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Valançon arbeitete in seinem Atelier am Beiwerk des prachtvollen Porträts einer Miß Craushaw aus Philadelphia, das er in Auftrag hatte. Der Tag ging zur Neige, das tiefe Blau des Himmels begann grünlich zu schimmern, während die Sonne feuerrot, wie eine glühende Kugel in der Richtung der Lerinischen Inseln ins Meer hinabstieg. Géraldine trat ein, besah sich das Bild, machte eine kleine Ausstellung, die der Künstler berechtigt fand, und ließ sich dann ihrem Mann gegenüber auf ein kleines Stühlchen nieder.
»Ich bin so verblüfft, als man nur sein kann. Den ganzen Tag geht mir im Kopf herum, was du mir heute früh gesagt hast, und ich komme zu keinem Entschluß. Wie denkst du denn selbst darüber?«
»Ach, Kindchen, das ist eine heillos stachelige Geschichte! Die Mitteilungen, die man mir über diesen Grafen Czethiani gemacht hat, können ja möglicherweise unrichtig sein, und dann hätte man sich eine böse Geschichte auf den Hals geladen. Mich geht's auch schließlich gar nichts an, ob dieser Ungar, der in Wirklichkeit keiner sein soll, ein Grieche ist oder sonst etwas! Er betrüge die Dummköpfe, die gegen ihn spielen, sagt man. Wer heißt sie denn spielen? Der Vicomte von Preigne ist einer davon . . . für den habe ich nun am allerwenigsten Teilnahme. Wenn wir nicht annehmen müßten, daß er Frau Trélauriers Geld verspielt, so würde ich's ihm nur gönnen, wenn er sich zu Grunde richtet.«
»Wenn sich's nur um ihr Geld handelte, würde mir selbst das keinen Kummer bereiten,« fiel Géraldine ein – »Aber da ist ja auch eine Frau im Spiel, diese Italienerin, mit der er seit einer Woche den ganzen Tag zusammensteckt. Das ist das Schlimme. Was für eine Canaille der Kerl doch ist!«
»Stimmt.«
»Valançon, deine kleinen Pinselstriche auf dem Kleid dieser Amerikanerin gehen mir auf die Nerven. Willst du nicht so gut sein, die Palette beiseite zu legen und mich anzusehen? Nur wenn ich deine Augen sehe, weiß ich, was du wirklich denkst! Was würdest du an meiner Stelle tun?«
»Das weiß ich nicht,«
»Mein Gott, du bist unausstehlich! Irgend etwas muß ich doch tun!«
»Ich sehe nicht recht ein, weshalb.«
»Du meinst, ich solle den Dingen ihren Lauf lassen? Aber dann wird entsetzliches Unglück geschehen!«
»Was für ein Unglück?«
Valançon legte die Palette endlich weg, wandte sich Géraldine zu, steckte sich eine Zigarette an und hüllte sich in Rauchwolken.
»Was für ein Unglück?« wiederholte die junge Frau. »Ja, wenn Annina erfährt, daß Preigne sie hintergeht, gemein hintergeht . . .«
»Hintergehen ist immer gemein.«
»Mit der Cortazzi . . .«
»Was weißt du denn davon? Du warst ja nicht dabei.«
»Ach, wie dumm du dich heute stellst! Du glaubst, daß die Person mit ihren vierzig Jahren diesen hübschen Burschen an sich lockt, um die musikalischen Umwälzungen in der italienischen Gesangschule zu erörtern? Hm, glaubst du wirklich?«
»Ich wünsche aus Herzensgrund, daß dieser junge Laffe, der sich vor einem Jahr über Vernaut und mich lustig machte, indem er uns sein Wort gab, daß Frau Trélaurier, mit der er noch am nämlichen Abend durchging, nicht seine Geliebte sei, von der Person genasführt und mit allen ihm gebührenden Ehrenbezeigungen an die Luft gesetzt werde!«
»Ja, du Unglücklicher, wie denkst du dir denn Anninas Gefühle dabei? Anninas, unsrer Freundin, Trélauriers Frau?«
»In der Lage, worin sie sich befindet, könnte ihr gar nichts Besseres widerfahren!«
»Und wenn sie sich das Leben nimmt?«
»Daran wirst du sie verhindern,«
»Und wenn mir das nicht gelingt?«
»Nun, dann werden wir sie beweinen,« versetzte Valançon gelassen. »Das wird immer noch besser sein, als sie verachten, sie schließlich als eine Gefallene meiden zu müssen. Versteh mich recht, Géraldine, wenn Frau Trélaurier jetzt mit dem Vicomte bricht und ins rechte Geleise zurückkehrt, so kann sie noch gerettet, kann ihr Ruf wiederhergestellt werden. Wühlt sie sich aber noch weiter hinein in den Schlamm, der mir dieses Galgenvogels eigentliches Element zu sein scheint, so ist sie endgültig verloren, und Trélaurier mit ihr, denn ich kenne Felix, er wird sich nie darüber trösten! Das größte Glück, das Annina widerfahren könnte, wäre, daß sie zur Einsicht käme, nicht nur über die Verschuldungen des schönen André ihr gegenüber, sondern auch über ehrlose Handlungen, die er im Punkt des Geldes begeht . . . Es steht nämlich nicht nur der Fall Cortazzi auf der Tagesordnung, sondern noch andres, wovon ich dir bis jetzt nichts gesagt habe,«
»Warum nicht? Worauf wartest du?«
»Auf sichere Beweise für das, was man mir bisher nur angedeutet hat . . . Die Sache ist die: vor zehn Tagen hat der Vicomte, wie du weißt, dem Grafen Czethiani eine bedeutende Summe abgewonnen, die er am Tag darauf wieder an ihn verlor, samt bei der Klubkasse entlehnten sechzigtausend Franken. Die mußten in der vorschriftsmäßigen Frist heimbezahlt werden, da gab's kein Fackeln. Herr von Preigne stellte sich denn auch beim Bankhaus Seyton ein und erhob hunderttausend Franken auf einen von Frau Trélaurier unterzeichneten Scheck auf Barante in Florenz. Der Bankier Seyton, den ich täglich bei den Craushaws treffe, ein tadelloser Ehrenmann, zahlte sie aus, ohne die leiseste Schwierigkeit zu machen; da es ihm indessen sonderbar vorkam, daß Herr von Preigne an seine Kasse kam, um einen Scheck der Frau Trélaurier zu erheben, bat er, ihm Entlastung zu geben. Der Vicomte schien davon nicht angenehm berührt zu sein, unterschrieb aber, was ihm vorgelegt wurde, und ging mit seinen hunderttausend Franken davon. Als sich nun Seyton die Unterschrift des schönen André genauer ansah, fiel ihm namentlich in den großen Buchstaben die Ähnlichkeit mit Frau Trélauriers Unterschrift auf dem Scheck auf. Er beachtete den Umstand indes zuerst nicht weiter. Als aber der Vicomte, der in dieser Nacht abermals unglücklich gegen den Ungarn gespielt hatte, andern Tags wieder an der Kasse erschien und einen Scheck von Frau Trélaurier über hundertfünfzigtausend Franken einkassieren wollte, wurde Seyton stutzig und erklärte, daß er vorziehen würde, die Summe an Frau Trélaurier persönlich auszubezahlen. Bei diesem Wort erblaßte der Vicomte, warf sich aber in die Brust und nahm dem Bankier gegenüber eine so drohende Haltung an, daß dieser, der ja schließlich keine Berechtigung hatte, solches Mißtrauen zu zeigen, auch den zweiten Scheck ausbezahlen ließ. Um aber sein Gewissen zu beruhigen, schickte er beide Schecks an das Haus Barante in Florenz, mit der Anfrage, ob er unter diesen Umständen fortfahren solle, auch weitere Schecks zu honorieren. Zu seiner großen Bestürzung erhielt er vor drei Tagen ein Telegramm des Inhalts: ›Unterschrift gefälscht. Nicht mehr zahlen. Berichten nach Paris . . .‹«
