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Viertes Kapitel.

Und doch steht das Midaskind am Waldrande und wartet.


Die Uhr tickte, der Vogel sang in seinem Bauer, und der Wind neckte sich mit den Vorhängen am offnen Fenster, der Hund, der vor einer Stunde das junge Mädchen am ersten erspäht und stürmisch begrüßt hatte, lag nun zu ihren Füßen und blinzelte einmal nach einer Mücke, die nah an ihm vorübersummte, blickte auch wohl fragend zu den beiden Herrinnen aus, als ob eine Bewegung ihrer Hände oder des Kopfes ihm gälte, horchte, die Ohren spitzend, aus Schritte, die über die Kieswege des Gartens kamen und gingen, und legte dann den Kopf wieder auf die Pfoten zum Weiterträumen nieder.

Das junge Mädchen saß still da, die Augen auf die strickenden Hände der Großmutter oder das feine, schmale Gesicht der Greisin gerichtet. Die Großmutter aber gönnte der Enkeltochter das Schweigen; sie wußte, was Arbeit, und auch, was ungewohnte Arbeit und die Ruhe gerade nach dieser ist.

Von der Großmutter aber wendete sich der nachdenkliche Blick des jungen Mädchens auf die Bilder über dem Sofa, es waren Familienbilder, schwarze Silhouetten aus dem achtzehnten Jahrhundert und Lithographien und Photographien der letzten Generation; sie hingen in einer Anordnung dort, die allen Tapetenwechsel überdauert hatte, und deren sich die Enkelin erinnerte, so lange sie als Gast dies liebe Stammhaus ihrer Eltern besucht hatte. Sie wußte auch von vielen dieser stummen Bilder, was die freundliche Großmutter dem wißbegierigen Kinde vor Jahren dann und wann erzählt hatte. Aber manches wußte sie noch nicht, und heute hatten ihre Gedanken eine Richtung genommen, in der noch manches unbeantwortet lag.

»Nicht wahr, Großmutter,« unterbrach sie ein langes Schweigen, »der Urgroßvater hat das Haus gebaut?«

»Ja, Dorothea, er hat es 1790 aufgerichtet, nachdem ihm das alte Haus fast über dem Kopfe zusammengebrochen war.«

»Gibt es noch ein Bild des alten Hauses?« forschte Dorothea weiter. »Ich denke, es war ein schöner, alter Herrensitz.«

»O nein, Kind, der Urgroßvater hat uns erzählt, es sei ein Bauernhaus wie das da drüben im ›nassen Winkel‹ und wie das Forsthaus gewesen, und nur ein schönes Bildwerk über der Haustüre unterschied es von den gewöhnlichen Bauernhäusern.«

»Kennst du das Bild? Ist es erhalten? Warum ist es nicht am neuen Hause angebracht?«

»Drei Fragen, mein rascher Liebling,« erwiderte freundlich die Greisin, »und eine Antwort, die sie zunächst alle beantwortet: der Stein liegt seit 1790 in unserm Brunnen im Hofe.«

»Ach!« rief Dorothea und sah die Großmutter mit Spannung an. Männer und Frauen der Vergangenheit, starke Willen, schwere Entschließungen, dunkle Tage und verschwiegene Vorgänge standen schnell vor ihrer jungen Phantasie, aber vor der Erzählung der Großmutter verschwanden diese Gebilde rasch. Die Greisin hatte aus einer alten Schreiblade, deren Deckel mit einem Schachbrettmosaik in Rautenform und großem, feinverziertem Messinggriff geschmückt war, ein altes Blatt genommen und sagte, ohne es aus der Hand zu geben: »Der Stein war bei dem Neubau, gerade ehe man ihn einsetzen sollte, aus zwei Brettern über die Brunnenmauer gelegt worden, nachdem man ihn noch einmal sorgfältig gescheuert hatte. Eins der Bretter war zu schwach, es brach, und ehe die Maurer von ihren Gerüsten herab geklettert waren, war der Stein versunken. Als nun alle klagten, sagte dein Urgroßvater: ›So wollen wir fortan noch einmal so gern aus dem tiefen, klaren Brunnen schöpfen und trinken, und denken, daß da unten das ruht, was uns groß gemacht hat, und daß es nun noch viel ernster und geistestiefer zu uns redet als vordem, wo der tägliche Anblick unser Auge ab stumpfte und unser inneres Hören nicht wachhielt.‹ So ist uns nichts geblieben als das wahre Wort des Urgroßvaters und dies alte Blatt in Wasserfarben, das vor Zeiten einmal ein Maler von dem Steine auf genommen hat.«

