Frühstück sein Recht. Viktor aber hatte es immer geliebt, währenddessen etwas zu lesen, das nicht mit der Tagesarbeit zusammenhing, am liebsten etwas, das hoch über sie hinaushob. Nun hatte er nach Haßlach absichtlich von seinem Büchervorrate nur weniges mitgenommen, damit ihn nichts von seinem eigentlichen Werke abziehe. So nahm er denn den Einkauf zur Hand, den er am 31. Mai im Hinblick auf die Aufgabe, die ihn allein beschäftigte, bei dem alten jüdischen Trödler Jakob Rothenberger gemacht hatte. Es galt ihm, die Erinnerung an die Sage von dem König Midas noch einmal aufzufrischen, um keinen Preis aber hätte er eine griechische Sagengeschichte oder eine neuere Übersetzung der Metamorphosen des Ovid zur Hand genommen, ihm schwebte ein altes Buch aus dem vorigen Jahrhundert vor, in dem umständlich und anmutlos, aber mit einer gewissen deutschen und altfränkischen Treuherzigkeit diese alten asiatischen und hellenischen Überlieferungen erzählt waren. Da hatte er einst als Knabe gelesen, wie dem Könige der Phryger, Midas, die sonderbare, unerhörte und nachmals nicht wieder verliehene Gabe gewährt worden sei, daß sich ihm alles, was er anschaute, in lauteres Gold verwandeln mußte, das Reis am Baume, die Ähre im Felde, der Staub, der am Wege liegt, wie das Gras, das auf den bunt beblümten Wiesen wächst. Und es geschah ihm, wie er es begehrt hatte, und es geschah auch das, was er nicht begehrt hatte, denn auch die Speise, die er zum Mund führen wollte, und ohne die er nicht leben konnte, Brot und Fleisch, Früchte und Wein wurden zu Gold. Darüber hätte es leicht zu einem elenden Tode mit diesem König kommen können, wenn ihm nicht der Gott, der ihn so übel beschenkt hatte, den heilsamen Rat erteilt hätte, den er nicht schnell genug befolgen konnte, sich in dem Wasser des Flusses Paktolus zu baden; da ward er der zugleich glückhaften und unholden Gabe ledig.

Schon der Knabe hatte einst vor dieser Sage gestutzt und ihr eine freundliche Seite abgewonnen als einem tiefen Gedichte von Augen, die so wunderbar blicken, daß sich ihnen die Welt in Gold verwandeln muß, während der finstern Seele alles unfreudig und düster erscheint; der Jüngling hatte sie beharrlicher angesehen, und sie war ihm auf einem Gange, den er durch Fluren ging, die im Abendgolde lagen, mit einem Male zu einer Quelle köstlicher und ganz unerwarteter Belehrung geworden, als sich ihm in seinem Sinne, mehr geschenkt als selbst geschaffen, das Wort »Midaskinder« einfand und von ihm erst zögernd und halblaut, dann laut und entzückt ausgesprochen worden war. Nun sah er sich um, zu Hause und in der Universitätsstadt, unter Frommen, unter Suchenden, unter denen, die dem Schönen gedient hatten, unter den Frauen, die ihm begegneten, und bald fand er das eine Merkmal, bald das andre, an denen er die Midaskinder erkannte. Vater und Mutter waren es; ob auch die Schwestern? Es war ihm sehr wahrscheinlich, aber jetzt am ersten Juni war er dessen nicht ganz sicher, er wollte zusehen, wenn er nach Hause kam. Sicher war, daß alle Midaskinder kindliche Menschen waren, auch die großen, scharfen Geister, die das Kind, das sie lieb hatten, züchtigten. Gut waren sie alle, sie horchten auf die Rufe, die aus fremden Seelen kamen (»aber es ist gar nicht nötig, daß sie gutmütig sind – schrieb er einmal in sein Notizbuch; der Schrift nach ist es im Anfang seiner Universitätserfahrungen niedergeschrieben – Gutmütigkeit horcht auf die Rufe aus fremden Appetiten, wie eine Tante, die ein Nichtchen besser behandeln will als seine ›Rabeneltern‹. Auch ist drei niemals gerade, auch wenn man es zugibt, wie diese Sorte es tut und sich zur Tugend anrechnet«.) Alle sind unwiderstehlich zum Lieben, zum Schönen, zum Guten hingezogen. Alle nehmen sie das Oberflächliche, das Schmutzige und Erbärmliche als das, was es ist, etwas, das sie nicht aufhalten darf, sich am Großen zu erquicken, etwas, für das ihnen ihre Seele, ihre Augen, ihre Zeit zu kostbar ist. Alle üben die gleiche Wirkung aus die Umgebung aus, sie beleben und erheben das Unsterbliche, Sehnsüchtige und Suchende in ihrer Umgebung, Schwache werden stark bei ihnen, Verirrte stehen mit einem Schlage, ohne zu wissen, wie? auf dem rechten Wege. (»Du brauchst nur an den Vater und an die Mutter zu denken! Wie die ›gebildete‹ Base aus Eschwege langsam Stück für Stück abtat, eine lustige Geschichte« – schade, daß das Notizbuch sie nicht erzählt.) Alle sind lauter. Lauter ist ein tiefer Begriff – rein, unschuldig kommt nicht dagegen auf. Midaskinder sind lauter, sie sind bemüht um die Unschuld der Sinne, des Denkens, des Urteilens, des Wollens, des Sprechens, der Handlungsweise – da ist Lauterkeit. »Heiliges Ziel!« schrieb der junge Wandrer auf seiner Wallfahrt nach dem Montsalvatsch des Gemüts.

