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In seinem großen Arbeitszimmer mit den ernsten Möbeln saß Philipp arbeitend vor dem Schreibtische, der mit Papieren überdeckt war, welche er mit flüchtigem Blicke durchlas, und nachdem er mit einem Federzuge seine Unterschrift auf das geprüfte Stück gesetzt, nahm er eifrig ein anderes zur Hand. Es war 10 Uhr morgens und glühender Sonnenschein fiel senkrecht auf die Fassade des Schlosses. Ein indiskreter Strahl, der die Stirn des Hüttenbesitzers traf, unterbrach seine Arbeit, er erhob sich, und ans Fenster tretend, ließ er einen Moment seine Augen über den Garten schweifen.
Am Ufer des Teiches unter dem Schirm eines Zeltes aus gestreifter Leinwand saß Susanne in weißem Kleide und fischte in höchst zerstreuter Weise. Die Leine ruhte in dem Wasserbecken und die Angel, von dem Zappeln eines Fisches, der angebissen hatte, hin- und hergezerrt, ließ das Wasser in glänzenden Kreisen sich kräuseln. Den Blick ins Unbestimmte verloren, saß das junge Mädchen regungslos mit strahlendem Antlitz da, als folge sie einem beglückenden Gedanken.
Ein Lächeln glitt über die Lippen des Hüttenbesitzers, er öffnete geräuschlos das Fenster und rief seiner Schwester zu:
»Susanne, weißt du, daß ein Fisch angebissen hat?«
Das Mädchen fuhr erschreckt in die Höhe und wendete sich mit einem reizenden Schmollgesichte zu ihrem Bruder.
»O, Philipp,« seufzte sie, »wie du mich erschreckt hast!«
»Ziehe doch die Angel zurück,« sagte der Hüttenbesitzer, »seit zehn Minuten schon zappelt ein Barsch an der Leine. Man darf die Tiere nicht so quälen!«
Mechanisch zog das junge Mädchen das dünne Rohr an sich, häkelte den Fisch los, der wie ein Silberstrahl umherschoß und ließ ihn in eine Netztasche fallen, welche nahe am Ufer unter den Stauden vom Wasser bespült wurde.
»Ich habe schon zwölf Stück gefangen,« rief Susanne stolz aus, indem sie ihrem Bruder das gefüllte Netz zeigte.
»Die werden wir uns heute gebacken schmecken lassen,« rief heiter der Hüttenbesitzer.
Er betrachtete noch einen Moment lang seine kleine Schwester, die mit ernster Miene einen roten Wurm an die Angel spießte. Unter dem blauen Himmel und dem Halbschatten des Zeltes sah sie so rosig, so frisch aus, daß eine plötzliche Rührung ihren Bruder überkam.
Ein Seufzer schwellte seine Brust; still warf er dem geliebten Kinde einen Kuß zu, und das vor den Sonnenstrahlen schützende Rouleau hinablassend, schloß er das Fenster, so daß das Zimmer in erfrischendes Halbdunkel getaucht wurde. Philipp kehrte an den Schreibtisch zurück und wollte sich eben niederlassen, als ein bescheidenes Klopfen an der Thüre ihn daran hinderte.
»Herein!« rief er in gleichgültigem Tone.
Die Thüre wurde geöffnet und Claire erschien errötend und tief bewegt, aber fest entschlossen auf der Schwelle derselben.
»Störe ich nicht?« fragte sie eintretend, während Philipp, von dem unerwarteten Besuch höchst überrascht, ihr höflich einen Fauteuil zurechtrückte.
»Oh, ganz und gar nicht,« antwortete er einfach, und an den Kamin gelehnt, wartete er.