Valançon hielt inne und sah seine Frau an, um den Eindruck seiner Worte zu genießen. Géraldine schlug bestürzt die Hände zusammen, blinzelte, als ob sie aus einem Traum erwache, und rief dann mit ihrem gewohnten Ungestüm: »Der Schurke! Bestiehlt seine Geliebte, um spielen zu können, und betrügt sie mit der Sängerin, um sich zu betäuben!«
»Gemach, gemach!« mahnte Valançon. »Du bist zu ungestüm. Laß die Tragödie doch ungestört ihre Entwicklung bis zur Peripetie durchlaufen, denn vor einer Tragödie stehen wir . . .«
»Da bin ich in meinem Element! Und du Heimlichtuer wußtest solch haarsträubende Dinge und hast mir nichts davon gesagt! Vorwärts, laß mich nicht verschmachten . . . ich ahne unerhörte Greuel!«
»Du wirst die Wahrheit nicht erraten. Sie ist einfach, aber fürchterlich. Bühne und Roman geben nur blasse Schatten der Wirklichkeit, sie selbst aber ist ganz anders, roh und offen, macht keine Zugeständnisse an den Geschmack des Publikums! Weißt du, was dieser Lumpenkerl von Vicomte tat, nachdem ihm die Geldquelle verschüttet war? Statt gegen den Ungarn zu spielen, der immer gewinnt, hat er sich mit ihm verbündet, und sie halten jetzt auf gemeinsame Rechnung Bank.«
»Und er weiß, daß es ein Gauner ist?«
»Die einfache Tatsache dieser Teilhaberschaft ist der beste Beweis dafür! Ein leichtsinniger junger Mensch, der auf Kosten einer Frau gelebt hat – Vernaut hat uns ja darüber gründlich aufgeklärt –, fängt auch noch an, ihre Unterschrift zu fälschen. Kannst du von dem auch nur einen Augenblick annehmen, daß er sich mit einem Falschspieler großen Stils zusammentäte, ohne zu wissen, wie es mit dessen Spielmethode steht? Geh mir doch. Damit sind wir am Höhepunkt angelangt. Als du mich vorhin fragtest, was ich an deiner Stelle täte, habe ich dir zur Antwort gegeben, ich wisse es nicht, und ich weiß es auch ehrlich gesagt nicht. Man kann die Sache verschieden auffassen, und in der Wahl der richtigen Lesart liegt die Schwierigkeit.«
»Aber bist du auch ganz sicher, daß dieser Graf Czethiani ein Gauner ist?«
»Ach, du gehörst noch zu den harmlosen Seelen, denen ein Titel Eindruck macht, ich aber sage dir, je mehr Graf, je mehr Ungar er ist, je mehr Orden er im Knopfloch hat, desto mehr Grund zur Vorsicht! Du wirst sehen, daß er bei der Abwicklung der Affäre aus Marseille stammen, Marius heißen und sich statt der Orden eines Aktenfaszikels mit siebzehn Verurteilungen zu rühmen haben wird. Mit diesen ungarischen Grafen nimmt es immer ein solches Ende!«
»Aber wer hat seine Kniffe beobachtet und Alarm geblasen?«
»Damit kommen wir ins Possenhafte, das in keiner guten Tragödie fehlen darf, soll sie anders wirkungsvoll sein. Seit zwei Jahren heftet sich ein alter Spießbürger, dem er, ich weiß nicht was, zuleide getan hat, und der ihm Rache geschworen, an des Vicomtes Fersen. Wo der schöne André auch auftaucht, tritt der kleine Alte nach einiger Zeit auch auf den Plan, und unsre Blüte der Eleganz stößt überall auf diesen jämmerlichen Philister, der nicht aufhört, seine Fährte zu verfolgen, ihm nachzuspüren, ihn zu bewachen, nach ihm zu fragen, um verdrießliche Einzelheiten über ihn zu sammeln, Ungünstiges über ihn erzählen oder wenigstens andeuten zu können. Mit wahrer Leidenschaft schädigt er ihn, mit Liebe schwärzt er ihn an. Ich weiß von Vernaut, daß jener es war, der Trélaurier gewarnt hat, in der Hoffnung, dieser würde den schönen André niederschießen. Jetzt hat er, ich weiß nicht auf welche Weise, den Kommissär benachrichtigt, den die Pariser Polizei kürzlich nach Nizza geschickt hat, um einigen kleinen Unregelmäßigkeiten nachzuforschen, die im Kurhaus einer Rivierastadt vorgekommen sein sollen. Er hat erreicht, daß dieser sehr findige Polizist einen Abend im Rivieraklub zubrachte, um das Spiel des Grafen Czethiani zu beobachten, kurz die Sache ist zweifellos, und wenn der Graf ins Garn geht, wird der Vicomte mitgefangen.«
»Aber wie kann man den Betrug überhaupt herausbringen?«
»Nimm einmal an, daß der vornehme Fremdling, wie es wahrscheinlich ist, ganz ruhig ein paar Serien Karten in die Taille einschmuggelt, so braucht man ja, da die Zahl der Karten bekannt ist, nur die auf dem Tisch liegenden zu zählen, um zu wissen, wie viele hinzugefügt wurden.«
»Und der Vicomte weiß das? Er ist im Einverständnis mit dem Gauner?«
»Daß er's weiß, ist mehr als wahrscheinlich, denn er bleibt ja nach wie vor sein Verbündeter. An ein Einverständnis, das heißt, daß der eine zum andern gesagt hätte: ›Ich betrüge. Wollen Sie mir dabei helfen?‹ glaube ich nicht. Die beiden Spießgesellen werden sich wohl stillschweigend verständigt haben. Wahrscheinlich hat der Ungar gemerkt, daß der Vicomte seinen Kniff durchschaute und ihn sich zu nutze machen wollte, und um sich vor unliebsamen Zwischenfällen zu bewahren, ergab er sich in die Teilung. Mit einem Augenzwinkern haben sich die beiden Schurken als feine Männer von Welt dahin verständigt, ihre Kameraden gemeinsam zu plündern, und, der kleine Alte, der ihren Kniff entdeckte, hat in aller Stille die Verwaltung des Klubs benachrichtigt. Diese hat sich entschlossen einzugreifen, wenn auch nur sehr ungern. Ein derartiger Skandal kühlt die Spieler ab und macht, daß der Besuch für dieses Jahr flau wird, aber es muß etwas geschehen, damit der Klub selbst nicht in ein schiefes Licht kommt.«
Valançon steckte sich eine frische Zigarette an, indes Géraldine ihren Gedanken nachhing.