Lebhaft sprang Dorothea auf und blickte voll Teilnahme auf das Bild, das die Großmutter nicht aus den Händen gelassen hatte. Es zeigte in einer verschnörkelten Umrahmung eine kleine Wasserfläche, mit Schilf und Binsen umstanden, und eine Eiche mit breitem, knorrigem Geäst abspiegelnd, über dieser Landschaft aber die Sonne im Mittagsstande und ihr Bild mitten auf dem Spiegel des Teiches. Ein mehrfach gewelltes Spruchband schwebte über dem Ganzen und trug in lateinischer Sprache die Aufschrift: »Über allen Fluten dein Licht, auf allen Fluten dein Angesicht.«

»Deine Väter meinten,« sagte die Großmutter, ohne den Blick von der Zeichnung zu erheben, »das mit dem Wasser beruhe auf einem traurigen Erlebnis, der Urgroßvater hatte etwas im Elternhause gehört, aber schon sein eigener Vater und Vorvater wohnten so weit von dem Stammlande ihrer Freundschaft entfernt, daß sie keine rechte Nachfrage tun konnten – nun, Dorothea, die Leute deines Namens haben alle aus der Tiefe geschöpft, darum liegt der Stein da unten und seine Wahrheit ruht in euern Herzen, auch in dem deinen, du liebes Großkind.«

Dorothea trat von der Großmutter weg zu dem Ölbilde hin, das den Urgroßvater Hektor Narzissus darstellte, und sah sinnend in das alte, feste Gesicht. Es war bartlos, wie es die Sitte der Zeit mit sich brachte, ein Zöpflein schwebte dafür im Nacken, das Oval des energisch geformten Gesichtes war halb dem Zuschauer zugewendet, kühne, dunkle Augen schauten heraus – alles mehr einem Soldaten als einem Landwirt ähnlich.

»Nicht wahr, der Großvater glich dem Urgroßvater sehr?« fragte Dorothea mit dem Nachdruck, der die Frage schon selbst beantwortete, und dann setzte sie halb verlegen, aber doch mit fester Stimme hinzu: »Das waren beide gewiß rechte Midassöhne?«

Die Greisin sagte mit Nachdruck: »Ja, das war ein Guß. Aber dazumal nannte man diesen Menschenschlag anders, ich wenigstens nannte deinen Großvater, als er noch jung war, im stillen Titan, das kam aus den Büchern, die ich als Mädchen am liebsten las.«

»Erzähle mir davon, wie du den Großvater kennen lerntest,« bat Dorothea dringlich.

Die alte Frau ließ das Blatt in den Schoß sinken und sah hinaus in den Garten und über ihn hinweg in die Waldwipfel hinein und über diese hinaus in vergangene Tage. Die Akazien blühten, ihr Duft wehte in das Zimmer, und von ihren weißen Blüten fiel wohl dann und wann auch einmal eine auf das Fensterbrett; Dorothea sah es wohl, aber die Greisin beachtete es nicht.

»Gib mir aus der Lade aus dem offenen Kästchen dort das Schulheft, das zuoberst liegt.« Dorothea brachte es; die Großmutter blätterte schweigend in dem Hefte, es zeigte die Schriftzüge, wie sie unsre Großmütter im Anfange des letzten Jahrhunderts und noch zwei, drei Jahrzehnte länger einübten; es waren Aufsätze und Gedichte, bunt gemengt, von der Hand dort eingetragen, die nun welk geworden war, aber immer noch die feinen und beredten Formen trug, die die junge Hand einst ausgezeichnet hatten. In diesem Hefte lag ein einzelnes Blatt, die Großmutter nahm es heraus, gab es Dorothea und sagte: »Lies es mir vor.« Dorothea las:

Den sie im Scherz Achill genannt,
Ich muß ihn Titan nennen,
Ich seh der Flammen hellen Brand,
Wo nur erst Funken brennen.