Claire saß, den Kopf ein wenig auf die Lehne ihres Sitzes zurückgebogen, und blickte eine Weile schweigend um sich. Niemals betrat sie sonst dieses Privatzimmer, dessen etwas kalter Ernst, in dem sich gewissermaßen der Charakter seines Bewohners abspiegelte, ihr gefiel. Sie betrachtete jeden Gegenstand mit wohlgefälliger Aufmerksamkeit. In Wirklichkeit war es ihr darum zu thun, den Moment, wo sie sprechen mußte, hinauszuziehen, denn sie hatte heftiges Herzklopfen und ihre Schläfen pochten. Philipp beobachtete sie, und er war es, der endlich das Schweigen brach.
»Haben Sie mich um etwas zu ersuchen?« fragte er.
Claire wendete ihre Augen ihrem Manne zu, und mit einem Anfluge von Traurigkeit in der Stimme antwortete sie:
»Wir leben so entfernt voneinander, daß ich in der That ein Anliegen haben muß, um es zu wagen, Sie zu stören.«
Philipp machte eine Gebärde höflichen Widerspruchs, und sich vor seiner Frau verbeugend, wie um sie zu ermutigen, sagte er:
»Ich bin bereit, Sie zu hören.«
Die junge Frau neigte den Kopf, als wollte sie sich sammeln. Sie zitterte und der Mund war ihr trocken. Nie wurde ein ernsterer Entschluß mit mehr Angst ausgeführt.
»Das, wovon ich mit Ihnen zu sprechen habe, ist von größter Wichtigkeit und betrifft Sie ebenso wie mich.«
»Wir wollen sehen!«
Claire warf ihrem Manne einen so flehenden Blick zu, daß Philipp am liebsten vor ihr auf die Kniee gesunken wäre; er verhielt sich jedoch vorsichtigerweise ganz ruhig und abwartend.
»Vor allem,« fing die junge Frau an, »sagen Sie mir, Sie nehmen doch einigen Anteil an dem Geschicke meines Bruders, nicht wahr?«
»Ich glaube nicht,« erwiderte etwas erstaunt der Hüttenbesitzer, »daß er bis jetzt Grund hatte, daran zu zweifeln.«
Die Antwort war zweideutig. Claire runzelte leicht die Stirn.
»Wenn Sie Gelegenheit fänden, diesen Anteil zu bethätigen.«
»So ist es wahrscheinlich, daß ich sie ergreifen würde.«
Bis zu diesem Punkte wollte Claire ihren Mann haben, um ihn mit seinen eigenen Antworten in die Falle zu bringen. Sie brauchte nun nur noch den Zweck der Unterredung zu bezeichnen und, von der Aufregung des begonnenen Kampfes ermutigt, zauderte die junge Frau nicht länger.
»Wohlan, diese Gelegenheit bietet sich nun dar; wünschen Sie dieselbe zu kennen? Ich muß Ihnen sagen, daß sie höchst ernsthafter Art ist und daß es sich in diesem Falle nicht nur um meinen Bruder handelt.«
»Welche Umschweife!« unterbrach sie der Hüttenbesitzer. »Erscheint Ihnen das, um was Sie mich bitten wollen, denn gar so schwer zu erlangen?«
Claire sah ihrem Mann voll ins Gesicht, als wollte sie nicht einen einzigen Zug desselben verlieren, alsdann sagte sie rasch:
»Urteilen sie selbst. Octave liebt Ihre Schwester und hat mich beauftragt, Sie an seiner statt um ihre Hand zu bitten.«
Philipp stieß einen leisen Ruf der Ueberraschung aus und sein Gesicht verdüsterte sich. Um seine Unruhe zu verbergen, trat er an das Fenster, vor welchem er schweigend stehen blieb, mit der Hand ein wenig das Rouleau lüftend. Am Ufer des Teiches träumte Susanne sorglos weiter, die Angel in den spiegelglatten Teich tauchend. Der Hüttenbesitzer blickte das unschuldige sanfte Kind aufmerksam an, das ihm wie für das Glück geschaffen schien.
