Georges Ohnet
Der Schritt zur Liebe – Zweiter Band
Georges Ohnet

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Neuntes Kapitel

Im Theatersaal des Kasinos, der durch Blumenschmuck in eine wahre Frühlingsau verwandelt war, drängte sich alles zusammen, was Nizza an reichen, unbeschäftigten Fremden, eleganten und vergnügungslustigen Frauen sein nannte. Lady Brandons mit weißen und roten Kamelien ausgeschmückte Proszeniumsloge bot einen entzückenden Anblick, dessen Glanz höchstens die mit Orchideen umrahmte Loge des berühmten amerikanischen Milliardärs Morgan gleichkam. In der Klubloge versicherte Saint-Yrieix, der für einen Kenner galt, daß der Direktor des Zinntrusts seine fünfhundert Louisdor für Blumen ausgegeben habe, und daß die Kamelien der einstigen Sängerin nicht auf der Höhe stünden. Übrigens machte Tristan an diesem Abend, als ob er einer ausgegebenen Parole gehorchte, Lady Brandon und ihren ganzen Kreis überhaupt schlecht, und zwar mit so viel Witz, daß die Zuhörer belustigt seiner Kritik lauschten. Der junge Baron Goldscheider, dessen Automobil von vierzig Pferdekräften im Autokorso für seinen Blumenschmuck von Veilchen und Jonquillen den ersten Preis davongetragen hatte, fragte Tristan: »Wie alt mag denn diese Lady Brandon wohl sein?«

»Ach, mein Lieber, das ist eine unheimliche Sache! Mein Onkel Battoncelle sprach manchmal davon, daß er die Brimbella – das war ihr Bühnenname – mit Mario singen gehört habe, vor dem Krieg . . .«

»Alle Wetter! Das stempelt die Dame reichlich zur Sechzigerin . . .«

»Ja, und sie ist noch immer an den Kamelien! Die gehören in ihre Zeit! Die Kameliendame, der Vater Duval, der Spießbürger, der vor Damen der Halbwelt den Hut auf dem Kopf behält, um sie die Überlegenheit der Tugend fühlen zu lassen! Und die englischen Lords, die aus Kunstbegeisterung Sängerinnen heiraten, das alles ist Stil des zweiten Kaiserreichs, dächte ich . . .«

Hier wurde Saint-Yrieix durch das Erscheinen des Vicomte von Preigne unterbrochen. Alle verstummten einen Augenblick, denn man wußte ja, daß der schöne André viel in der Villa Carabacel verkehrte, und niemand von den Anwesenden, Saint-Yrieix ausgenommen, stand ihm nah genug, um kleine Sticheleien zu wagen. Tristan selbst schien auf andre Gedanken gekommen zu sein und sprach von dem Fest am Nachmittag, das glänzend verlaufen war. André, der sich, als ob er ermüdet wäre, auf einen Sitz in der Vorderreihe niedergelassen hatte, ließ seine Blicke durch den Saal schweifen, wo nach den Klängen eines auf der Bühne selbst in glänzender Dekoration untergebrachten Orchesters der Tanz begonnen hatte.

»Was hast du für heute abend vor?« fragte Tristan den Freund. »Wirst du zu Nacht speisen?«

»Wahrscheinlich.«

»Mit mir?«

»Sehr liebenswürdig, aber Lady Brandon hat mich eingeladen . . .«

»Laß sie sitzen!«

»Warum?«

»Um mir ein Vergnügen zu machen. Wenn wir zusammen gespeist haben, werde ich dich nach Hause begleiten . . .«

Der Ton, in dem Saint-Yrieix diese harmlosen Worte sprach, fiel dem Vicomte auf. Es war ihm, als enthielten sie sowohl einen Rat als eine Bitte. Er sah den Jugendfreund durchdringend an, und als dieser unbefangen dem Blick standhielt, wollte er ihn zu einer Erklärung zwingen.

»Was hat denn diese zärtliche Fürsorge zu bedeuten?« fragte er lachend. »Hast du etwa Angst, ich könnte entführt werden? Die Straßen sind sicher und die Gasthäuser werden nicht verödet sein heute abend!«

»Du hast also vor in ein Restaurant zu gehen?«

»Wie neugierig du bist! Was geht's denn dich an?«

Tristan zog den Freund in den Hintergrund der Loge und sagte mit einer Erregung, die er nicht zu verhehlen suchte: »Höre mich an, André, und laß dir einen guten Rat geben! Spiele heute abend nicht und iß auch nicht in Gesellschaft zu Nacht . . . Du weißt, daß du mir dereinst sehr lieb warst. Wenn du auch schwerwiegende Fehler gemacht hast, die ich tadle und beklage, so kann ich dir doch meinen Anteil nicht ganz entziehen. Wenn noch ein Funke gesunden Menschenverstands in dir steckt, so gehe hinunter, spring in einen Wagen und fahre nach Hause.«

»Ach, du scheinst dich über mich lustig zu machen mit deinem Angstgefühl!« rief der Vicomte. »Wenn ich in Lebensgefahr stünde, könntest du nicht anders zu mir sprechen! Ist die Sache so ernsthaft? Erkläre dich, und ich verspreche dir zu gehorchen, wenn du mir nur einen einzigen vernünftigen Grund angeben willst . . .«

»Gib ihn dir selbst an, diesen Grund,« versetzte Saint-Yrieix verstimmt. »Glaubst du etwa, es sei anständig, die arme Annina mit dieser alten, ausgeleierten Cortazzi zu hintergehen?«

»Sachte, sachte! Das ist meine Sache und ich kann tun, was mir beliebt!« entgegnete der Vicomte hochmütig. »Ich vertrage von niemand, auch von dir nicht, Bemerkungen über mein Privatleben. Überdies verhält sich die Sache ganz anders,« setzte er in milderem Ton hinzu. »Wenn man dummes Zeug über mich schwatzt, so ist's nicht meine Schuld, und hindern kann ich's auch nicht. Diese arme Helena macht mir Spaß mit ihrer sentimentalen Überschwenglichkeit, und ihre Art, wie sie unsre Sprache radebricht, finde ich entzückend, aber glaubst du, daß man eine Frau ernst nimmt, die ›Dieou de l'amore‹ sagt?«

»Wenn du sie nicht ernst nimmst, dann laß sie laufen!«

»Ach so! Du möchtest, daß ich mit Frau von Préjean und Valançon zu Nacht speiste,« warf André geärgert hin, »das aber werde ich hübsch bleiben lassen. Entweder esse ich mit der Brandonschen Gesellschaft, oder ich gehe in den Klub, wo mich eine schöne Partie erwartet . . .«

»Du solltest heute abend weder spielen, noch soupieren, André,« sagte Tristan beharrlich. »Du richtest dich zu Grund, mein armer Junge. Ich weiß, daß du schon zu Hilfsmitteln greifen mußt, die . . .«

»Ich! Ich habe achtzigtausend Franken zur Verfügung, die ich gestern abend gewann. Sie liegen bei der Klubkasse . . .«

»Laß sie liegen und geh nach Hause!«

»Da hört sich doch alles auf! Was soll denn die Komödie? Du gehst mir auf die Nerven mit deiner Orakelmiene! Da, sieh, Frau von Préjean macht dir Zeichen . . . Mach, daß du zu ihr kommst . . . und guten Appetit!«

Frau von Préjean, die Anninas weißen Domino angelegt und dieser ihren fliederfarbigen gegeben hatte, winkte allerdings Tristan herbei, denn sein langes Gespräch mit André von Preigne begann sie zu beunruhigen. Da sie den Vicomte ebenso haßte, als ihr Frau Trélaurier lieb war, hatte sie sich ohne Bedenken, Zaudern oder Furcht in das Abenteuer gestürzt, als Frau für die Frau eintretend, und sie hoffte sehnlich, daß ihr Wagnis zu Anninas Befreiung und des Vicomtes Untergang führen werde. Was den erbarmungslos Verfolgten auch nur einen Schritt weit von dem geschichteten Scheiterhaufen ablenken konnte, erschien ihr als eine Feindseligkeit gegen sich selbst. Sie hatte sich gehütet, Tristan die ganze Gefahr zu verraten, die an diesem Festabend über dem Haupt des Vicomte schwebte, und trotzdem bereute sie, zu mitteilsam gewesen zu sein, als sie Saint-Yrieix und André in so lebhaftem Gespräch beieinanderstehen sah.

