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Auf einem Dienstritt von seinem Bahnbau ins Herz der Cordilleren nach Tucuman, einem tagelangen Ritt durch abgeholztes, flaches Land mit ungepflegtem Steppenboden, hielt es Praxmarer plötzlich fest. Aus dem Schatten eines Häuschens, das sich nur um Nuancen von einer Indiohütte unterschied, hörte er – zum erstenmal seit vielen Jahren! – deutsche Worte, schwäbisches Liedgeträller, einen heimatlich gefärbten Zärtlichkeitserguß:
»Sauchaibeli, geliebtes du, kommscht her!«
Danach erhob sich aus Kinderkehlen, spanisch und deutsch zugleich, ein Lärm, wie man ihn frühmorgens im zoologischen Garten erleben kann, im Gebäude der exotischen Vögel, die mit Krächzen und Singen, Trillern und Kreischen Gottes neue Sonne begrüßen.
Praxmarer wurde gut aufgenommen. Der Rancho war Sommerfrische eines Landsmanns, der als 10 Apotheker und Universitätsprofessor der Pharmazeutik in Tucuman wirkte, seit dreißig Jahren schon im Lande war, bei Tisch Fleischstreifen in den Mund schob und dicht vor den Lippen mit einer scharfen Navaja absäbelte, nach Tisch, wenn er guter Laune war, ein Dutzend Revolverschüsse auf Wolken oder Bäume abgab, mit seinen schmutzigsten Gauchos aus einem Röhrchen Maté sog und seine gesunde, starke, argentinische Frau Jahr um Jahr ein Kind austragen ließ. Die Mutter und ihre Kleinsten verbrachten das ganze Jahr auf der Hacienda, aber Niëves war schon groß und nur zu den Ferien hier. Alle Kinder zusammen schienen eine Wolke voll Elektrizität oder ein Wald voll Leben – sie waren Masse, unzähmbar, undirigierbar, reinste, herrlichste Vitalität, Arme, Beine und Stimmen in einziger Wirrnis. Auf der Koppel vollends verwuchsen sie mit Kälbern, Ferkeln und Füllen zu einer Jugend.
Niëves sprach nur wenig Deutsch, aber das Wenige im reinsten Dialekt, ganz ohne fremde Betonung. Unendlich lang hatte Praxmarer das nicht gehört und ganz vergessen! Seit der Krieg daheim, in seiner Familie und unter seinen Freunden, gerodet, hatte ja kaum ein Brief je wieder an das Versunkene gerührt.
War es der Aufruhr, den jenes unerwartete »Sauchaibeli« in ihm erregt hatte, oder wirkte 11 Niëves selbst, mit ihren Sechzehn, schmutzig und gesund, scheu und neugierig, so stark auf den Vereinsamten, der mit seinen Achtunddreißig Jugend brauchte, um sich selbst zu erhalten? Niemand dachte darüber nach, er selbst so wenig wie das Kind oder die Eltern, denen am dritten Tag schon die ganze Lage sonnenklar schien. Ihre Kinder gefielen dem Gast, und Niëves war Sechzehn.
Praxmarer war Ingenieur, Graduierter einer deutschen Hochschule, also Standesgenosse. Ob Akademiker oder nicht, das war auch hier am Urwaldrand entscheidend. Er lebte im Zelt oder in flüchtig errichteten Baracken, aber immer als Chef seines Betriebes; nie in Sorgen, sondern mit Bezügen, die er sicher nicht ganz verzehren konnte; war pensionsberechtigt und unfallversichert; ein »hombre serioso«. Des Redens ungewohnt, weil er meist nur zu kommandieren hatte und sich zu den Arbeitern nie herablassen durfte, starrte er oft vor sich hin, tat vieles mit Handbewegungen oder einem Ruck des Kopfes ab, weil es ihm unwichtig schien, oder weil er gar nicht zugehört hatte. Aber ein paarmal im Lauf dieser Tage kam er in Bewegung und sprach dann minutenlang sehr temperamentvoll, rechthaberisch und beinah wie ein Student, der unter Kameraden zu dominieren pflegt.
»Was für Augen! Wie schön!« rief dann die Hausfrau, und die Kinder rings im Kreis sagten 12 ihr begeistert nach: »Que ojos! Que sympathico, que lindo!«
Verliebt war eigentlich die Mutter, Frau Dolores Aquila y del Rio de Schneiderli, in Praxmarer, nicht die kleine Niëves; verliebt in seine grauen Augen, den schwarzen Bart, seine altmodische Ritterlichkeit zu Frauen. Wenn er sich über ihre Hand beugte, um sie zu küssen, zitterte sie vor Glück und brachte ihr Entzücken laut zum Ausdruck:
»Wie sind Sie caballero, Don Ernesto! Wie sympathisch, welch ein vornehmer Typ! Wie glücklich das Mädchen, das Ihre Frau wird!«
Sehr bald hieß dies beneidenswerte Mädchen Señora Niëves Schneiderli de Praxmarer, saß mit langem Rock, aber im Herrensattel, auf einem reichgezäumten, leichten Pferd und nahm mit lauten Küssen Abschied von Eltern und Geschwistern. Professor Schneiderli donnerte zwei Revolvermagazine leer, und Ernesto erwiderte den Salut. Pferd und Reitkleid waren Niëves' Mitgift, was sie an Mädchenkitteln besaß, hatte sich in die Lasten auf Ernestos Tragtier leicht hineinstopfen lassen. Aber nach zehn Minuten Galopp, kaum außer Sichtweite der Heimathacienda, streifte sie auch diesen pompösen Rock ab, ohne aus dem Sattel zu steigen, band ihn als Fahne an den Reitstock und spornte ihren Leone. 13
»Fang mich, Chaibeli, wennscht reite kannscht!«
Um das Tragtier brauchte Ernesto sich nicht zu kümmern, das trottete nach, seit vielen Jahren, wohin er seine Stute laufen ließ. Er spornte und zog die Knie an wie ein Herrenreiter, sah die flatternde Fahne in den Wind geschleuderter Wohlanständigkeit und darunter seine Frau, die er erst einmal geküßt hatte, in Reithosen, das braune Pagenhaar gesträubt, die Arme gereckt, hörte ihr Urwaldkonzert von Singen und Lachen, Wiehern und Blöken. Dem jagte er nach.