»Einerlei!« rief sie nach einer Weile. »Dein Vicomte von Preigne ist ein sauberer Patron, und Annina muß ihm aus den Klauen gerissen werden, koste es, was es wolle! Ich gehe ans Werk!«
»Aber behutsam, wenn ich bitten darf! Du setzt viel aufs Spiel, Frau Trélaurier wird nicht leicht zu überzeugen sein. Das erste, was sie tun wird, ist sicher das, daß sie den Vicomte warnt und ihn damit gegen die Gefahr wappnet. Man wird dann die Möglichkeit verlieren, ihn zu überführen, und er wird über Verleumdung zetern. Annina desgleichen, denn sie wird sich ohne Zweifel auf seine und nicht auf unsre Seite stellen.«
»Aber ich kann doch die unglückselige Frau nicht in diesem Sumpf von Gemeinheit versinken lassen und die Hände in den Schoß legen, statt ihr herauszuhelfen!«
»Es wäre besser, Preigne Zeit zu lassen, sich bloßzustellen. Ist er einmal überführt, so kann man nicht mehr sagen: ›Ich glaube es nicht‹, denn man hat dann Tatsachen!«
»Ach Gott, du machst mich ganz wirr! Was soll ich glauben, wozu mich entschließen?«
Als ob der Zufall die Antwort auf diese Frage übernommen hätte, fuhr in diesem Augenblick mit großem Getöse ein Automobil am Gartentor vor und Frau von Préjean stieg aus in Begleitung von Saint-Yrieix, der als Samojede verkleidet zu sein schien und dessen Gesicht durch eine mit Stoff umkleidete Brille fast ganz verdeckt war, so daß er an die »Eiserne Maske« erinnern konnte.
»Sieh mal!« rief Valançon. »Du weißt dir nicht zu helfen, und da sind Freunde von Frau Trélaurier, die dir raten können. Du hast ja Zutrauen zu Frau von Préjean, die auch eine gute Frau ist, wenn sie sich einmal entschließt, stillzusitzen. Tristan ist obendrein Anninas Vetter. Besprich also die Sache mit ihnen und handelt gemeinsam. Es ist jedenfalls besser, nur den dritten Teil der Verantwortlichkeit zu haben, für die Dummheiten, die etwa gemacht werden.«
»Gehen wir hinunter!«
Als sie die Gäste im Erdgeschoß begrüßten, hatte Tristan seine Ausrüstung abgelegt und wieder Menschenähnlichkeit gewonnen.
»Meine Liebe!« rief Frau von Préjean, Géraldine die Hand drückend, »wir kommen von Turin über den Col di Tenda! Eine ganz außerordentliche Bergfahrt! Vierzig Kilometer in der Stunde, und zwar auf Straßen . . .«
Sie brach plötzlich ab und sah Frau Valançon aufmerksam an, dann fragte sie in verändertem Ton: »Was geht denn vor sich? Sie sehen ja ganz verstört aus! Ist Ihnen etwas Unangenehmes zugestoßen?«
»Mir persönlich nicht . . .«
»Wem denn?«
»Es handelt sich um Annina . . .«
»Preigne hat sie verlassen?« rief die junge Frau aufgeregt.
»Wollte Gott, er täte es! Wenn's nur das wäre . . .«
»Sagen Sie mir alles! Tristan, setzen Sie sich! Wenn Sie sich vor mir aufpflanzen wie ein Fragezeichen, werde ich nervös! O Gott, die arme Annina!«
Valançon gab seiner Frau einen Wink, sich mit ihren Eröffnungen noch ein wenig zu gedulden.
»Verabreden wir zuerst, daß Sie bei uns zu Tisch bleiben! Wir müssen etwa zu treffende Maßregeln mit Muße durchsprechen und gemeinsam handeln . . .«
»Abgemacht!« sagte Tristan. »Ich will das Auto ins Hotel schicken, dann stehen wir ganz zu Ihrer Verfügung . . .«
»Und heute abend ist doch Ihr Fest im Kasino?« fragte Frau von Préjean. »Wir sind eigens deshalb zurückgekommen! Es wird wunderschön werden und ich habe einen entzückenden Domino . . .«
Als Saint-Yrieix zurückkam, setzte man sich, und Valaçon begann, den Freunden die Sachlage zu erklären.