»Die Männer sind doch alle gleich,« sagte sie sich. »Sie betrachten sich als gemeinsam haftbar für all ihre häßlichen Sünden und halten sich für verpflichtet, einander in Schutz zu nehmen. Wenn nur Tristan keine Ungeschicklichkeit begeht, die unser ganzes Unternehmen gefährdet!«

In diesem Augenblick hob sie, die beiden ansehend, ihre Hand und gab Saint-Yrieix ein gebieterisches Zeichen, in die Loge zurückzukehren.

»Wer ist denn bei Frau von Préjean in der Loge?« fragte André, von einem plötzlichen Unbehagen ergriffen, den Freund noch.

»Frau Valançon.«

»Die kenne ich wohl, aber neben Frau Valançon die sitzende Dame im lila Domino mit Gesichtsmaske?«

Tristan durchfuhr's, ob er dem Freund nicht sagen sollte: »Unglücklicher! Das ist Annina!« aber ein noch heftigerer Wink seiner Gebieterin brachte ihn zur Besinnung. Er durfte sich sagen, daß er der einstigen Freundschaft genügend Rechnung getragen habe durch die André erteilten wertvollen Warnungen; achtete dieser nicht darauf, so war es seine Sache.

»Die Dame in Lila?« erwiderte er daher gleichgültig. »Ach, das ist eine Engländerin, die Frau eines mit Valançon befreundeten Bankiers Seyton . . .«

»Kenn' ich!« warf der Vicomte hin. »Nun laß dich aber nicht länger erwarten, man wird ungeduldig. Guten Abend!«

»Guten Abend.«

Sie gingen beide hinaus, Tristan, um Frau von Préjean, André, um Lady Brandon aufzusuchen. Sobald er in die Loge trat, wurde Saint-Yrieix von der Freundin ins Verhör genommen.

»Was habt ihr denn so lebhaft verhandelt, der Vicomte und du?«

»Meine Liebe, ich habe alles aufgeboten, ihn von seinen Plänen abzulenken. Es ging nämlich über meine Kraft, ihn ins Verderben rennen zu lassen, ohne wenigstens einen Versuch der Warnung zu machen.«

»Dachte ich mir's doch! Sehr taktvoll, das muß ich sagen! Das nächste Mal werde ich mich wohl hüten, dich ins Vertrauen zu ziehen! Und was hat er gesagt . . . das Ungeheuer?«

»Er ist blind und taub! Dem Mann ist nicht zu helfen!«

»Umso besser! Wohin geht er jetzt?«

»Höchstwahrscheinlich soupiert er mit der Cortazzi?«

»Schämt er sich nicht? Sieh sie dir nur an, da, in Lady Brandons Loge, diese Kunstveteranin! Sie könnte ja seine Mutter sein! Ach, die Männer sind doch abscheulich!«

»Wenn ich bitten darf nicht so verallgemeinern!«

»Ihr seid alle gleich! Gott mag wissen, wozu du fähig wärst, du Tugendapostel! Und weiß ich denn überhaupt, ob du dich nicht hinter meinem Rücken unwürdig aufführst?«

»Ach, Teuerste,« wandte Saint-Yrieix ein, »woher sollte ich die Kraft dazu nehmen? Du hältst ja nicht ein mit Reisen, Auteln, Segeln, Rudern! Du mußt zugeben, daß ich in einem Zustand fortdauernder Erschöpfung bin, und wenn ich dich einmal hinterginge, so geschähe es sicher nur, um auszuruhen!«

»Schon gut!«

»Und Annina?« fragte Tristan.

»Sie macht mir mehr und mehr Sorge. Seit sie hier ist, hat sie den Mund nicht aufgetan, und sie läßt keinen Blick von der Proszeniumsloge, wo ihre umfangreiche Nebenbuhlerin thront . . . Wenn Blicke töten könnten . . .«

»Und was tut Valançon?«

»Der ist im Klub. Er hat heute mittag an Vernaut telegraphiert, um ihn auf die Geschehnisse vorzubereiten, Trélaurier muß schon davon unterrichtet sein. Du begreifst, daß wir nicht die ganze Verantwortung für das möglicherweise Bevorstehende auf uns nehmen können . . .«

»Was fürchtet ihr denn?«

»Alles! Das ist ganz einfach! Gib acht . . .«

Annina war plötzlich aufgesprungen und ging in den Hintergrund der Loge.

»Sie gehen,« murmelte sie mit dumpfer Stimme. »Ich will ihnen folgen.«

In der Proszeniumsloge verabschiedete sich die Cortazzi von ihren Gastfreunden, indes im dunkeln Hintergrund der Vicomte wartend an der Türe stand.

»Tristan wird Sie begleiten,« flüsterte Frau von Préjean der Freundin zu.

»Nein, das möchte Argwohn erregen und zur Erkennung führen . . .«

»Dann wird er Ihnen in einiger Entfernung folgen, und zur Hand sein, wenn Sie Beistand brauchen. Ich gehe übrigens auf alle Fälle mit . . . ich lasse Sie ein derartiges Abenteuer nicht allein bestehen . . . Guten Abend, Géraldine.«

»Kommen Sie doch,« sagte Annina, »sonst entschlüpfen sie uns.«

Schon war Frau von Préjean hinter Annina in den Logenumgang getreten. Einer Art von Naturtrieb gehorchend, wandte sich Annina zur richtigen Treppe, um den Vicomte und seine Dame im Vorbeigehen zu treffen. Dank ihrer Geschwindigkeit hatte sie beide überholt, und sie sah das Paar herankommen, lachend, unbefangen plaudernd in dem Gedränge von Menschen, die sie neugierig anstarrten. Sie streiften Annina, die sich ans Treppengeländer lehnte, und die junge Frau hörte die Cortazzi in fröhlichem Ton auf einen von ihrem Ritter gemachten Vorschlag erwidern: »Bei Benozzi? Gut . . . überall, wo Sie wollen . . .«

Eine Wolke von Wohlgerüchen hinter sich lassend, raschelte die Sängerin in ihrem knisternden Domino von blauer Seide an Andrés Arm die Treppe hinunter. Annina stieß einen leisen Wehlaut aus und machte eine Bewegung, als ob sie sich auf sie stürzen wolle, Frau von Préjean aber hielt sie am Arm fest, rief den in einiger Entfernung wartenden Tristan herbei und sagte gebieterisch: »Sachte, Kindchen! Nur keinen öffentlichen Skandal! Sie wissen jetzt schon zur Hälfte, was Sie wissen wollten! Sie werden also bei Benozzi speisen. Wünschen Sie, daß wir ihnen dorthin folgen?«