Claire schritt angstvoll auf ihren Mann zu, und ihn in Gedanken vertieft sehend, rief sie:
»Sie geben mir keine Antwort?«
Philipp wendete sich um, und langsam sprechend, als sei ihm das, was er zu sagen habe, äußerst peinlich, erwiderte er:
»Es ist mir um Ihren Bruder ungemein leid, aber die Heirat ist unmöglich!«
»Sie verweigern Ihre Zustimmung?« rief Claire in furchtbarer Aufregung.
»Ich verweigere sie,« antwortete der Hüttenbesitzer kalt.
»Weshalb?«
Philipp sah seiner Frau starr ins Gesicht, als wollte er seine Antwort bis auf den Grund ihres Herzens dringen lassen:
»Weil es in meiner Familie durch Verschulden der Ihrigen bereits eine unglückliche Person gibt und ich finde, daß es damit genug ist.«
»Hüten Sie sich,« entgegnete Claire lebhaft, »nicht viel sicherer das Unglück Susannens zu verschulden, indem Sie meinem Bruder ihre Hand verweigern.«
»Wie so das?« fragte der Hüttenbesitzer mit plötzlicher Besorgnis.
»Sie liebt ihn!«
Aus dem Garten ließ sich die fröhliche Stimme Susannens vernehmen, welche mit Hilfe Brigittens die Gerätschaften zum Fischfang beiseite schaffte.
Philipp hielt einen Moment inne, um zu lauschen.
»Sie liebt ihn,« erwiderte er. »Das ist in der That ein großes Unglück, doch ändert es meine Entscheidung keineswegs. Wenn am Vorabende des Tages, wo ich Sie heiraten sollte, Jemand, selbst auf die Gefahr hin, mir das Herz zu brechen, mich daran gehindert hätte, er würde mir einen unermeßlich großen Dienst erwiesen haben. Die grausame Erfahrung, welche ich gemacht, soll wenigstens zu etwas nütze sein. Wenn meine Schwester weinen muß, so soll sie in Freiheit weinen und nicht wie ich eine unwiederbringlich verlorene Zukunft vor sich haben!«
Claire fühlte sich in so harter Weise getroffen, daß sie ihre Kaltblütigkeit nicht länger bewahren konnte.
»Sie wollen sich rächen?« sagte sie heftig.
»Mich rächen?« entgegnete der Hüttenbesitzer hoheitsvoll. »Glauben Sie, daß ich Lust habe Rache zu nehmen? Nein. Es ist bloß eine Vorsichtsmaßregel, die ich gebrauche, und alles rät mir dazu.«
Claire ließ sich in den Fauteuil sinken. Sie hörte aus den Worten ihres Gemahls eine so stolze Verachtung und einen so festen Entschluß heraus, daß sie es aufgab, dagegen zu kämpfen. Sie wollte sich nunmehr aufs Bitten verlegen.
»Hören Sie,« fing sie wieder an, »ich bitte Sie darum, machen Sie mich nicht verantwortlich für das Unglück dieser Kinder. Ich bin selbst niedergedrückt genug. Was muß ich thun, um Sie zu erweichen? Ich habe Ihnen schweres Unrecht gethan, ich weiß es . . .«
Philipp fing an, bitter zu lachen.
»Sie haben mir schweres Unrecht gethan,« rief er, »wirklich? Und Sie geruhen, es zu gestehen? Nun, das sind, wie mir scheint, große Zugeständnisse, die Sie mir da machen!«
Claire nahm von diesen ironischen Worten keine Notiz, denn sie war entschlossen, sich durch nichts entmutigen zu lassen, um ans Ziel zu gelangen.