Im »Englischen Haus« hatte das Liebespaar unter vier Augen gespeist. Jetzt war der Vicomte in sein Ankleidezimmer gegangen, um Geld und Handschuhe zu sich zu stecken. Frau Trélaurier hatte es ihm abgeschlagen, ihn zum Fest zu begleiten, weshalb er eine gekränkte Miene zur Schau trug. Im Grund war ihm die Weigerung nicht so schmerzlich, denn sie ließ ihm Ellbogenfreiheit. Er hatte versprochen, Lady Brandon in der Villa Carabacel abzuholen und mit ihr hinzufahren. Lord Brandon hatte zwei Proszeniumslogen genommen, die Zwischenwand entfernen und durch seinen Gärtner den erweiterten Raum mit herrlichen Kamelien schmücken lassen. Alle Hausfreunde der Villa sollten sich im Theater treffen. Vignot war noch über diesen Tag in Nizza geblieben, und die Cortazzi, die feuriger, ausdrucksvoller und großartiger als je war, seit sie ihren Maestro über Andrés schönen Augen vergessen hatte, erwärmte alle durch ihre verliebte Glut. Mit entblößten Schultern wandelte sie durch die mondbeschienenen Gärten, den Marmor der Statuen an leuchtendem Weiß beschämend, und mit den Nachtigallen im Gebüsch um die Wette trillernd und tirilierend. Sie war von einer leidenschaftlichen Glut verzehrt, die aus ihrem ganzen Wesen hervorbrach, aus dem Blitzen der Augen, dem Klang der Stimme, dem Stolz der Haltung. Lady Brandon, die sich an diesem herrlichen Aufblühen der heißblütigen Künstlerin erfreute, begünstigte, so viel sie konnte, Preignes Begegnungen mit der Cortazzi. Als Vignot ihr lachend zum Vorwurf machte, daß sie eine gefügige Beschützerin des Leichtsinns sei, hatte sie ihm entgegnet: »Ach, mein lieber Meister, sehen Sie, die Kunst läutert ja alles! Die Hauptsache im Leben ist nicht, die Moral zu bewachen, sondern Schönheit hervorzubringen! Kann ein Abend wie der gestrige, wo Helena so wunderbar gesungen hat, überhaupt zu teuer bezahlt werden? Was schadet es uns, daß sie die ganze Herrlichkeit ihres Talents nur für diesen jungen Blondkopf entfaltete? Uns hat sie hingerissen, und das ist das Wesentliche! Mag sie ihn, wenn das Klavier geschlossen ist, in ihrem Wagen entführen und mit ihm zu Nacht speisen, wenn sie Lust hat, mich kümmert das sehr wenig!«
»Sie sind eine Kupplerin des Erhabenen!« warf der Komponist lachend hin.
»Wenn Sie wollen, ja, aber Lord Brandon weiß mir Dank dafür. Er war glücklich.«
»Und ich auch.«
Der Vicomte hatte trotz seines ersten abfälligen Urteils über die Sängerin nicht unberührt bleiben können vom Reiz dieser feurigen Natur, die so ganz anders war als Annina, und die sich in ehrlichen aber etwas auffälligen Gefühlsäußerungen ergoß. Die Cortazzi gehörte nicht zu den Frauen, die ein stilles, heimliches Glück genießen können, sie brauchte prunkhafte Inszenierung, hellsten Lichtglanz, um ihre Vorliebe kundzugeben; es genügte ihr nicht, einen Mann anzubeten, die Welt mußte auch darum wissen. André mit seiner kühlen, schneidenden Klarheit hatte dem Überschwang der Venezianerin eine vernichtende Höflichkeit entgegengesetzt, und diese, die sich verschmäht glaubte, war darüber fast wahnsinnig geworden und hatte mit tragischer Heftigkeit vom Sterben gesprochen.
»Sappho letzter Akt. Ein Vorgebirge und eine unsterbliche Leier!« hatte der Vicomte gespottet. »Sie können etwas Gescheiteres tun, als sich in das bittere Meer zu stürzen! Nehmen Sie gütigst nicht Himmel und Erde zu Zeugen ihrer Gefühle, dann wird man Ihre Verzweiflung vielleicht lindern können. Nur keine Deklamation, keine Attitüden, keinen Lärm, oder ich reise nach Paris ab, denn alles, was dem guten Ton widerspricht, ist mir in der Seele zuwider!«
»Du bist ein Kieselherz!« hatte Helena geseufzt. »Weshalb bist du so schön, wenn du so unbarmherzig bist?«
»Mein Gott,« hatte der Vicomte leichten Tons erwidert, »solche Sachen singt man, aber man sagt sie nicht! Opernlyrik – es gibt nichts Langweiligeres.«
Ihm zu Gefallen hatte die Cortazzi ihre Liebeswut gedämpft, ihren Blick verschleiert und vor allem hatte sie gesungen. Ach, wenn sie sang, konnte sie wohl Herzen bewegen! Sogar André, der kühle, spöttische Pariser, war ergriffen, wenn Helena, von Vignot begleitet, das zauberische Metall ihrer wunderbaren Stimme ertönen ließ. Dann verging ihm der Spott über ihre pathetischen Reden, das Ungestüm ihrer Liebesäußerungen; die Kunst lieh der Sängerin Laute, die ihm das Herz umkehrten, und ihre dadurch verklärte Schönheit war unwiderstehlich. Wenn André anfangs der Cortazzi seine Gunst geschenkt hatte, weil er sich einbildete, sie bringe ihm Glück im Spiel, so blieb seine Neigung trotz anhaltender Spielverluste unverändert, weil er sich dem Eindruck ihres herrlichen Talents nicht zu entziehen vermochte.
Dabei gärte im geheimsten Grund seines Wesens ein dumpfer Groll gegen Annina, deren zu keinem Zugeständnis bereite Liebe ihn für den Fall der Untreue so stolz mit völligem Bruch bedroht hatte. Andrés angeborener Widerspruchsgeist war durch die ihm angedrohte Strafe für eine etwaige Übeltat wachgerufen worden, und dann war der Gegensatz zwischen der schlichten, ernsthaften, schwermütigen Annina und dieser phantastischen, überschwenglichen, sittenlosen Cortazzi so groß, daß er den unbeschäftigten Mann um seiner selbst willen ergötzte. Wenn man ihn vor die Wahl zwischen Helena und Annina gestellt hätte, würde er die Sängerin mit Abscheu von sich gestoßen haben, was ihn aber durchaus nicht hinderte, die Frau, die er wirklich liebte, zu hintergehen mit einer Person, über die er sich lustig machte, sobald er nicht unter dem Zauberbann ihrer Künstlerschaft stand.