»Ja«

»Nun gut! Gehen wir hinunter. Das Restaurant ist ganz in der Nähe. Tristan wird unserm Kutscher sagen, daß er uns dort abholt. Gehen wir voran . . . zu zweien haben wir nichts zu fürchten.«

Mit ein paar raschen Schritten standen sie am Ausgang des Kasinos. Die Stille und Dunkelheit der Nacht war nach dem Lichterglanz und Stimmengewirr im Saal auffallend. Unter den Arkaden des Massénaplatzes sahen sie den Vicomte und die Cortazzi, innig aneinandergeschmiegt, arglos vorangehen. Vor einem Blumenladen, der wegen des Festes nicht geschlossen worden war, machten sie halt, und André erstand einen großen Strauß Teerosen, den er seiner Dame überreichte. Die Sängerin drückte ihre Lippen darauf mit einem Ausdruck von so leidenschaftlicher Hingebung, daß es Annina, die hinter einem Steinpfeiler stand, durchschauerte. Jetzt setzten die beiden ihren Weg fort bis zum festlich beleuchteten Eingang des Restaurants Benozzi, wo sie die zu den »chambres separées« führende Treppe hinaufstiegen. Die beiden Frauen, die ihnen bis zum Eingang gefolgt waren, blieben zögernd stehen, wobei sie sofort von nächtlichen Bummlern angegafft wurden.

»Traktieren Sie mich mit Austern, schöne Prinzessinnen!« schrie ein Straßenjunge höhnisch.

»Dirnen, die sich ein Abendbrot suchen,« brummte eine dicke Dame, die keuchend am Arm des Gatten nach Hause stapfte.

Tristans Erscheinen erlöste die Damen von derartigen Anzüglichkeiten. Sie gingen unter seinem Schutz rasch dieselbe Treppe hinauf, über die André und die Cortazzi verschwunden waren. Diensteifrig öffnete ein Kellner eins der Privatzimmer, und Saint-Yrieix, der wohl annehmen konnte, daß André im Hause bekannt sei, fragte leichthin: »Ist der Vicomte von Preigne schon da?«

»Gewiß, mein Herr, im anstoßenden Zimmer . . .«

»Gut! Stören Sie ihn ja nicht . . . ich werde ihn später sprechen. Bringen Sie die Speisekarte nebst Papier und Bleistift.«

Er vertiefte sich in die Auswahl der Speisen, während Annina, schweigend und regungslos dasitzend, den Verschlag anstarrte, hinter dem der Geliebte mit einer andern zu Nacht speiste. Tristan reichte dem Kellner den Zettel, auf den er seine Bestellung geschrieben hatte, die dieser mit zustimmender Miene durchlas. Er steckte den Bleistift in die Westentasche und verschwand. Sobald sie allein waren, sagte Frau von Préjean: »Nun, Liebste, Sie sehen, daß wir Sie leider Gottes nicht falsch berichtet haben! Wollen Sie die Untersuchung noch weiter führen? Oder genügt Ihnen, was Sie bis jetzt feststellen konnten?«

Annina zuckte die Achseln.

»Was würden Sie an meiner Stelle tun?«

»Ich? Ach, ich würde für diese Nacht Frau Valançon um Gastfreundschaft bitten und morgen nach Paris abreisen oder zu Frau von Perceval, die Sie mit offenen Armen aufnehmen würde . . .«

»Ganz gewiß!« versicherte Tristan.

»Ohne André wiedergesehen zu haben?«

»Selbstverständlich. Wenn Sie ihn wiedersähen, wäre eine Aussprache unvermeidlich, und wenn's dazu käme, wären Sie verloren! Er würde Sie wieder in seine Gewalt bekommen und würde Ihnen, auf den einmal verziehenen Verrat pochend, das Leben zur Hölle machen!«

»Aber wenn trotz alledem nur der Schein gegen ihn spräche? Kann er denn nicht mit einer Dame zu Nacht speisen, ohne mich zu verraten?«

»Annina, Sie fangen an, mit sich selbst in Widerspruch zu geraten. Sie sind auf dem Punkt, sich selbst untreu zu werden! Was für Beweise sind denn noch nötig, um Sie zu überzeugen?«

»Ach,« rief Annina verzweifelt, »Sie haben es leicht, den Verstand walten zu lassen, Sie leiden nicht meine Folterqualen! Glauben Sie, daß ich im stande sei, innerhalb einer Stunde selbst auf schwere Verdachtsgründe hin das letzte Band zu zerreißen, das mich ans Leben knüpft? Wenn ich gezwungen bin, mich von André zu trennen, was bleibt mir dann? Ich habe, fortgerissen von einer Leidenschaft, der ich nicht zu widerstehen vermochte, meinen Gatten verlassen. Aber ihn hatte ich nicht geliebt, während ich meinen Geliebten anbete! Wenn ich ihn aus meinem Herzen reiße, das mit allen Fibern an ihm hängt, so reiße ich mir selbst das Herz aus der Brust. Und Sie wundern sich noch, daß ich zögere! Ach, es ist leicht, besonnenen Rat zu erteilen, aber danach zu handeln . . . handeln, wenn Gegenwart, Zukunft, das ganze Leben auf dem Spiel stehen! Was wird aus mir, wenn ich André verlasse? Ich konnte den Menschen ein überschwengliches Glück vorgaukeln, konnte sogar Neid auf meine prahlerisch zur Schau getragene Leidenschaft erwecken, wenn ich aber der Einsamkeit, der Verlassenheit anheimfalle, wird man nicht Spott genug auf mein Haupt häufen können! Wenn man sich anmaßt, über Gesetz, Sitte, Brauch zu stehen, muß man seinen Platz behaupten, oder der Absturz ist fürchterlich! In diesem Augenblick bin ich ebenso tief in meinem Stolz als in meiner Liebe verwundet, ich bin an der empfindlichsten Stelle getroffen. Soll ich allem, was ich gering geschätzt habe, Abbitte leisten, mich Lügen strafen, eingestehen, daß der Mann, um den ich mein und andrer Leben zerstört habe, meiner Liebe nicht wert war? Hier ist ein Zaudern doch wahrlich berechtigt!«

Sie brach ab. Der Kellner erschien mit Tellern und Platten, und hinter ihm der Kellermeister mit Weinflaschen. Die drei Gäste versanken in Nachdenken, während rasch und geräuschlos aufgetragen wurde. Tristan saß gesenkten Blicks da und trommelte auf seinem Teller einen Marsch. Er sah mit großer Verstimmung, daß die Sache eine tragische Wendung nahm, denn ihm waren Aufregungen, kurz alles, was den friedlichen Lauf des Lebens stört, in tiefster Seele zuwider und Frau von Préjeans Streitbarkeit bereitete ihm großes Unbehagen. Dabei gab es für ihn gar keine Möglichkeit, sich mit Gleichgültigkeit gegen Anninas Unglück zu wappnen, erstens, weil sie seine Verwandte war, und zweitens, weil Frau von Préjean es nicht geduldet haben würde. Er hätte heute viel darum gegeben, hundert Meilen weit von Nizza zu sein, und doch war er des Reisens gründlich müde. Er sagte sich mit Niedergeschlagenheit, daß er nirgends, wo er auch wäre, den Zuckungen dieses Liebesfiebers entgehen könnte, und ergab sich seufzend und gedrückt in sein Schicksal.

Frau von Préjean, die mit Ungeduld gewartet hatte, bis die Bedienung sich zurückzog, nahm sofort das unterbrochene Gespräch wieder auf.