»Ja, ich habe Ihnen viel Leides zugefügt, aber Sie lassen es mich schwer büßen . . .«
»Ich?« fiel ihr Philipp ins Wort. »Und wodurch denn? Habe ich Ihnen Vorwürfe gemacht? Habe ich Ihnen ein verletzendes Wort gesagt? Habe ich es je an der Ihnen schuldigen Rücksicht fehlen lassen?«
»Nein, aber wie sehr hätte ich Ihren Zorn der gleichgültigen Geringschätzung vorgezogen, mit der Sie mich behandeln. Rings um mich her höre ich alle Welt mein Glück preisen und überall, wo ich hinkomme, werde ich beneidet, gefeiert. Aber wenn ich nach Hause komme, wo ist dann mein Glück? Ich suche es und ich finde nur die Einsamkeit, die Verlassenheit, die Traurigkeit!«
Philipp richtete seine hohe Gestalt empor und die arme Frau, die sich so vollständig in seiner Gewalt fühlte, mit einem stolzen Blicke messend, versetzte er:
»Es hing nicht von mir ab, daß es anders gekommen wäre. Sie haben selbst über Ihr Leben entschieden und es ist heute so, wie Sie es sich selber bereitet haben.«
»Das ist wahr,« erwiderte Claire mit tonloser Stimme; »aber ich hätte doch wenigstens das Recht auf Ruhe zu zählen, doch nicht einmal diese konnte ich erlangen . . .«
Sie erhob sich seufzend und mit krampfhaft geballten Händen und verstörten Blicken fuhr sie fort:
»Dieses nichtswürdige Weib, das mich haßt, verfolgt mich bis hieher und Sie bieten die Hand zu ihren Ränken. Sie brüstet sich mit Ihnen, sie kompromittiert Sie und Sie haben nicht einmal so viel Mitleid mit mir, um mir ihre schimpflichen Prahlereien zu ersparen . . . Doch ich bin mit meiner Geduld zu Ende, das kann nicht mehr so fort gehen, ich will es nicht!«
»Sie wollen es nicht?« erwiderte Philipp. Und als Claire mit wütender Hartnäckigkeit nochmals ausrief: »Nein, nein, ich will es nicht,« sagte der Hüttenbesitzer mit strenger Miene:
»Sie vergessen, daß hier nur ich das Recht habe, zu sagen: Ich will.«
Alles Blut stieg der stolzen jungen Frau zu Gesicht; sie war empört. Und von Zorn geblendet, von Eifersucht hingerissen, rief sie aus:
»Hüten Sie sich, treiben Sie mich nicht zum Aeußersten. Ich kann Ihre Gleichgültigkeit ertragen, aber eine so beleidigende Verachtung, eine öffentliche Vernachlässigung . . . dazu werde ich mich nie verstehen . . .«
Philipp blieb vor ihr stehen und sie mit spöttischer Neugier betrachtend, sagte er:
»Wie sind Sie es so ganz! Wie sind Sie sich so ganz gleich geblieben! Immer der Stolz! Immer die Besorgnis darum, was Ihre Umgebung denken wird! Die öffentliche Meinung ist es, die Sie zumeist beschäftigt. Um in der Welt eine günstige Rolle zu spielen, haben Sie sich wie toll in das Abenteuer unserer Verbindung gestürzt und heute noch, aufgebracht durch den Gedanken, daß man Sie kritisieren könnte, verhöhnen Sie mich, verlieren Sie jedes Maß und vergessen sich so weit, mir zu drohen!«
»O nein, ich drohe nicht,« fiel Claire ein, die ihre Thränen nicht mehr zurückzuhalten vermochte; »ich bitte, haben Sie Mitleid mit mir, Philipp. Seien Sie großmütig, . . . Werden Sie denn nie ermüden, mein Herz so zu quälen? Sie sind gerächt genug! . . . Sie dürfen nun nachsichtig sein . . . Wenn Sie an den Bedingungen unserer Existenz nichts ändern wollen, so sichern Sie mir wenigstens meine Ruhe, befreien Sie mich von der Herzogin, entfernen Sie den Herzog von mir! . . .«
Sie hatte die letzten Worte mit leiser Stimme ausgesprochen, als schämte sie sich, sie über ihre Lippen zu bringen . . .