Als es zehn Uhr schlug, fuhr der von André bestellte Wagen am Haus vor. Annina hörte es mit einem Seufzer, nicht weil sie bereut hätte, dem Fest fernzubleiben, sondern aus Schmerz, daß er hinging. Sie konnte sich nicht verhehlen, daß er sie in letzter Zeit mehr als sonst vernachlässigt hatte. Zu stolz zu einer Klage, ließ sie ihm volle Freiheit, nach seinem Belieben zu gehen und zu kommen, aber sie stellte mit Betrübnis fest, daß Andrés Zärtlichkeit zwar dieselbe geblieben war, seine Aufmerksamkeiten aber bedeutend nachgelassen hatten.
Lächelnd trat er in glänzendem Gesellschaftsanzug, eine Orchidee im Knopfloch, in ihr Zimmer; er schien in solcher Festesstimmung zu sein, daß die junge Frau sich Vorwürfe gemacht hätte, seine Laune zu trüben. Er kam auf sie zu, nahm ihre Hand und liebkoste sie sanft mit dem feinen duftenden Schnurrbart.
»Sag einmal, Annina, ist dein Entschluß ganz unwiderruflich? Keine Reue? Nichts leichter, als dich jetzt noch anders zu besinnen! Der Domino, den ich dir besorgt habe, liegt in deinem Ankleidezimmer, du brauchst nur hineinzuschlüpfen und mitzufahren . . .«
»Ach, ich wäre dir ja nur im Wege!« versetzte sie mit einem klugen Blick.
»Mir? Was fällt dir nur ein?« widersprach André lebhaft, obwohl er errötet war. »Kommst du nicht mit, so gehe ich in Lady Brandons Proszeniumsloge, kommst du mit, so führe ich dich in die des Klubs, und unter der Maske bist du ja völlig sicher. Außerdem würde ich, wenn dir das lieber wäre, all den Herren die Türe weisen, die Loge für mich allein behaupten. Ist's abgemacht? Kommst du mit?«
»Nein! Ich bin schon am Einschlafen, ich glaube, daß ich's gar nicht mehr fertig brächte, eine Nacht zu durchschwärmen . . . ich wäre eine schlechte Gesellschaft für dich. Du würdest dich nur langweilen . . . Geh du nur mit deinen Freunden . . .«
»Ach, Annina! Auf diese Weise zwingst du mich ja dazubleiben!«
»Das will ich um keinen Preis. Dringe nicht weiter in mich, du siehst doch, daß ich nicht für derartiges tauge. Unterhalte dich gut und sei vernünftig!«
»Ach, Liebste, ich bin ja in einem Kreis alter Damen! Eine Generation, die noch vom Kaiserreich spricht und sich heimlich nach der Krinoline zurücksehnt!«
»Mache keinen Versuch, mich zu beruhigen! Wenn ich an dir zweifelte, würde das, was du mir erzählst, mein Vertrauen nicht stärken.«
Sie lachten jetzt beide. André setzte sich neben die junge Frau und drückte sie, von seinem Gewissen gemahnt, mit solch glühender Leidenschaft an sich, daß Anninas Augen flammten. Ihre Lippen berührten sich, aber nach einem kurzen Augenblick machte sie sich frei und sagte in verändertem Ton: »Es ist Zeit! Mach, daß du fortkommst . . .«
Er wollte sie wieder umschlingen, aber sie drängte ihn sanft zurück, richtete den Knoten seiner weißen Krawatte auf, rückte mit leichter Hand die Blume in seinem Knopfloch zurecht und sagte, ihn am Arm nehmend, schelmisch und mütterlich: »Ich werde dich in den Wagen setzen.«
Sie traten in den Garten hinaus. Die Nacht war lau, voll milden Lichts, das vom sternbesäten Himmel ausstrahlte. Starker Erdgeruch stieg vom Boden auf und die Blumen dufteten, von der Abendkühle erfrischt, fast betäubend. Über das regungslose Meer goß der Mond seine blasse Klarheit, eine friedliche Heiterkeit umhüllte alle Dinge. Annina und André, die aneinandergeschmiegt durch die bläuliche Szenerie des geheimnisvollen Gartens schritten, verlangsamten unwillkürlich den Schritt, um den wonnigen Augenblick auszukosten. Der Kutscher, der sie kommen sah, sprang vom Bock und riß mit echt italienischer Dienstbeflissenheit den Schlag auf. Annina zog ihren Arm aus dem des Geliebten und bot ihm am Gartentörchen lächelnd die Stirn zum Kuß.
»Denke doch auch ein wenig an mich . . .«
Er küßte sie und sprang in den Wagen. Der Kutscher trieb die Pferde an und Annina sah nur noch den zitternden Schein der Laternen auf der dunkeln Straße. Mit einem Seufzer wandte sie sich langsam zum Haus zurück, setzte sich an den Platz, den sie vorhin verlassen hatte und versank in Träumerei. Um sie her war tiefste Stille; die Dienstboten hatten sich in die unten gelegene Küche zurückgezogen. Annina konnte sich allein glauben in dem Häuschen, das so klein und doch für ihre Einsamkeit so groß war.
Wie lang sie wohl so gesessen haben mochte? Sie hatte alle Schätzung der Zeit verloren, als das Rollen eines Wagens sie aus ihrem Sinnen riß. Sie sah den Wagen am Garten halten und hatte die Idee, André komme zurück. Erstaunt und ein wenig beunruhigt schickte sie sich an, hinunterzugehen, als sie in dem zum Haus führenden Laubgang zwei Frauengestalten unterschied und eine Stimme, an der sie Frau von Préjean erkannte, von weitem rief: »Bleiben Sie, wo Sie sind, Annina, wir kommen!«
Jetzt wirklich beängstigt, blieb Annina im Rahmen der Türe stehen, oben an den Stufen, die vom Zimmer zum Garten herabführten. Der Umriß ihrer Gestalt hob sich dunkel ab von dem Lichtschein, der aus dem Zimmer drang, und der Mond fiel hell auf ihr schönes Gesicht, das in seinem Glanz sehr blaß erschien.
»Wer kommt denn mit Ihnen?« fragte sie besorgt.