Doch hör' ich schon das wilde Wehn,
Da sie dich heiß umlodern
Und freien Tod und Neuerstehn
Von dir gebietrisch fodern.

Mit einem Lächeln, in dem sich schwer die Bewegung der Greisin niederkämpfte, hatte diese zugehört, und nun begann sie: »Wie ich dies arme Gedicht mit dem Pathos meiner siebzehn Jahre niederschrieb, das war eine unvergeßliche Stunde. Es war ein Juninachmittag, wir saßen in der französischen Lesestunde, fünfzehn Mädchen, in dem Herbertschen Institut – das ist nun lange eingegangen, damals war es berühmt als eine gute Schule für Beamtentöchter und Pfarrers- und Landkinder, wie ich ja eins war –, es war schwül im Zimmer, und die gute Mademoiselle Küpfer las etwas vor, neben dem offenbar auch noch etwas andres bestehen konnte: ich hörte die alte Kastenuhr unten im Hausgang schwerfällig ticken, dann Schritte, die unten im Hafergäßlein an unserm Hause vorübergingen – ich wußte, wem sie gehörten; endlich hörte ich nur noch das einförmige Rauschen des Marktbrunnens. Der Marktplatz lag ganz einsam da, kein Mensch ging in diesem Sonnenbrande über den großen, schattenlosen Platz. Wie ich so horchte und träumte, schob mir eine Nachbarin ein Zettelchen zu mit den Anfangsbuchstaben L. N. Z. und darunter Achilles mit großen Buchstaben und zehnmal dick unterstrichen, ich nahm das Zettelchen und ward nicht einmal rot, sah auch nicht die Nachbarin an, sondern starrte nur auf das Wort Achilles und dachte an den jungen Studenten, der eben mir zu lieb da unten vorbeigegangen war, und den ich fast von Kindheit auf kannte – du verstehst, Dorothea, mein Heimatsdorf liegt ja nahe, und viel Verkehr war über den Fluß hinüber und herüber, zwischen den Pfarrhäusern und den Herren auf den Gütern – nun, und dann schrieb ich das Gedichtchen aus dieses Blatt, und wahrscheinlich hätte ich es zerrissen, wenn nicht etwas Sonderbares gerade an demselben Mittag geschehen wäre.«

»Was geschah?« fragte Dorothea voll Ungeduld.

»Was damals geschah, hätte an seiner Stelle auch einen Stein verdient, wie den da draußen!« Die vier Augen ruhten einen Augenblick auf einem kleinen Granitblock, der im Garten an einem alten Buchsbaum stand und die vergoldete Inschrift trug: 3. September 1858. Beide Frauen sahen sich dann lächelnd an; fast unbewußt hatte Dorotheas Hand eine Brosche, die als Mittelstück, in zierlichster Renaissancefassung, eine goldene Münze trug, berührt, als ob sie prüfen wolle, ob sie sich nicht etwa unterwegs abgelöst habe; die Großmutter aber sah mit dem gleichen Lächeln einer beziehungsreichen Erinnerung den schönen Schmuck am Kleide der Enkelin an und fuhr dann fort:

»Dein Großvater hatte an jenem Nachmittage mit seinen jungen Freunden einen Gang nach dem Hirschsprung verabredet. Das ist eine Felswand nahe bei der Stadt, es führen Treppen und Pfädchen hinaus, über die nur junges, verwegenes Volk klettert; von oben hat man eine schöne Aussicht in die Täler und über die Berge hinaus noch in das flache Land bis zu unserm Waldgebiet. Hier geschah es, was ich an diesem Mittag geschrieben hatte. Dein Großvater war allen vorangeeilt und saß schon oben ausruhend auf einem der Sandsteinblöcke, dann kamen nach ihm ein paar Freunde, die unter der Spitze ermüdet nachließen; sie saßen aber so nahe, daß sie der Großvater hören konnte. Einer von ihnen schnitt einen Namen in die Rinde eines Baumes, der sich in die Felsen festgeklammert hatte; sein Nachbar sieht ihm zu und deklamiert ein Sprüchlein, das vor ein paar Jahren in einer Zeitschrift Goethes erschienen war:

Nichts vom vergänglichen,
Wie's auch geschah,
Uns zu verewigen
Sind wir ja da!