»Worüber beklagen Sie sich?« entgegnete der Hüttenbesitzer. »Ich muß mir doch ebenfalls die Gegenwart dieser beiden gefallen lassen. Es sind Ihre Verwandten! Was würde die Welt sagen, die Welt, deren Meinung Sie doch stets alles unterordnen, wenn ich ohne sichtbaren Grund ihnen unsere Thür verschließen würde? Wir müssen uns in Geduld fügen und die notwendigen Folgen unserer traurigen Lage ertragen. Das Leben fügt sich nicht der Laune eines verzogenen Kindes, alles ist in demselben ernst und wichtig und das Unglück kommt nur zu leicht von selbst, man braucht ihm nicht entgegenzugehen. Sie wissen es jetzt selbst. Ihr Wille hat uns beide außerhalb des gebahnten Weges gestellt und nun ist es unsere Pflicht, vorwärts zu schreiten, weil wir zur Umkehr nicht mehr das Recht haben,«
»So habe ich denn,« sagte Claire, »nichts mehr von Ihnen zu erwarten, nichts mehr zu hoffen!«
»Nichts,« erwiderte der Hüttenbesitzer kalt. »Und erinnern Sie sich nur, daß Sie selbst es waren, die es so gewollt!«
Claire blickte auf ihren Gatten. Seine Züge waren verstört, die Augen lagen tief unter den finstern zusammengezogenen Brauen und er war blaß, doch seine Stimme klang fest.
Einen Augenblick dachte sie daran, sich ihm zu Füßen zu werfen, ihm ihr Herz zu eröffnen und zu gestehen, daß sie ihn liebe.
Sie schritt auf ihn zu, mit beklommenem Herzen, erstickend fast und schon wollte sie die Arme nach ihm ausbreiten, aber ein letzter Rest von Stolz hielt sie zurück, sie stieß einen schweren Seufzer aus und blieb regungslos.
Philipp trat auf sie zu:
»Ich muß mich nun entfernen, da eine wichtige Angelegenheit mich ins Hüttenwerk ruft,« sagte er ruhig, als wäre zwischen ihm und dieser Frau, die er vergötterte, nichts vorgefallen.
»Was soll ich meinem Bruder antworten?« fragte Claire schüchtern.
»Sagen Sie ihm, daß ich auf seine Ehrenhaftigkeit zähle und hoffe, daß er Susannen kein Wort von meiner Weigerung sagt. Ich werde Anstalten treffen, um meine Schwester binnen acht Tagen vorläufig von hier zu entfernen!«
Und mit einem gleichgültigen Neigen des Kopfes zog er sich zurück.
Die junge Frau blieb während einiger Minuten allein in dem weiten Gemach. Rückhaltslos überließ sie sich hier ihrem Schmerz und ermaß in tiefer Mutlosigkeit die ganze Größe ihres Unglückes. So war es denn unwiderruflich. Vergebens hatte sie ihrem Manne die blutende Wunde ihres Herzens gezeigt, er hatte kaum einen zerstreuten Blick darauf geworfen. Sie existierte nicht mehr für ihn, wie er es ihr einst gesagt, und er hielt nun sein Versprechen. In unerbittlicher Strenge wollte er ihre flüchtige Verirrung nicht vergeben, und stolz wies er sie ab, wenn sie sich ihm zu nähern versuchte. Und nun trug sie auch noch die Schuld an dem Unglück ihres Bruders.
Gewiß, nur aus Mißtrauen gegen das Blut der Beaulieu, dessen verhängnisvolle Heftigkeit er empfunden, verweigerte er Octave die Hand Susannens. Auf welche Weise sollte sie nun ihrem Bruder diese unselige Nachricht mitteilen?
Die Stimme Susannens, die sich im Nebenzimmer hören ließ, brachte sie rasch auf die Füße, und in der Besorgnis, weinend in dem Kabinette ihres Mannes überrascht zu werden, flüchtete sie mit der Schnelligkeit eines verfolgten Rehes auf ihr Zimmer, in welchem sie sich einschloß. Sie gab Auftrag, man möge sie um die Frühstückszeit entschuldigen und sagen, daß sie unwohl sei. Dann gegen zwei Uhr, als sie vom Fenster aus Susanne in den schattigen Gebüschen des Parks hatte verschwinden sehen, schlich sie sich nach der Treppe und durch eine Hinterthür hinausschlüpfend, machte sie sich zu Fuß auf den Weg nach Beaulieu.