»Meine liebe Annina,« rief sie, »nur nicht sich selbst betrügen! Wie schmerzlich Ihnen auch der Verlust Ihrer Illusionen sein mag, sind sie einmal tot, so vermag nichts und niemand sie wieder lebendig zu machen. Sie sagten vorhin, daß Ihr Stolz ebenso tief verletzt sei als Ihre Liebe, das glaube und verstehe ich vollkommen, aber der Stolz ist wenigstens noch zu retten, wenn auch die Liebe flöten geht. Und darum rate ich Ihnen, nicht einer Schwachheit nachzugeben, die Ihre Lage gar nicht mehr rechtfertigen ließe. Sie können sich nur noch durch Mut und Selbstbewußtsein heraushelfen. Ich bitte Sie um Gottes willen, strecken Sie die Waffen nicht! Wenn Sie sich diesem Mann auf Gnade und Ungnade preisgeben, wer weiß, was er aus Ihnen machen würde!«

Annina wollte etwas erwidern, aber die Klänge eines Klaviers im Nebenraum schnitten ihr das Wort ab. Blaß und zitternd saß sie da, als, durch den Wandbehang gedämpft, und doch deutlich die warme, modulationsfähige Stimme der Cortazzi herüberdrang, die die berühmte Arie aus den Zigeunern »Ah! caro delirio . . .« sang. Als sich die leidenschaftliche, von Liebeslust durchbebte Melodie, vom unvergleichlichen Talent der Künstlerin gehoben, entwickelte, begannen aus Anninas Augen langsam schwere Tränen herabzurollen, als ob jeder Ton des Gesangs, der dem geliebten Mann geweiht war, ihre Niederlage bestätigt, den Triumph der Nebenbuhlerin gefeiert hätte. Sie lehnte sich nicht mehr auf gegen das Unglück, kämpfte nicht mehr. In der nüchternen Umgebung eines Hotelraums, vor einer Mahlzeit, die weder sie noch die Freunde berührt hatten, lauschte sie mit blutendem Herzen diesen Klängen und fühlte, wie mit den bittern Tränen die letzten Hoffnungen dahingingen.

Plötzlich mitten in einem Lauf brach der Gesang ab, als ob der Mund der Sängerin durch einen Kuß verschlossen worden wäre, und die Stille, die jetzt im Nebenraum eintrat, war so lastend, so grausam, so gesättigt von abscheulichem Verrat, daß Annina wutbebend auffuhr und, ehe Frau von Préjean und Saint-Yrieix Einsprache erheben konnten, auf den Flur und an die Türe stürzte, hinter der André mit der Cortazzi saß, und mit geballter Faust dagegen schlug. Ein Schrei der Überraschung ließ sich hören, Stühle wurden gerückt, dann ging die Türe auf und der Vicomte erschien mit ärgerlichem, drohendem Gesicht auf der Schwelle. Bei Anninas Anblick wurde er blaß und trat vor, um sie hinwegzuziehen, aber behend und kräftig stieß sie ihn beiseite und drang ins Zimmer, wo die Cortazzi noch am Klavier saß.

»Che volete?« näselte die Italienerin bestürzt.

»Ich will, daß Sie das Zimmer verlassen,« versetzte Frau Trélaurier mit so stolzer, entschiedener Handbewegung, daß die Sängerin die Fassung verlor.

»Aber, aber, was das heißen? . . . André, bin ich hier, daß Sie mich lassen kränken? . . .«

Das Kauderwelsch der Cortazzi hatte für Preigne in diesem tragischen Augenblick etwas so Groteskes, es machte ihm durch seine triviale Komik den Greuel seiner Lage so klar, daß Ekel in ihm aufstieg. Er ermaß in einem raschen Überblick, wie grausam verletzend, wie schmachvoll und erbärmlich sein Verhalten gegen Annina war. Das brachte ihn selbst außer sich; all seine Selbstanklagen verdichteten sich zu einer unbezwinglichen Gereiztheit, und zu der Italienerin gewandt, die in der Haltung einer beleidigten Theaterkönigin auf Antwort wartete, sagte er in schneidendem Ton: »Legen Sie Ihren Mantel um, ich werde Sie an Ihren Wagen bringen . . .«

Bei diesem jähen Erwachen aus der Trunkenheit der vorigen Minute warf ihm die Cortazzi einen finstern Blick zu und alle volkstümliche Deutlichkeit der einstigen Gondoliersgeliebten wiederfindend, überschüttete sie ihn zischend mit Schimpfworten ihrer venezianischen Mundart.

»Ah! Peccato! Ich dich nicht brauchen! Ich gehe allein!«

Sie hüllte sich in ihren Abendmantel und nickte Annina einen hochmütigen Gruß zu.

»Behalten Sie ihn! Viel ist er nicht wert!«

Damit riß sie die Türe auf und stürmte hinaus, worauf sich Frau von Préjean und Saint-Yrieix sofort ins Zimmer drängten. Die Wut verzerrte Andrés Züge, als er ihrer ansichtig ward.

»Nun weiß ich doch, wem ich diese Überraschung zu danken habe,« sagte er, sie feindselig ansehend.

»Nur sich selbst, mein Lieber,« entgegnete Frau von Préjean keck.

Ohne sie einer Antwort zu würdigen, trat der Vicomte mit drohendem Ausdruck auf Tristan zu.

»Ich bin froh, wenigstens einen Mann zu finden, an den ich mich halten kann,« sagte André mit bebender Stimme.

»Mein Lieber,« versetzte Tristan gelassen, »wenn du gerecht sein willst, mußt du anerkennen, daß ich mein möglichstes getan habe, dir diese Beschämung zu ersparen. Was habe ich dir nicht gesagt, um dich von diesem Einfall abzubringen? Wenn dir's trotzdem paßt, mich verantwortlich zu machen für das, was dir begegnet, so stehe ich zu Diensten.«

Frau von Préjeans Blick ruhte mit Wohlwollen auf Saint-Yrieix. Er gefiel ihr ganz außerordentlich in diesem Augenblick, wo er so stolze und ehrenfeste Überzeugung bewies, und sie verzieh ihm ein gut Teil Faulheit für diesen kurzen Augenblick der Verwegenheit. Schon aber legte sich Annina ins Mittel.

»André,« sagte sie mit müder Stimme, »nicht an Tristan hast du dich zu halten, sondern an mich. Diese treuen Freunde sind mir nur gefolgt, damit ich dieser Frau und dir nicht allein gegenübertrete . . . Ich war's, die eindringen wollte, sie, sie aber wollten mich davon abhalten. Doch ich konnte mich nicht entschließen, an die furchtbare Wahrheit zu glauben, eh ich dich selbst gesehen, dich gehört haben würde . . .«

Er fiel ihr mit einem Ausdruck ehrlicher Verzweiflung ins Wort.

»Annina, wer hat mich angeschwärzt? Wer hat mir diese Falle gestellt? Wer hat dir, der Vertrauenden, den fürchterlichen Dienst erwiesen, dich zu warnen?«

»Wer es getan, hat mich vor dem schlimmsten Untergang bewahrt, André. Aber klage nicht andre an, sondern dich selbst. Man hat dich nicht mit Gewalt hierher geführt, du bist freiwillig gekommen . . . hast fröhlich hier getafelt beim Klang der Lieder . . . die Sängerin ist fort, aber die Mahlzeit ist noch da . . . Lebe wohl!«

Er vertrat ihr den Weg.