»Ich bin's, Géraldine!«
»Ja, was ist denn nur?«
»Warten Sie! Wir sind gleich da.«
Sie hatten die Terrasse erreicht, stiegen langsam die Stufen herauf und traten bei Annina ein. Beide Frauen sahen so ernst aus, daß Annina bei einem Blick in ihre Gesichter ein Frösteln überlief. Das Vorgefühl eines großen Unglücks bemächtigte sich ihrer, und voll Ungeduld, alles zu erfahren, blieb sie vor den Freundinnen stehen, ohne ihnen auch nur einen Sitz anzubieten. Als ob diese an Höflichkeit und Schicklichkeit gedacht hätten!
»Wir sahen Preigne wegfahren,« begann Frau von Préjean rasch, »wir hatten nämlich an der Straßenkehre seinen Wagen abgewartet, denn wir wollten ihn nicht treffen. Er ist so gewitzt, daß er sofort Verdacht geschöpft hätte, und dann wäre alles verloren.«
»Alles? Ja was denn?« stammelte Annina von furchtbarem Argwohn erfaßt.
Frau von Préjean ergriff ihre beiden Handgelenke und sah ihr tief in die Augen, als ob sie ihr die Überzeugung von ihrer ehrlichen Freundschaft förmlich aufdrängen wolle.
»Annina, Sie wissen, daß ich Sie liebhabe, daß ich nicht fähig wäre, Ihnen zwecklos wehzutun, und daß, wenn ich Ihnen großen Schmerz bereite, es nur geschieht, weil ich für Sie Großes davon hoffe . . .«
Frau Trélaurier war außer stande, mehr zu ertragen. Sie wurde leichenblaß, ihre schönen Augen sanken ein, daß sie ganz schwarz erschienen, und ihre Lippen zitterten wie bei einem Fieberkranken.
»O mit einem Schlag!« rief sie. »Tötet mich mit einem Schlag, gebt mir das Gift nicht tropfenweise. André ist mir untreu? Er verläßt mich? Ich bin verloren, nicht wahr?«
Ihre Finger kämpften sich unter Frau von Préjeans Händen zusammen, daß sie knackten. Sie wartete nicht mehr auf Antwort, sie hatte sie auf den verstörten Gesichtern der Freundinnen schon gelesen. Mit einem Schmerzenslaut, aber immer noch ihrer selbst mächtig und stark genug, selbst die Verzweiflung zu bekämpfen, rief sie: »Sagt mir, was ich tun muß, um ihn meiner Nebenbuhlerin zu entreißen, ihn wieder zu gewinnen, ihn mir zu retten!«
Géraldine hatte den Mut, ihr darauf zu entgegnen: »Setzen Sie sich nicht zur Wehr, Annina! Geben Sie den Widerstand auf! Der, den Sie zurückerobern möchten, ist es nicht wert, daß Sie Anstrengungen machen, ihn neu zu fesseln. Trotz all Ihres Jammers wird es ein großes Glück für Sie sein, beizeiten von ihm befreit zu werden und nicht die entsetzliche Qual durchmachen zu müssen, den Mann, den Sie geliebt haben, zu Grund gehen zu sehen.«
»Aber was hat er denn begangen? Kann ich's ihm nicht verzeihen?«
»Wenn Sie schwach genug wären, Nachsicht zu üben, Annina,« erklärte Frau von Préjean, »so werden andre umso unerbittlicher sein . . . Sie fragen, was er begangen hat? Ach, es sind der Fehler gar viele und sehr ernste gegen Sie, aber noch hundertfach schwerere gegen sich selbst!«
Von allem, was an Anninas Ohr drang, nahm sie nur das eine in sich auf: André hatte sich gegen sie vergangen, das allein beschäftigte sie. Unrecht gegen andre? Was lag ihr daran? Sollte sie sich um andre kümmern, wenn ihr Glück, ihre Sicherheit, ihr Leben auf dem Spiel standen! Vor allem wollte sie Klarheit haben über das, was sie persönlich betraf. Nachher kam das übrige, und wenn André einen Mord begangen haben würde, so mußte es leicht sein, ihn davon freizusprechen, wenn er nur ihr gegenüber ohne Schuld war. Unsühnbar konnte nichts sein, als der Verrat, alles ließ sich rechtfertigen, nur nicht die Liebesschuld. Sie setzte sich auf einen Diwan, zog die beiden Frauen neben sich nieder und sagte, beider Hände mit aller Glut ihrer Herzensangst pressend: »Ihr sagt, er betrüge mich; jetzt gilt es, euch darüber zu erklären! Wenn er das tut, nach all seinen Gelöbnissen, seinen Verpflichtungen, meinen Opfern, so ist er ein Elender! Aber ihr müßt mir ohne Schonung alles mitteilen, damit ich auf Grund genauer Kenntnis der Tatsachen urteile. Ich erwarte von eurer Freundschaft rückhaltslose Aufrichtigkeit. Euer Kommen beweist ja, daß ihr entschlossen seid, alles zu sagen. Also, bitte, klärt mich auf! Ich höre. Die Frau, welche Frau?«
»Die Cortazzi,« versetzte Géraldine.
»Eine Sängerin! Ja, von der hat er mir in den letzten acht Tagen mehrmals gesprochen! Was für eine Person ist es denn? Er machte sich lustig über sie, zog sie immer ins Lächerliche . . . ohne Zweifel, um mich irrezuführen! Ihr seht, ich zweifle nicht an dem, was ihr mir sagt . . . Ihr klagt diese Cortazzi an, und ich bestreite nicht, daß das Verhältnis besteht, denn wenn ihr nicht Beweise hättet für eure Behauptung, so wäre dieses Eingreifen ja unbegreiflich und grausam!«
Sie sprach mit fieberhafter Zungenfertigkeit. Ihr Blick war starr, ihr Gesicht leichenbleich, und sie erschreckte jetzt Frau von Préjean wie Géraldine derart, daß sie es fast bereuten, gekommen zu sein, und sich fragten, ob Vernunft, Gerechtigkeitssinn und Freundschaft ihnen wirklich das Recht gäben, dieses Herz, dessen schmerzliches Zucken sie mitansehen mußten, derart zu quälen.