Der Marquis, welcher das Resultat der von seiner Schwester angeknüpften Unterhandlung erwartete, durchmaß mit ungeduldigen Schritten die Terrasse, hoffend, daß seine Schwester ihn nicht mehr lange dieser Ungewißheit überlassen werde. In weiter Ferne gewahrte er endlich Claire, die den ziemlich steilen Weg, der zum Schlosse fühlte, emporstieg. Doch wurde er von ihrer Haltung schmerzlich betroffen. Madame Derblay folgte langsam mit gesenktem Kopf der rasenbedeckten Böschung der Straße und schien ganz zu vergessen, sich gegen die Sonne zu schützen, die, von Zeit zu Zeit die Wolken durchbrechend, glühend heiß herniederbrannte. Ihr Gang hatte etwas Müdes, Schlaffes, das ihn eine Niederlage ahnen ließ. Sie kam nicht triumphierend und rasch, wie die Botin einer guten Nachricht.
Octave eilte ihr entgegen und erreichte sie in wenig Minuten. Sie wechselten einen Blick; der des Bruders war ängstlich und erregt, derjenige der Schwester düster und verzweifelt.
»Mein Gott, was ist vorgefallen?« fragte Octave, indem er seine Schwester krampfhaft am Arme faßte und sie zu einem mit Bänken umgebenen Rondel zog, welches einen herrlichen Ausblick gewährte. Der süße Duft von blühenden Linden, welcher bis zu Claire emporstieg, betäubte sie vollends und bebend, die Augen voll Thränen, stand sie regungslos, ohne ein Wort zu sprechen vor ihrem Bruder.
»Um des Himmels willen, Claire, was ist geschehen? Sprich doch, alles lieber, als dein Schweigen!«
Frau Derblay hatte Mitleid mit der Qual ihres Bruders und mit peinlicher Anstrengung antwortete sie:
»Mein armer Freund, ich überbringe dir eine traurige Antwort auf die Bitte, mit der du mich betraut hast. Eine Heirat zwischen dir und Susanne ist unmöglich.«
Octave wich einen Schritt zurück, als hätte er einen Abgrund vor seinen Füßen sich öffnen sehen. Er blickte seine Schwester verstört an, als verstehe er sie nicht recht, und wiederholte:
»Ist unmöglich . . . Und weshalb?«
Claire schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
»Philipp verweigert seine Zustimmung,« sagte sie.
»Welchen Grund gab dein Gemahl dafür an?« fragte der Marquis.
Claires Verlegenheit wuchs. Was sollte sie ihrem Bruder antworten? Konnte sie ihm ihr schmerzliches Geheimnis anvertrauen? Welchen Vorwand erfinden, um der Weigerung Philipps einen halbwegs annehmbaren Grund zu verleihen? Octave hielt sie unter seinem Blick gebannt, in ihren Gesichtszügen, in jeder ihrer Bewegungen die Wahrheit suchend.
»Er gab keinerlei Grund an,« stammelte Claire errötend, »er verweigerte jede Erklärung.«
»Ohne Grund?« sagte der Marquis voll Erstaunen, »ohne Erklärung? Er, Philipp, den ich so sehr liebe? Er zögerte nicht, mir einen solch großen Kummer aufzuerlegen?«
Mit schmerzlicher Rührung trocknete er hastig seine Augen, und indem sein thätiger Geist nach dem Grunde forschte, den Philipp nicht angeben mochte, setzte er sich schweigend nieder. Plötzlich stieß er einen Schrei aus: ein Lichtstrahl hatte seinen Geist erleuchtet . . . Das Geld! . . . Es konnte nur das Geld sein! . . . Er war ohne Vermögen, ohne Stellung; ja, nur das konnte die Ursache sein, weshalb Philipp ihm seine Schwester nicht zur Frau geben wollte. Mit ungestümer Lebhaftigkeit erhob er sich.