Das waren die Offenbarungen, die ihm bis jetzt die alte Sage aufgeschlossen hatte.

Womöglich dasselbe Buch, wenn es anging auch in Schweinsleder gebunden, zu erwerben, war selbstverständlich sein Wunsch gewesen. Aber er hatte es in dem bunten Haufen gut gehaltener alter Werke und sehr mißhandelter neuerer Werke nicht gefunden, dafür hatte er ein andres, ähnliches, nicht weniger pedantisches und die Anmut der Antike verschnörkelndes erwerben können, und nun lag es da und gab ihm alle Auskunft, die ihm das beste Buch unsrer Tage nicht so gut hätte geben können. Denn die Unbeholfenheit des alten Ausdrucks, die Art der Freude am Seltsamen, Unglaublichen und Wunderbaren, wie sie der Bauer hat, das Ungelöste dieser alten Sprache, wo Reichtum des Gefühls verstummt, weil dieses noch nicht gelernt hat, zu sprechen, das zog ihn ganz mächtig an. Er legte die Hand zärtlich auf das alte Buch, und seine Gedanken glitten von ihm hinüber zu den andern Schätzen, die er im Dunkel des kleinen Hauses am Lindenplatze sehnsüchtig gemustert hatte. Es war eine Welt voll Leben, Sinn und suchender Geistesarbeit, wenn man sie an ihrem eignen Puls ergriff und sie nicht an dem Pulsschlag unsrer Zeit maß. »Vom Volksliede mit seinen Blumen, Rosmarin, Muskaten, Gelbveigelein und dem stolzen Türkenbund muß man hinüber zu den Kräuterbüchern, die ich gerne alle an mich genommen hätte, da erst sieht man, was in der Seele dieser unbeholfnen Kräutermänner mitklang, wenn sie ihre scheinbar so einsamen Beschreibungen entwarfen.«

Und nun klang auf einmal das lebendige Volkslied hinein in seine Träume, und er horchte hin, das Auge nicht erhebend, denn er wollte das Lied, nicht den Sänger. Drüben sang das Dienstmädchen des Nachbarhauses ein Lied für sich hin, das weder dem neuen Herrn galt noch ihrer Herrin, sondern ein Atmen ihres Lebens war, auf das sie nicht achtete, wie man auf das Atmen in gesunden Tagen nicht achtet. Sie sang das alte Lied herzlich-einfaltreicher Beweinung:

Maria, die wollt wandern gehn,
wollt alle Welt auswandern,
Zu suchen ihren Sohn.