»Annina, du wirst nicht gehen!«

Sie sah ihn unendlich traurig, aber stolz an.

»Du wirst mich doch nicht zwingen wollen, denke ich? Erinnere dich, was ich dir sagte: ein Verrat würde der Tod unsrer Liebe sein. Du hast mich verraten, André, und mein Herz hat nicht mehr das Recht, dich zu hören . . .«

»Auch nicht, wenn ich dich anflehe, wenn ich mich demütige, wenn ich dich mit Tränen bitte . . .«

In den Augen des harten Mannes, der bis dahin alle Frauen nach Laune behandelt, sich nie um ihre Leiden gekümmert hatte, wenn nur er sein Vergnügen fand, zitterten wirklich Tränen. Der düstere, stolze Schmerz Anninas versetzte ihn in Bestürzung, und ohne Zweifel liebte er sie noch, liebte sie jetzt vielleicht mehr als je. An der Stelle, wo die Cortazzi vorhin die Füße hingesetzt hatte, sank er vor ihr auf die Kniee und streckte die flehend erhobenen Hände nach der jungen Frau aus, die blaß, aber entschlossen, in erlesener Schönheit vor ihm stand. Es war vergebens. Mit jenem Ausdruck unerbittlicher Entschlossenheit, der einst Trélaurier jeder Hoffnung beraubt hatte, zog sie die Brauen zusammen und ging ohne ein Wort, ohne eine Handbewegung hinaus.

Frau von Préjean und Saint-Yrieix, die bestürzt dagestanden hatten, als sie an ihnen vorübergeglitten war, sahen den Vicomte mit kläglicher Miene an, als ob sie einen Ausbruch seiner Leidenschaft, einen unwiderstehlichen Aufschrei des Herzens von ihm erwarteten, der Annina zurückführen würde. Er aber blieb regungslos in sich versunken, mit gesenktem Blick Klarheit über sein erbärmliches Abenteuer suchend. Dann gingen auch sie schweigend hinaus und Preigne war allein. Er schien ihr Verschwinden gar nicht bemerkt zu haben, er war wie vernichtet. Mechanisch ließ er sich auf einen Stuhl nieder, legte die Ellbogen auf den Tisch, ließ den Kopf auf die Hände sinken und dachte nach. Von Zeit zu Zeit lief ein Zucken durch seine Hände und große Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, so schmerzvoll war diese Betrachtung.

Nach Verlauf einer Viertelstunde erwachte er aus dem bangen Traum, blickte um sich, sah die Überreste der üppigen Mahlzeit und stand mit einem bittern Lächeln auf. Er zog eine Zigarette aus der silbernen Büchse, steckte sie an und klingelte. Der Kellner erschien voll heimlicher Neugier, aber äußerlich unbefangen, mit seiner Serviette unterm Arm. André warf einen Hundertfrankenschein auf den Tisch und sagte: »Machen Sie sich bezahlt!«

»Der Herr Vicomte gehen?«

»Ja, geben Sie mir meinen Überrock.«

Er machte sich fertig und ging dann mit ruhiger Miene, als ob er nichts Ungewöhnliches erlebt hätte, über den Massénaplatz nach dem Klub, wo er gegen zwei Uhr morgens eintraf. Das Fest hatte einen starken Zulauf von Spielern herbeigeführt; nach einer im Kasino verbrachten Stunde waren die Stammgäste des Spieltischs zurückgekehrt und ein paar reiche Leute, die aus Cannes oder Monaco herübergekommen waren, verstärkten die gewöhnliche Kundschaft des grünen Tischs. Das Spiel war in lebhaftem Gang, als Preigne eintrat, und Graf Czethiani hielt die Karten in der Hand. Er hatte eben die Bank übernommen und verlor, was sonst nicht seine Gepflogenheit war. Als er den Vicomte eintreten sah, sagte er, im Geben begriffen, mit Gemütsruhe: »Ah! Da kommt vielleicht mein guter Stern wieder . . . Es wäre hohe Zeit!«

Er schlug seine Karten auf. Sieben, drei. Er verlor auf beiden Tableaux.

Mit unmutiger Gebärde warf er das übrige Spiel in den Korb und erklärte: »Ich höre auf. Mein Pech ist zu groß.«

»Machen Sie nicht weiter, Graf?« fragte André den Ungarn.

»Mit Ihnen halbpart, wenn Sie Lust haben?«

»Gut. Wieviel Geld haben Sie vor sich?«

»Darauf kommt's nicht an, ich halte jeden Betrag.«

Unter den Spielern entstand eine Bewegung, als ob ein entscheidender Höhepunkt der Partie erwartet würde. Der Vorstand des Klubs, der General Baron Gaujard, der an einem Seitentisch mit Valançon Pikett spielte, stand auf und kam herüber, und ein kleines Herrchen mit leberkranker Hautfarbe, das an einer Partie Ecarté beteiligt war, trat ebenfalls an den Baccarattisch.

»Die Partie will ich mitansehen,« sagte er zu seinen Mitspielern.

»Herr Linguet, Sie werden sich nur rupfen lassen, bleiben Sie lieber bei uns,« bemerkte ein reicher Ölhändler aus Grasse.

Aber der kleine Mann schien Wichtigeres vorzuhaben, als Zehnfrankenstücke zu gewinnen oder zu verlieren. Seine Augen waren unverwandt auf den schönen André geheftet, und ohne die Einsprache zu hören, ging er auf den Baccarattisch zu. Der Spielkellner hatte inzwischen neue Karten gebracht und der Ungar mischte sie auf dem Tisch mit einer übertriebenen Korrektheit, die an sich verdächtig war.

»Na, Valançon, auf diese Weise überwachen Sie das Fest, zu dessen Anordnern Sie gehören?« bemerkte André gelassen.

»Ich war todmüde, bin seit heute früh nicht aus dem Geschirr gekommen! Da glaubte ich mir das Recht auszuschnaufen und ein wenig stillzusitzen redlich verdient zu haben. Sie kommen vom Kasino?«

»Ja.«

»War's hübsch?«

»Prachtvoll.«

»Haben Sie meine Frau gesehen?«

»Sie muß gleichzeitig mit Frau von Préjean und Saint-Yrieix aufgebrochen sein.«

André beobachtete Valançon aufmerksam, denn er hätte gern gewußt, ob er mit im Komplott gegen ihn sei, doch der Maler zuckte nicht mit der Wimper. Er sah offenbar mit Spannung zu, wie der Ungar die Karten mischte.

Als das Spiel eingeleitet war, ließ der Graf seine Blicke über den ganzen Kreis der Spieler hinschweifen und sagte dann mit einem übertrieben höflichen, unangenehmen Lächeln zu Valançon: »Wollen Sie abheben, verehrter Meister?«

»Mit Vergnügen.«

Der Künstler griff nach dem Kartonblättchen, womit die Karten in zwei Teile geteilt werden, und steckte es ins Spiel. Der Ungar fügte die beiden Hälften zusammen und legte sie in den vor ihm stehenden Behälter aus Palisanderholz.