Claire beobachtete ihn in großer Unruhe. Der Marquis that einige Schritte vorwärts und mit von Zuversicht und Kühnheit strahlender Stirn sagte er, ohne es zu merken, laut zu sich selbst, als antwortete er seinen Gedanken:
»Ohne Stellung, das ist wahr, doch ich werde mir eine gründen . . . Ohne Vermögen . . . Nun! Philipp weiß, wie man reich wird . . . Ich werde ihm nachahmen . . .«
Er hielt erschrocken, fast verblüfft inne. Claire hatte sich aufgerichtet und seine Hand mit großer Lebhaftigkeit ergriffen. Zwei Worte waren ihr aufgefallen, zwei nur von all dem, was ihr Bruder gesagt: »Ohne Vermögen . . .«, aber sie hatten genügt, um sie in unaussprechliche Unruhe zu versetzen und ihre Befangenheit, ihre Besorgnisse, ihre Schmerzen vergessend, verlangte sie mit allen Kräften ihrer Seele nur noch die Erklärung dieser Worte.
»Ohne Vermögen? du?« wiederholte sie.
Und mit befehlender Gebärde, drohend fast, forderte sie eine Antwort. Octave suchte, verlegen, verwirrt, dieselbe zu umgehen; aber ein Geheimnis ahnend, das sie um jeden Preis durchdringen müsse, faßte ihn Claire mit fürchterlicher Heftigkeit an der Schulter, und ihn mit ihren Augen verschlingend, rief sie:
»Was wolltest du sagen?«
»Unbedachterweise habe ich Worte ausgesprochen, die du nie hättest hören sollen,« erwiderte Octave. »Du kennst den Verlust unseres Prozesses nicht und hättest stets darüber in Unkenntnis bleiben sollen; und ich Thor habe das Geheimnis verraten, welches zu bewahren ich versprochen habe!«
Aber Claire hörte ihn nicht mehr an, sie überlegte. Der Verlust des Prozesses war der Ruin, ihr Bruder war ohne Vermögen, sie ohne Mitgift. Ein banger Zweifel stieg in ihr auf, sie erbebte, ihre Augen schienen größer zu werden, und zu Octave gewendet:
»Als ich heiratete?« fragte sie bloß, den Satz mit einer Gebärde vervollständigend.
»War das Unheil schon geschehen.«
»Und mein Mann . . . Philipp? Wußte er es?«
»Er wußte es und wollte nicht zugeben, daß man es dir mitteile, da er auch nicht den geringsten Schatten auf deiner Stirn sehen mochte. Er bewies bei dieser Gelegenheit eine Großmut und ein bewunderungswürdiges Zartgefühl . . .«
Claire stieß einen Schrei aus und schluchzte: »Das hat er gethan! Und ich . . . ich! o, ich Unglückliche!«
Da erschien plötzlich in ihrer Erinnerung das Zimmer mit den alten Tapeten, auf welchen die Ritter schweigend den Göttinnen zulächelten, so wie es an ihrem Hochzeitsabende gewesen, mit dem Feuer, das in dem Kamin brannte, an welchen sie sich fröstelnd lehnte. Sie sah Philipp blaß und zitternd, fast zu ihren Füßen, und dann stolz den Kopf erhebend, als sie ihm zurief: Nehmen Sie mein Vermögen! – Ihr Vermögen! Wie verächtlich hatte er gelächelt. Sie wußte nun, weshalb. Und in ihrer Verzweiflung trat die drückende, demütigende Wahrheit auf ihre Lippen. Sie mußte sprechen, mußte sich anklagen und außer sich stammelte sie:
»O, ich habe gelogen, als ich dir eben gesagt, daß ich nicht wisse, weshalb er dir seine Schwester verweigert. Ich trage daran die Schuld, ich allein!«
Und in einem Zuge legte sie ihrem Bruder ihre traurige Beichte ab, nichts verheimlichend, ihr Unrecht beleuchtend und ihre Handlungsweise in ihrer ganzen Unwürdigkeit darstellend.