Nun, das feine Wort zu einem Wortspiele zu verderben war nicht recht, aber hier hat es doch wohl gesprochen werden müssen, denn wie es der Großvater hört, fällt es ihm mit seinem ganzen heiligen Sinn in das Ohr und setzt ihm hinter Gedanken, die seither unabgeschlossen durch sein junges Herz gewogt hatten, plötzlich den festen, endgiltigen Punkt. Wie der eine noch an dem Namen schnitzelt, hören sie etwas durch die Luft sausen, und als sie nachher zum Großvater kommen, steht er oben ohne sein buntes Cerevis und schaut regungslos in das Land. ›Achilles, wo ist dein Cerevis?‹ rufen sie, und er wendet sich ruhig zu ihnen und sagt: ›Es liegt irgendwo dort unten in den Tannen‹ Daß er es hinabgeworfen hatte, und was er alles an Unsichtbarem damit von sich abgetan hatte, hat er nicht gesagt, aber sie merkten es von da an.«

»Das war wohl ein wunderschön gesticktes Cerevis?« fragte Dorothea mit einem stillen Hintergedanken, den die Greisin nicht erriet, denn sie antwortete: »Ja, ich hatte Tage und Nächte und fast die Augen drangegeben.«

Dorothea sprang auf und umarmte die Großmutter.

»Du hast mich gefangen,« sagte diese nun mit zärtlichem Blick.

»Hat es dir nicht leid getan, daß er dein Geschenk wegwarf?«

»O nein, ich hätte die kleine Mütze noch lieber gestickt, wäre das möglich gewesen, wenn ich gewußt hätte, in welchem Lebensaugenblicke sie mit allem, was sie bedeutete, schon Vergangenheit für ihn sein würde. Von jenem Tage an wußte ich noch besser als früher, warum ich ihn lieb hatte. Seitdem,« fuhr sie fort, »hat er das Leben ›verewigt‹. Ich kannte keinen Menschen, der so wie er das Licht sich auf den Wellen seines Lebens wiederspiegeln ließ. Von dem alten Buche der Nachfolge Christi hat er nichts wissen mögen; schon der lateinische Titel ›Von der Nachahmung Christi‹ war ihm ein schwerer Anstoß. Sein Gedanke, um den sich sein Leben und sein Denken drehte, war, wie man in jeder Lebensform und jeder Lebenslage in der Gegenwart Gottes leben könne, da man in ihr leben müsse. Man wandert durch den Äther, in jedem Augenblicke durchfluten feine Ströme, ohne daß wir es merken, unsern ganzen Körper; wir wandern in Gott, er durchströmt, überflutet, überrauscht uns, und daß wir das wollen, ist unser tiefstes Sehnen, und wie wir bei allem in Gott sind, das ist die große Lebenskunst des Christen. Diese Verewigung, dies Wandern in Gott, das war sein Thema, er sprach nicht viel darüber, aber er lebte es uns vor.«

Dorothea hatte mit lebhafter Teilnahme zugehört. Sie hatte nichts vernommen, das ihr nicht wie nächstverwandt gewesen wäre, und das Gefühl der zeitlichen und geistigen Blutsgemeinschaft mit den Voreltern und Eltern kam wie ein Glückseligkeitsgefühl über sie. Es war ihr sonderbar, daß sie den Jüngling, den sie heute gesehen hatte, immer in diese geistige Reihe eingeschlossen sah. Als sie merkte, daß die Großmutter nichts mehr hinzufügen werde, sagte sie: »Ich möchte doch gar zu gern etwas von unsern Verwandten hören, die nicht in unserm Königreiche wohnen, mir ist, als hättest du einmal gesagt, es lebten heute noch Leute unsres Namens weiter im Norden, die zu uns gehörten.«

»Gewiß,« sagte die Großmutter, »vielleicht sogar nicht sehr entfernte Verwandte, aber die weite Entfernung und unsre harte Landarbeit hat es verursacht, daß wir kaum mehr als das wissen, daß sie da sind.«

»Kannst du mir gar nicht sagen, was es für Leute sind?« drängte Dorothea.

»Vielleicht weiß dein Vater etwas Genaueres, er hat sich einmal wegen dieser Verwandten umgetan, frage ihn, wenn du jetzt wieder nach Hause kommst.«


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