»Messieurs, faites vos jeux!«

Preigne hatte sich an die entgegengesetzte Seite des Tischs gesetzt und hielt die Harke bereit, um verlorene Einsätze einzuziehen, gewonnene auszubezahlen, während Valançon neben ihm Platz nahm. Der General, der sich nie am Baccarat beteiligte, hatte laut gesagt: »Jetzt ist ja die Partie im Gang. Ich will geschwind noch einmal ins Kasino hinüber.«

In diesem Augenblick tauchte zwischen zwei am Tisch stehenden Spielern Linguets gelbes Gesicht mit den höhnischen Augen auf. André bemerkte ihn und die gewohnte verstimmende Wirkung dieses Anblicks zeigte sich auf seinem Gesicht. Er hatte gewußt, daß der kleine Mann in Nizza war, denn er hatte ihn mehrmals im Klub gesehen, aber an den Baccarattisch hatte sich Linguet bis jetzt nicht gewagt; er zog Gesellschaftsspiele wie Bridge oder Ecarté vor. Nach den Vorfällen im Restaurant Benozzi empfand Preigne das Auftauchen dieses haßerfüllten Gesichts als ein verhängnisvolles Zusammentreffen, und ein banges Vorgefühl beschlich ihn. Er erinnerte sich der Worte Saint-Yrieix': »Soupiere und spiele heute abend nicht«, und er glaubte, sie jetzt besser zu begreifen. Saint-Yrieix hatte gewußt, daß er von einer doppelten Gefahr bedroht war. Die erste mit der Cortazzi hatte ihn in vollem Maße ereilt, drohte ihm jetzt von dem Ungarn eine zweite?

Er sah seinen Bundesgenossen an, der mit unerschütterlicher Ruhe Karten auflegte. Das weichliche Gesicht des Fremden, das von einem nach österreichischer Mode geschnittenen Backenbart umrahmt war, schien ihm mit einem Male einen seltsam niedrigen und heimtückischen Charakter zu verraten. Er blickte nur durch einen kleinen Spalt der gedunsenen Lider und seine beringten Finger handhabten die Karten mit einer fatalen Geschicklichkeit. Spielgewohnheit ohne Zweifel, etwas zu viel Übung! Ein Schauer überlief André, und er wäre gern aufgestanden, hätte am liebsten, ein Unwohlsein vorschützend, das Spiel aufgegeben, aber eine falsche Scham hielt ihn zurück . . . »Was würde man dazu sagen?«

»Wir haben kein Glück,« hörte er in diesem Augenblick die rauhe Stimme des Ungarn sagen. »Bezahlen Sie für beide Tableaux, Vicomte.«

André atmete auf. Zum ersten Male im Leben war ihm der Verlust willkommen.

»Noch drei verlorene Sätze,« sagte er sich, »und ich hebe die Sitzung auf. Das Mißgeschick liefert mir dann einen vortrefflichen einwandfreien Vorwand aufzubrechen und damit der von Saint-Yrieix angedeuteten Gefahr zu entgehen.«

In diesem Augenblick jedoch machte der Graf Czethiani eine Pause im Spiel, zog langsam und bedächtig ein Zigarrenetui aus der Tasche, legte es auf den Tisch und wählte aufs umständlichste eine Havanna aus, die er anzündete. Als sie brannte, nahm er die Zigarrentasche und steckte sie mit einer gewissen Hast zu sich, ergriff zugleich die Karten und leierte das übliche: »Messieurs, faites vos jeux . . . Les jeux sont faits!«

Er gab, und nun schien sich das Glück gewendet zu haben, als ob die Zigarrentasche ein kräftiger Talisman gewesen wäre. Drei volle Sätze für den Bankhalter, dann eine Unterbrechung und dann wieder fünf Gewinnsätze. Massen von Gold, Banknoten, Spielmarken häuften sich vor André auf, und man hörte murmeln: »Es müssen mindestens viertausend Louisdor sein . . .«

Der Ungar psalmodierte weiter: »Messieurs, faites vos jeux . . . Les jeux sont faits!«

Er wollte eben wieder geben, als sich von rückwärts eine Hand auf seine Karten legte und der Baron Gaujard nachdrücklich sagte: »Einen Augenblick! Es macht mir den Eindruck, als ob Sie mehr Karten hätten, als zum Spiel gehören.«

»General! Sie beschimpfen mich!« rief der Bankhalter mit tragischer Entrüstung, wobei er den Versuch machte, die Karten durcheinander zu werfen, doch der Vorstand des Klubs hielt sie fest und Valançon leistete ihm Beistand.

»Kein Geschrei, kein Aufsehen! Sie folgen uns ins Nebenzimmer . . . Wir wissen, wer Sie sind, und sprechen uns besser in kleinem Kreis aus.«

Mit zitternden Knieen stand der Ungar auf, als eine durchdringende Stimme rief: »Halt! Den Teilhaber nicht vergessen! Wenn der Graf Czethiani ein Betrüger ist, so ist der, der seinen Gewinn teilte, auch nicht hasenrein! Ich verlange, daß man ihn jetzt auch halbpart machen läßt!«

Vor Freude bebend, wies der kleine Linguet mit dem Finger auf seinen leichenbleichen, schreckensstarren Feind.

»Ich! Ich!« rief André, sich hoch aufrichtend. »Sie wagen, mich zu verdächtigen!«

Die anfängliche Verblüffung der geprellten Spieler verwandelte sich jetzt in Wut, der Vicomte sah, wohin er auch blicken mochte, nur zornige Gesichter um sich, und ein Kreuzfeuer von beleidigenden Bemerkungen prasselte auf ihn nieder.

»Dieb! Räuber! Unser Geld wollen wir wieder!«

André drängte mit einer erschreckenden Gebärde die Hitzigsten von sich.

»Den ersten, der noch ein Wort sagt, den zerschmettere ich!«

Allein der kleine Linguet war nicht der Mann, seine Beute fahren zu lassen, er hatte zu lang auf diesen Augenblick der Wonne geharrt, um einer Einschüchterung zugänglich zu sein.

»Nur keine Schimpfreden und keine Drohungen!« erklärte er. »Sie haben es hier nur mit anständigen Leuten zu tun, Herr Vicomte von Preigne, verstehen Sie wohl. Die Wahrscheinlichkeit, daß Sie ein Gauner sind, ist dagegen sehr groß. Wir werden's alsbald erfahren. Einstweilen gehen Sie mit den Herren, die Ihren Spießgesellen geleiten. Die Sache wird genau untersucht werden . . . vor allem, daß niemand an die Karten rühre!«

Valançon war schon damit beschäftigt, sie in einen Korb zu sammeln, nachdem er den Rest des Spiels, den der Ungar noch nicht ausgegeben, vor aller Augen versiegelt hatte. Er beugte sich zu André hinüber.

»Kommen Sie mit mir, Vicomte. Sie dürfen nicht hier bleiben, wo Sie nur Beschimpfungen ausgesetzt sind . . . wenn Sie sich rechtfertigen können, so beeilen Sie sich damit . . .«

Im Nebenzimmer befanden sich jetzt der Baron Gaujard, Valançon, der kleine Linguet, der Ungar, André von Preigne und der reiche Ölhändler aus Grasse, der mit einem Schlag eine für alle unerwartete Bedeutung gewonnen hatte und knappe, jeden Widerspruch abschneidende dienstliche Befehle erteilte.

»Schließen Sie die Türe ab, daß wir ungestört bleiben! . . . Stellen Sie an jedem Eingang einen Diener auf, daß niemand ohne Erlaubnis eindringe! . . . Und jetzt bringen wir die Sache zur Sprache.«

»Ja, wer sind Sie denn?« rief der Ungar, sich gegen die Anmaßung auflehnend, womit der Unbekannte die Verhandlung an sich riß.