»Annina, glauben Sie uns, daß wir nur nach langem Zögern zu Ihnen kamen,« versetzte Frau von Préjean. »Wir taten es erst, als wir Gewißheit hatten, daß wir Sie vor dem Greuel eines furchtbaren Skandals bewahren müssen, der, wenn Sie darein verwickelt würden, auch über Ihnen zusammenschlagen würde. Über die Beziehungen der Cortazzi zu Herrn von Preigne besteht kein Zweifel, sie sind in dem Kreis der Lady Brandon, die sie begünstigt, vollständig bekannt . . .«
»Was habe ich dieser Frau zu Leid getan?« fiel ihr Annina ins Wort. »Ich kenne sie ja gar nicht! Weshalb trägt sie dazu bei, mir den Geliebten zu stehlen?«
»Dafür hat Lady Brandon eine Entschuldigung in ihrer ästhetischen Weltanschauung, die das Schöne über das Gute stellt und alles verzeihlich findet, wenn es nur der Kunst zu gute kommt. Sie hat die Cortazzi dem Vicomte in die Arme geworfen, um sie in den Zustand von Liebeswahnsinn zu versetzen, der Offenbarungen ihrer Kunst hervorruft. Diese Cortazzi, die sehr schön war, aber nicht mehr jung ist, ist nur ein Genie, wenn sie singt und verliebt ist . . .«
»Eine alte Person!« rief Annina. »Eine Schnurrantin! Ein Geschöpf, das sich durch Verliebtheit in Stimmung bringt, wie manche andre ihresgleichen durch Alkohol. Um die . . . um das verläßt er mich!«
Sie rang die Hände und zwei Tränen rollten aus den Augen auf den zuckenden Mund. Sie blieb eine Weile regungslos wie zerschmettert, dann begann sie, mühsam Atem holend: »Wo kommen Sie zusammen?«
»Bei der Cortazzi, die am Carabacel in Lady Brandons Nähe wohnt?«
»Wer hat sie gesehen?«
»Wer will, denn sie spielen durchaus nicht Versteckens. Sie sind ja sicher, daß Sie, die entfernt Wohnende und in völliger Abgeschiedenheit Lebende, sie nicht überraschen wird. Wenn Sie aber selbst sehen, sich mit eigenen Augen von der Richtigkeit unsrer Anklagen überzeugen wollen, so brauchen Sie uns nur zu begleiten, wir werden Ihnen das Paar zeigen.«
»Wo?«
»Beim heutigen Fest, wo sie sich vollkommen sicher glauben. Sie legen, wie wir auch, einen Domino an, kommen ins Kasino, wo niemand Ihre Gegenwart ahnt, drängen sich an sie, hören, und, wenn Sie wollen, entlarven Sie beide.«
Annina schien gesenkten Blicks mit finsterer Miene gründlich nachzudenken. Die weißen Zähne gruben sich tief in die Unterlippe. Dann schlug sie die Augen wieder auf und sah die beiden Freundinnen fest an.
»Ja, ich werde hingehen! Ich will mein Schicksal kennen. Es handelt sich für mich um Leben oder Tod. Wenn ich verlassen bin, wenn ich dem Mann nicht mehr vertrauen kann, dem ich Gegenwart, Zukunft, alles gegeben habe, so bleibt mir nichts übrig, als . . . zu verschwinden.«
»Annina!«
»Hatten Sie etwa gedacht, ich würde mich drein ergeben, nach einer Enttäuschung, wie sie mich erwartet, noch weiter zu leben? Für eine Frau in meiner Lage gibt es nur zweierlei Möglichkeiten ihr Leben zu gestalten. Sie muß den Geliebten, der geht, durch einen zweiten ersetzen, der sich ja immer findet, und dann von einer Hand in die andre gehen, bis sie alt wird, schließlich als geschminkte, getünchte Person, die sich an die entfliehende Lust anklammert und das abschreckende Bild eines ruhe- und würdelosen Alters bietet, oder aber sie hat von Anfang an das Grauen vor dieser sichern Erniedrigung und faßt tapfer ihren Entschluß, im Tod Zuflucht zu suchen. Die zweite Möglichkeit ist die unendlich reinlichere und meinem Wesen entsprechendere, denn ich kann mich nicht wohl in die Rolle einer leichtfertigen Frau hineindenken, die mit der Liebe Handel treibt und ihre Küsse verkauft. Das Handwerk muß ja einträglich sein und auch seine Annehmlichkeiten haben, da sich so viele ihm widmen, man darf sich nur nicht leicht ekeln! Und ich, ich glaube, daß ich's nie fertig bringen würde, aus jedermanns Glas zu trinken!«
Sie brach in ein schrilles, unheimliches Gelächter aus, das ihre Nerven erschütterte und in einem Weinkrampf endigte. Minutenlang wurde sie angesichts der bestürzten Freundinnen von furchtbarem krampfhaftem Schluchzen geschüttelt, rang vergeblich nach Selbstbeherrschung, wies, von Schmerz überwältigt, jeden Trost, jeden Zuspruch von sich und weinte fassungslos, als ob es ihre Verzweiflung linderte, diesen Tränen freien Lauf zu lassen, die ihr von Bitterkeit überfülltes Herz ein wenig entlasteten. Endlich trocknete sie ihre Augen und raffte sich mit gewaltsamer Willensanstrengung auf.
»Das ist ja nicht einmal alles. Sie sagten vorhin, daß Herr von Preigne nicht nur gegen mich, daß er auch gegen andre ein Unrecht begangen habe, und daß, wenn ich schwach genug wäre, ihm zu verzeihen, doch diese andern unerbittlich sein würden. Ich habe mich, und das ist ja wohl verzeihlich, zuerst auf das an mir begangene Unrecht gestürzt. Gehen wir jetzt zum andern über . . . worum handelt es sich?«
Géraldine beriet sich mit Frau von Préjean durch Blicke, und begann auf ein Zeichen der Zustimmung hin: »Ach, liebe Annina, so schmerzlich auch die Tatsachen sind, die Ihre Aufmerksamkeit zuerst gefesselt haben, so sind sie doch nur kleine Sünden im Vergleich zu dem, was Herr von Preigne sich außerdem hat zu Schulden kommen lassen. Gewiß ist Untreue verwerflich, besonders wenn sie einer so reizenden, guten Frau wie Sie schweres Herzeleid bereitet, aber was will Untreue sagen im Vergleich zu Verfehlungen wider die Ehre?«
»Wider die Ehre?« wiederholte Annina.
»Ja, Verfehlungen, die unheilvolle Folgen nach sich ziehen werden . . . Muß ich mich deutlicher aussprechen?«
Frau Téslaurier wurde rot, denn sie ahnte die Wahrheit.