Eine zweite Stimme sang mit, sie sang aber nicht in Haßlach, sondern zu Hause; die Magd von der Rabenau, die gute Elisabeth mit dem Sonntagshäubchen der Rabenauerinnen auf dem Krönchen des Zopfes, hatte den Knaben auf dem Schoße und sang ihm das Lied, er konnte es nicht genug hören. Dann löste sich die Wohnstube des Elternhauses auf in schwimmende Formen, und diese verfestigten sich neu zu einer großen, hellen, aber nicht sehr reich ausgestatteten Küche; es ist ein andres Haus, in dem Elisabeth jetzt dient, aber Viktor besucht sie Sonntags nachmittags und erzählt ihr von dem, was die Woche im Elternhause gebracht hat, und sie erzählt von der Rabenau und lobt den Knaben, daß er zu ihr kommt und hantiert still um ihn herum, sitzt auch oft still am Fenster und schaut in die Bäume des Gartens, und wenn Viktor bittet, so singt sie ihm Volkslieder. Gern hört er: »Ich habe den Frühling gesehen und habe die Rosen begrüßt, die Nachtigall hab' ich belauschet und ein liebliches Mädchen geküßt« – lieber aber immer wieder das zarte, leise Trauergeläute, mit der die alte Melodie das Weinen der Maria um den toten Sohn über die deutschen Lande trägt.

Das Singen verstummte, und Viktor kehrte in die zweite Wirklichkeit zurück, die für viele die einzige ist, die sie kennen. Und sofort hatte er das Gefühl, es ruhe ein menschlicher Blick auf ihm.

Dem war in der Tat so. Das äußere Eckzimmer in 66 b, Viktor gerade gegenüber, beherbergte diese Augen. Es waren scharfe Augen, sie sahen, was sie sehen wollten, und sie wollten sehen, was da drüben vorging. Philipp Säuerlich, der Besitzer dieser Augen und des scharfgeschnittenen Profils, das Viktor gestern aufgefallen war, Architekt, der für sich arbeitete, da er es mit niemand aushielt und niemand mit ihm, aber ein geschickter und vielbeschäftigter Mann, hatte ein unberührtes Frühstück gesehen und ein altes Buch in Schweinsleder und ein dunkles, gewelltes Haar und eine gesenkte Stirn, die sich regungslos verhielt, und hatte all diese Posten zu dem Ergebnis zusammenaddiert: der schläft über seinem Frühstück. Dann hatte er sich geräuschlos auf einen Stuhl gestellt und die Buchstaben des Titels aufmerksam betrachtet, die kleinen zu entziffern war ihm nicht gelungen, so ärgerlich ihm das war, denn da mußte der Name des neuen Gegenübers stehen, dagegen las er »Midaskinder« mit Leichtigkeit. Er besann sich; aus der Zeit, wo er das Realgymnasium besucht hatte, klang halb unvernehmlich dies Wort herüber. Aber besinnen ist unnütz, nachlesen ist sicher. Mit raschem Schritte ging er zu seinem Bücherbrette; hier stand die zehnte Auflage des Brockhausschen Konversationslexikons und sagte ihm alles, was er bedurfte. Aufmerksam las er die kurze Angabe über Midas durch, unterschied sofort das Wesentliche vom Unwesentlichen und schrieb sich dann aus einen Zettel heraus: »Nach einer andern Sage erkannte er bei einem Wettstreit des Pan und Apollo, der Syrinx und der Kithara, dem Pan den Preis zu, wofür er von Apollo Eselsohren bekam. Er verbarg dieselben unter seiner phrygischen Mütze, aber sein Barbier entdeckte sie. Diesen drückte das Geheimnis so, daß er es wenigstens in eine Grube hineinflüsterte, über der aber bald Schilfrohr emporwuchs, durch dessen Flüstern die Sache verraten wurde.«

Auch ihn hatte ein Zug in dieser Überlieferung berührt und in seinem regen, scharfen Geiste hatte dann das Wort »Midaskinder« ein helles Licht über eine ganze Reihe von Erscheinungen geworfen. Es reizte ihn etwas in diesem Titelblatt und in dem Anblick des jungen Mannes, den er schon gestern flüchtig aus der Galerie gegenüber gesehen hatte, dem hier aufgegangenen Problem nachzugehen, und während drüben Viktor mit dem Gefühle aufgestanden war, eben jetzt gelinge es mit dem Anfange gar nicht, er solle ein wenig in die frische Morgenluft und dann neu angeregt zurückkehren, ergriff der Architekt die Feder und beschrieb ein Blatt mit dem, was ihm gerade in das helle Licht der Midassage gerückt war.


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