»Und er,« fuhr sie fort, »so stolz, so selbstlos, so gut selbst in seinem Zorne, denn er hat mich geschont! Mit einem Worte hätte er mich vernichten können; er that es nicht. Und ich sah ihn vergeblich bitten und blieb unempfindlich. Ich verstand sie nicht zu würdigen, die treue aufrichtige Liebe seines Herzens!«
Von Schmerz entstellt und von Leidenschaft flammend, fuhr sie fort:
»Wenn du nicht gesprochen hättest, Unglücklicher, wäre mein Leben auf ewig verloren gewesen! Was wäre aus mir geworden! Und das ist bloß ein Zufall, daß du es mir gesagt! O, sei gesegnet dafür!«
Sie umarmte ihren Bruder mit unaussprechlicher Dankbarkeit, und wie ein zu lange eingedämmter Strom flossen die Worte unaufhaltsam von ihren Lippen.
»Claire, ich bitte dich, beruhige dich,« sagte Octave erschreckt.
»Fürchte nichts, geh'! Nun ist alles gerettet,« fing sie voll Begeisterung wieder an. »Ich werde mein Unrecht wieder gut machen und dein Glück sichern. Philipp! Ach ich werde mich vor ihm auf die Kniee werfen. Alles soll mir leicht sein, um mein Ziel zu erreichen. Noch heute benahm ich mich ihm gegenüber höchst ungeschickt. Aber ich war nicht Herrin meiner selbst: siehst du, ich liebe ihn so sehr!«
Eine Wolke überflog ihre Stirn. Der beunruhigende Gedanke an die Herzogin kam ihr in den Sinn. Sie zog die Augenbrauen zusammen und sagte tonlos:
»O, jetzt soll mir ihn niemand mehr entreißen! Er muß zu mir zurückkehren oder ich werde sterben!«
»Claire!« rief der Marquis.
Aber Claire war mit außerordentlicher Lebendigkeit von der Traurigkeit zur Freude übergegangen, und mit wieder erheitertem Gesicht sagte sie:
»Sei ruhig. Morgen ist mein Namenstag . . . Alle unsere Freunde und viele Gäste sind geladen . . . Ich will schön sein und ihm gefallen. Ich werde siegen, dessen bin ich gewiß. Und ich werde ihn wieder an meiner Seite sehen, vertrauensvoll und zärtlich . . .«
Die Spannung ihrer Nerven, die allein sie bis nun aufrecht gehalten, ließ plötzlich nach; sie wankte und fiel ihrem Bruder in die Arme, der sie zu der Rasenbank trug. Herzzerreißendes Schluchzen hob ihre Brust und eine geraume Zeit hindurch hörte sie, ohne ein Wort zu erwidern, in tiefer Niedergeschlagenheit die zärtlichen Tröstungen ihres Bruders an. Auch nachdem sie ihre Fassung wieder gewonnen hatte, blieb sie an der Seite ihres Bruders ernst und nachdenklich sitzen und blickte in das Thal hinab, das sich grünend vor ihr ausbreitete, von der Avesnes durchschnitten, die gleich einem silbernen Faden die Auen durchzog. Der Park, dessen dichtes Laubwerk von den Spitzdächern des Schlosses überragt wurde, erstreckte sich bis zum Fuße der Hügel. Die hohen Schornsteine des Hüttenwerkes stießen schwere Rauchwolken in die Luft empor und der Turm der alten Kirch stieg in die Höhe, gekrönt von dem Wetterhahn, der, von den schrägen Strahlen der untergehenden Sonne getroffen, weithin erglänzte.
Dieser stille Winkel war es, in dem fortan zu leben Claire träumte. Sie erinnerte sich, daß sie ihn einst von demselben Platze aus mit Verachtung und Zorn betrachtet hatte. Jetzt war er für sie das Paradies, denn hier lebte Philipp.