»Ach!« rief sie. »Das Spiel! Der Unselige hat sich durch das Spiel zu Torheiten hinreißen lassen?«
»Ja, das Spiel ist's, aber um Torheiten handelt sich's nicht. Was Herr von Preigne des Spiels wegen an Torheiten begehen konnte, hat er längst getan! Ich sagte Ihnen ja schon, daß die Ehre in Frage steht . . .«
»Was hat er getan?«
»Er hat sich verbündet mit einem Ausländer, der durch sein hohes Spiel bald Verdacht erregte, jetzt aber durchschaut ist, allem Anschein nach einem Gauner, der sich geschickt zu verwandeln weiß, heute als Greis, morgen jugendlich auftritt, bald dick, bald mager, bald kahlköpfig, bald behaart ist und die Frechheit so weit treibt, sich zeitweise als Kranker im Fahrstuhl rollen zu lassen. Dieser Bandit, der Schrecken aller Klubs in Badestädten, übt gegenwärtig im Cercle von Nizza sein Handwerk aus. Seit zwei Tagen ist Herr von Preigne sein Partner als Bankhalter, und wenn der angebliche Graf heute abend entlarvt, auf frischer Tat ertappt wird, so ist der Vicomte gleichfalls bloßgestellt.«
»Er! André! Im Spiel betrügen! Das ist ja unmöglich, unsinnig, lächerlich!«
»Er hat noch Schlimmeres getan,« fiel Frau von Préjean mit tiefem Ernst ein, »er hat Sie bestohlen, Ihre Unterschrift gefälscht!«
»Wieso?«
»Er hat Schecks ausgestellt auf Ihren Namen.«
»Wer hat das entdeckt?«
»Der Bankier Seyton schöpfte Verdacht und fragte bei seinem Korrespondenten in Florenz an, worauf dieser den Betrug festgestellt hat.«
Annina war aufgesprungen, und hoch aufgerichtet rief sie mit entfärbten Lippen: »Ich habe ihn dazu ermächtigt! Es geschah mit meiner Zustimmung! Ich werde diese Schecks zurücknehmen und andre ausstellen . . .«
»Arme Annina,« bat Géraldine sanft, »kämpfen Sie nicht gegen Ihr Schicksal! Sie möchten uns überzeugen, daß Herr von Preigne kein Fälscher ist . . . Wozu? Unsre Überzeugung fällt nicht ins Gewicht, vielmehr müßten die verschiedenen Geschäftsleute, durch deren Hände die gefälschten Unterschriften gingen, überzeugt werden . . . Sie haben es mit einem grundschlechten Menschen zu tun, der Sie verrät, ausbeutet, Sie und andre bestiehlt. Wenn Sie auch noch so nachsichtig sein wollten, die geprellten Spieler werden kein Erbarmen kennen. Man lauert heute abend den beiden Spießgesellen auf, um sie zu überraschen. Man hat ihnen eine Falle gestellt, in die sie unfehlbar gehen werden, sie müßten denn gewarnt sein . . . Begreifen Sie?«
»Ja ich begreife,« erwiderte Frau Téslaurier düster, »daß ich über das Schicksal des Mannes, der mich verrät, entscheiden soll . . . Nicht wahr, ihr wolltet sein Leben, seine Ehre in meine Hand legen? Ihr übergebt mir damit das Mittel, mich zu rächen? Wenn ich ihm die Gefahr zeige, die ihm droht, so rette ich ihn, wenn ich ihn dagegen sich selbst überlasse, seiner Torheit, seiner Schlechtigkeit, seiner Verräterei, so ist er verloren! So liegen die Dinge, nicht wahr? Gut, ich nehme an! Ihr habt mir in Aussicht gestellt, daß ich mich mit eigenen Augen überzeugen könne, ob er mir gegenüber schuldig ist oder nicht, so überlasse ich mich eurer Führung. Was habe ich zu tun?«
»Uns zu begleiten. Wir werden uns irgendwie einen Domino für Sie verschaffen . . . die unsrigen liegen im Wagen . . .«
»Ich habe das Nötige,« sagte Annina mit traurigem Lächeln. »Herr von Preigne hatte mich, vielleicht unterm Druck seines Gewissens, vielleicht auch rein aus Spiegelfechterei dringend gebeten, mitzugehen; er selbst hat mir einen Domino besorgt. Ich werde ihn umlegen . . . ich bin im Augenblick wieder da . . .«
Géraldine bat Frau von Préjean durch einen angstvollen Blick, die Freundin nicht allein zu lassen.
»Ich helfe Ihnen, Annina . . .«
Von einer Aufwallung tiefsten Mitleids ergriffen, schlang sie die Arme um die junge Frau und drückte sie an sich.
»Liebe, liebe, gute Annina, wie gern möchte ich all Ihr Leid auf mich nehmen! Es ist so namenlos ungerecht, daß Sie so Schweres erdulden sollen durch den Mann, dem Sie alles geopfert haben.«
»Nein,« sagte Annina, stillstehend und den beiden Frauen fest in die Augen blickend, »ungerecht ist es nicht, sondern vielmehr logisch, natürlich, notwendig. Als mich mein Mann mit Tränen anflehte, ihn nicht zu verlassen, hat er es mir vorhergesagt! Das ist seine Rache. Er glaubte sie vielleicht nicht einmal so nahe! Ein Jahr der Liebe und alles wird vorüber sein! Ein Jahr . . . dafür habe ich mein ganzes Leben eingesetzt!«
Sie strich sich mit der Hand über die Stirne.
»Zuerst aber,« setzte sie angstvoll hinzu, »muß ich Gewißheit haben! Und wenn diese Gewißheit mein Tod wäre . . .«
Sie ging, von der Freundin begleitet, hinaus, und schon nach wenigen Minuten kehrten beide zurück. Annina im weißen Domino, dessen Spitzenkrausen die Blässe ihres schönen Gesichts noch steigerte, machte die Türe auf, dann gingen sie die Stufen hinunter und durchschritten den Garten, wobei Annina mit zuckendem Herzen daran dachte, wie sie vor kaum einer Stunde noch glücklich und vertrauensvoll mit André durch diese stille Heiterkeit geschritten war. Das blühende Gesträuch hauchte dieselben Düfte aus wie vorhin, der Mond goß immer noch seine blasse Klarheit über das ruhige Meer, die Luft war ebenso lind, die Stille ebenso wonnig. Nichts um sie her war verändert. Sie seufzte tief auf, ging aber entschlossen auf den Wagen zu.