»Wenn es Sie interessiert, das zu wissen, ich heiße Robillaud und bin Polizeikommissär für Spielangelegenheiten. Sie haben mich nur nicht erkannt, weil ich gut vermummt bin . . . Soll ich etwa die Perücke abnehmen? Was Sie betrifft, so machen Sie gütigst mit mir keine Flausen. Sie sind Armoison, der sogenannte König der Griechen, und Sie sitzen dieses Mal fest in der Klemme.«

Der »Graf Czethiani« schien seinen Ankläger keiner Antwort würdigen zu wollen.

»Ich weiß nicht, was das heißen soll,« wandte er sich an den Vorstand des Klubs. »Meine Papiere sind in Ordnung, und ich berufe mich auf den österreichischen Konsul. Wenn Ihre Kollegen, weil sie verloren haben, behaupten, betrogen worden zu sein, so beweist das nur, daß sie schlechte Spieler sind, weiter nichts.«

»Herr Valançon,« sagte Robillaud gelassen, »wollen Sie die Güte haben, mir den Teil der Karten zu übergeben, den Sie versiegelt haben? Während ich ihn vor diesen Zeugen untersuche, sind Sie wohl so freundlich, die Karten im Korb nachzuzählen. Es waren ursprünglich die üblichen vier Spiele. Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, so müßten wir mit diesem Rest hundertundacht Karten vorfinden . . .«

»Kann ich wissen, was für eine Gaunerei man in dem Getümmel um den Spieltisch ausgeübt haben mag?« warf der sogenannte Graf Czethiani hin.

»Sie schweigen!« herrschte ihn der Baron Gaujard in so rauhem Ton an, daß der Mann eingeschüchtert ward und sich darauf beschränkte, seine Entrüstung durch Gebärden zu äußern.

Einstweilen erklärte der Polizist unter den Augen des finster schweigenden Vicomte von Preigne in spöttischem Ton: »Wenn sich der Herr, wie ich vermute, des portugiesischen Sequens bedient hat, werden wir nach drei Treffern einen Fehlschlag, dann wieder fünf Treffer finden,«

Er spielte nun die Rolle des Bankhalters, indem er den Anwesenden regelrecht Karten austeilte, nur daß er sie offen auf den Tisch legte, und wirklich entwickelte sich das Spiel genau so, wie er vorausgesagt hatte.

»Um dies Sequens erfolglos bleiben zu lassen, müßte unter den Gegnern ein Windhund sein, der kreuz und quer setzt, was so gut wie niemals vorkommt. Es sind wirklich, wie wir vermutet hatten, überschüssige Karten eingeschmuggelt worden. Als er die Zigarrentasche herausnahm, hat Herr Armoison diese Karten auf den Tisch gelegt und dann sehr geschickt ins Spiel eingeschoben. Saubere Arbeit, übrigens kein Wunder, denn Herr Armoison ist längst Meister in seinem Fach und niemand versteht sich wie er, wenn's not tut, auf Taschenspielerstückchen.«

Ein Zucken ging über das Gesicht des Ungarn, wie wenn ein Windstoß eine Wasserfläche kräuselt. Seine Augen funkelten höhnisch und sein Mund verzog sich grollend.

»Sie machen sich über mich lustig,« warf er hin.

»Wahrhaftig, nein,« sagte Valançon, der mit Zählen fertig geworden war. »Es sind sechzig Karten zu viel . . .«

»Wer diese unter das Spiel gemischt hat, weiß ich nicht,« erklärte der Ungar. »Sind Sie Ihres Dienstpersonals sicher?«

»Genug der Ausflüchte!« rief der Baron Gaujard. »Sie sind ertappt, jetzt gilt es nur noch Ihre Rechnung ins reine zu bringen. Mit Ihrer Person werden wir uns gar nicht mehr befassen. Das erbeutete Geld ist in unsern Händen und wird denen zurückerstattet, die es eingebüßt haben. Was Sie betrifft, so ersuche ich Sie in aller Interesse, sich anderswo einen Galgen zu suchen . . .«

»Sachte, sachte!« fiel der kleine Linguet ein. »Es kann doch eine gerichtliche Klage anhängig gemacht werden . . .«

»Für die Mitglieder des Klubs stehe ich gut,« erklärte der Präsident, »und . . .«

»Ich bitte mich davon auszunehmen,« unterbrach ihn der gallige Alte. »Ich sehe zwar kein Unrecht darin, den falschen Grafen und Pseudoungarn, kurz den Herrn Armoison, einfach an die Luft zu setzen und laufen zu lassen, aber bei seinem Mitschuldigen, dem Vicomte André von Preigne liegt der Fall anders. Der Meister Armoison ist ein Gauner von Beruf, er lebt von diesem Handwerk, und man kennt ihn, die Leute brauchen sich also nur vor ihm zu hüten. Dieser junge Kavalier aber, der ganz verstohlen den Helfershelfer bei diesem Kniff mit eingeschmuggelten Karten macht, dieser elegante Weltmann, der seinen vornehmen Rang dazu mißbraucht, die Leute zu täuschen, dieser hochgeborene Dieb, dieser Bandit aus der großen Welt, der jetzt in unsre Hand gegeben ist, und an dem vor unsern Augen der Angstschweiß ausbricht – Scham kennt er ja nicht – was soll mit diesem geschehen?«

»Ich schwöre bei meiner Ehre,« rief der Vicomte leidenschaftlich, »daß ich von den Kniffen dieses Herrn nichts wußte! Ich fordere ihn auf, sich auszusprechen, ob zwischen mir und ihm ein Einverständnis bestanden hat.«

»Nein, nein, gewiß nicht!« sagte der entlarvte Gauner mit einem wohlwollenden Lachen. »Der Herr Vicomte sah, daß ich gewann, deshalb beteiligte er sich an meinem Spiele, das ist alles. Nichts einfacher als das, und jeder von Ihnen würde an seiner Stelle dasselbe getan haben . . .«

Bei diesen unklugen Worten breitete sich eine bleierne Stille aus, die sich wie ein Verdammungsurteil schwer auf André niedersenkte. Keiner wollte ihn vollends zu Grund richten, indem er Widerspruch erhoben hätte, doch alle waren mit ihrem Urteil über ihn im klaren.

»Will denn gar niemand hier für mich eintreten?« rief er, sich rasend aufbäumend unter der Last des Schimpfs. »Valançon, geben auch Sie mich auf?«

Der Maler erbebte bei diesem verzweifelten Notruf. Rasch stieg Anninas Bild vor ihm auf, er sah die Schande des Geliebten, an ihr aufspritzend, sie selbst beschmutzen und es war ihm, als ob auch Trélaurier nicht so furchtbar gerächt werden wollte.

»Im Grunde, meine Herren,« sagte er, auf André zutretend, »fehlen doch Beweise für die angebliche Mitschuld des Vicomte von Preigne, deren man ihn bezichtigt . . .«

»Ich bezichtige ihn hiermit ausdrücklich dieser Mitschuld!« kreischte der kleine Linguet, die magere, zitternde Hand nach dem Feind ausstreckend. »Der Ungar geht mich nichts an, ich will auch mein verlorenes Geld nicht zurückerstattet haben, ich will aber, daß . . . sagen wir die Inkorrektheit des Herrn von Preigne festgenagelt werde. Wenn Sie kein Protokoll aufsetzen wollen, und wäre es auch nur für die Geheimakten des Klubs, so mache ich heute früh noch Anzeige beim Staatsanwalt.«

Dieser elementare Haß des alten Männchens wirkte erkältend auf die Anwesenden. Der Baron Gaujard bemerkte beinah vorwurfsvoll: »Mein Herr, Sie zeigen ja eine große Verbissenheit . . .«

»Sparen Sie Ihre Milde!« rief Linguet höhnisch. »Der Lump verdient kein Mitleid! Er ist mir verfallen mit Leib, Leben und Ehre, das weiß er wohl. Sehen Sie nur, wie er grün wird vor Angst, wenn ich ihm seine Erbärmlichkeit ins Gesicht speie! Wenn ich die Kraft hätte, ihn im Zweikampf zu töten, wie er's mit seinen Feinden macht, wäre er längst nicht mehr da! Aber ich habe ihn trotzdem in der Gewalt, und wenn Sie, wie es scheint, nicht geneigt sind, Ihre Pflicht zu erfüllen, werde ich sie übernehmen und nicht nachlassen, bis das Ziel erreicht ist.«

»Elender!« knirschte André.

»Schweig, du Schurke! Du weißt, daß mir jedes Mittel, dich zu treffen, zusteht, und ich werde dich noch mit Füßen treten, feiger Mörder. In diesem Augenblick halte ich in Händen, was man so deine Ehre nennt, und niemand wird sie mir entreißen! Sie verstehen mich, meine Herren – entweder, oder. Entweder wird auf der Stelle ein Protokoll aufgenommen über den ganzen Vorgang und von allen Anwesenden mit Einschluß des Vicomte unterzeichnet, oder es erfolgt die Anzeige beim Staatsanwalt. Haben Sie mich verstanden?«

»Ich unterschreibe nichts!« rief André. »Eher mag man mir die Hand abhauen.«

»Man wird Ihnen nichts abhauen und Sie werden unterschreiben. Bramarbasieren Sie doch nicht!«

»Mißbrauchen Sie den Vorteil Ihrer Lage nicht, Herr Linguet,« legte sich Valançon ins Mittel. »Sie schaden sich selbst, indem Sie einen Mann angreifen, der sich nicht verteidigt. Wir alle sind darin einig, einen Skandal vermeiden zu wollen, der weder dem Klub, noch allen, die in das Abenteuer verwickelt sind, zum Heil gereichen würde. Verhüten wir, wenn irgend möglich, daß die Sache in die Öffentlichkeit dringt. Sie verlangen ein Protokoll, darin stimmen wir Ihnen bei, aber daß der Vicomte seinen Namen darunter setzt, ist durchaus überflüssig. Die Lage, worin er sich befindet, ist an sich peinlich genug, wir brauchen nichts hinzuzufügen, was über unsre Aufgabe hinausgeht. Wir lassen uns nicht von Ihnen als Werkzeug gebrauchen, merken Sie sich das.«

Valançon sah das kleine Männchen bei diesen Worten mit solcher Festigkeit an, daß Linguet wohl oder übel seinen Plan fahren lassen mußte.

»Und wer wird die Betrogenen entschädigen?« fragte er indes in immer noch drohendem Ton. »Es sind von den Spielern etwa zweihundertfünfzigtausend Franken an die verdächtige Bank verloren worden, das Geringste, was der Vicomte tun kann, ist, sie zu bezahlen. Ungefähr hunderttausend Franken haben Sie auf dem Tisch in Beschlag genommen, somit fehlen noch Hundertfünfzigtausend Franken, die morgen hier an die Spieler auszuzahlen sind, sonst betrachte ich mich als berechtigt, weitere Schritte zu tun . . . Das Gericht mag dann die Sache in die Hand nehmen.«

»Das wäre abgemacht. Herr Robillaud, wollen Sie Armoison über die Diensttreppe aus dem Haus führen und an die Luft setzen.«

Der Bankhalter atmete erleichtert auf und wagte sogar zu lächeln, indem er sagte: »Sie behalten den Spielgewinn der Partie. Es sei, aber möchten Sie mir nicht wenigstens meinen Einsatz zurückerstatten? Ich kam heute abend mit fünfzigtausend Franken in den Klub . . .«

»Die Sie gestern auf die uns jetzt bekannte Art gewonnen haben. Wir werden sie den hundertundfünfzigtausend beifügen, die uns der Vicomte für morgen verspricht.«

Der Bursche machte ein Zeichen der Zustimmung und wollte sich in der Runde verbeugen, er bekam aber nur Rücken zu sehen. Nun verschwand er mit handgreiflicher Nachhilfe des Polizeikommissärs.

»Gehen Sie fort, Vicomte,« sagte Valançon halblaut zu André. »Sie sehen, daß ich um Anninas willen für Sie tat, was ich konnte. Jetzt will ich Ihnen noch den wohlgemeinten Rat geben, gehen Sie für ein paar Monate ins Ausland. Das wird für alle Welt das Beste sein.«

»Ich bin unschuldig, Valançon,« beteuerte André, schmerzlich flehend. »Sie waren anwesend, Sie können zu meinen Gunsten zeugen, lassen Sie mich nicht im Stich . . .«

Der Künstler sah ihm fest ins Gesicht und erwiderte mit ernster Stimme: »Sie haben Trélaurier beschimpft, der mein Freund ist, Annina verraten, die ich gleich einer Schwester liebe, Sie haben an der Ehre gefrevelt, Herr von Preigne, das ist mehr, als daß ich noch für Sie eintreten könnte. Für jeden kommt die Stunde, wo er für seine Sünden büßen muß, für Sie ist sie jetzt angebrochen. Reisen Sie und sorgen Sie dafür, daß man Sie vergißt.«

Der junge Mann warf sich mit einem erstickten Zorneslaut in die Brust, heftete einen drohenden Blick auf den Maler und sagte mit bitterem Lächeln: »So leicht wird man doch nicht mit mir fertig werden. Ich bin weder schwach noch wehrlos . . .«

»Nehmen Sie sich in acht, und drohen Sie nicht! Sie würden dadurch andre Maßregeln hervorrufen.«

André war wieder vollkommen Herr seiner Bewegung geworden. Er maß Valançon mit einem verächtlichen, hochmütigen Blick und sagte lachend: »Ich fürchte nichts!«

Und mit einem nachlässigen Gruß gegen die andern Herren ging er auf die Türe zu; ungebeugten Haupts wollte er die Klubräume durchschreiten. Durch seine Kühnheit eingeschüchtert, blickten ihm alle schweigend nach; nur Linguet hatte die Geistesgegenwart, ihm noch zuzurufen: »Auf Wiedersehen, Sie Zierde der Menschheit. Wir sind noch nicht miteinander fertig.«

Der Baron Gaujard wandte sich zu Valançon und Linguet.

»Setzen wir jetzt unser Protokoll auf, aber es versteht sich, daß die Sache unter uns bleibt.«

»Gewiß,« stimmte Linguet voll Vergnügen bei, »denn ob Sie das Protokoll geheimhalten oder nicht, bleibt sich ganz gleich. Wenn ich nur darauf hinweisen kann, daß es vorhanden ist, setze ich es durch, daß der Vicomte aus sämtlichen Pariser Klubs ausgewiesen wird.«

»Mein Gott, was hat Ihnen denn der Unglückliche zu Leid getan?« fragte Baron Gaujard, in dem die grenzenlose Verbissenheit dieses Kleinbürgers das Gefühl der Solidarität mit dem Standesgenossen wachrief.

»Was er mir zu Leid getan hat? Ach, was er so in der Gewohnheit hat,« sagte der alte Mann einfach. »Er hat mein einziges Kind entehrt und dann verlassen; sie aber ist aus Kummer darüber gestorben.«

Der General senkte schweigend den Kopf.



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