In einer Kurve der schmalen Reitbahn preschte er so furchtlos drauflos, daß sie ihren Vorsprung einbüßte.
»Mich kriegscht nit!« hatte sie eben noch triumphiert, da hatte er sie, erst nur mit einer Hand, während die Pferde Flanke an Flanke tobten, dann mit beiden Armen, die er fest um ihren Leib warf. Sie wehrte sich, aber er war stärker, als sie gedacht, riß sie vom Leone, schwang das tüchtige, derbe Mädchen, warf es vor sich quer über den Sattel.
»Räuber!« schrie sie, »Mädchenräuber!«
Dann wurde daraus:
»Räuberle!«
Noch einmal Schenkeldruck, weil dies Hinrasen an ein wenig Gefahr und mit dieser von Leben prallen Last im Arm so berauschend war! Als die 14 Stute müder ging und an dieser Lust nicht mehr teilhatte, machte Ernesto plötzlich halt, voltigierte mit einem Bein über den Pferdekopf, ohne Niëves von sich zu lassen, glitt mit ihr ins Grün. Mit Ringen und Raufen, in einer Wolke von sinnlos glücklichem Lärm, noch keuchend von diesem Ritt, fingen sie an, sich zu küssen. »Dei' Bart muß weg!« schwur Niëves. Drei Pferde mit dampfenden Flanken beglotzten sie fromm. –
Damals schien es, all das Alleinsein und Stummsein von zehn Jahren hätte seinen herrlichsten Sinn bekommen, weil es Vorbereitung war auf dies Zusammensein mit fleischgewordener Jugend. Nur einer, der an Liebesworten und Zärtlichkeiten grausam gespart, konnte Reichtümer aufbringen, wie dies Kind sie verprassen sollte. Nur wer die Last einer Herrenwürde bis zum Ekel geschleppt, konnte so kindisch und kindlich Tage und Nächte durchtollen, so Bub, so verliebt, so hemmungslos froh sein. Es fiel der Bart, es fiel die Würde, das Chefzelt mußte vom Arbeitslager weit fortgeschoben werden, damit nur Affen und Kolibris dies Dalbern und Lachen ohne Ende hörten. Sie spielten immer, spielten Vater und Mutter, Kind und Onkel Doktor, spielten junge Hunde oder junge Katzen, kämpften fauchend um ihre Suppe, kletterten in die Urwaldbäume und spielten Affenpaar. 15
Damals schien es, diesen beiden sei das Problem des Lebens gelöst. Aus Kindern würden Ernesto und Niëves Eltern von gleich lustigen Wild-Kindern werden. Er würde sich zwischen Familie und Arbeit teilen, überall seine geliebte Zigeunerheimat mit sich führen, in welche Einsamkeit den Schienenstrang zu treiben er auch kommandiert wurde.
Aber vier Wochen später kamen die beiden schon wieder in Professor Schneiderlis Hacienda angeritten, sehr still beide, sehr blaß Niëves. Zu viert ritten sie weiter nach Tucuman.
Tucuman ist ein Nest in Zuckerfeldern, an einem Fluß, altspanisch, von gutem Hochwaldduft durchweht. Dort wirken Spezialisten aller Fächer als Lehrer der medizinischen Wissenschaft. Niëves wurde durchhorcht und durchleuchtet, gemessen, gewogen, in Konsilien begutachtet; sie war die Tochter eines Kollegen, die ganze Fakultät war bemüht um sie. Schließlich kam nichts heraus, Beruhigung und ein bißchen Hygiene. Man riet Kräftigungsmittel und Luftveränderung, Seebäder, Schonung in ihren Funktionen als Frau. Sie war zu jung in die Ehe getreten, das schien das ganze.
Vielleicht wurde die lange Reise im D-Zug, bei der Niëves viel lag, sich mit Hingabe pflegen und bedienen ließ, noch schöner als der Galopp ins Leben und in die jungfräulichen Wälder hinein. 16 Frau Dolores hatte beim Abschied geweint, laut und so herzhaft, daß ihr schwarzes Kleid wie die Gesichter der abreisenden »Kinder« von ihren Tränen schimmerte. Aber sie hatte fast mehr aus Rührung über Ernestos grimmige Traurigkeit, sein schmal gewordenes Gesicht und seine unermüdliche Bereitschaft geweint, als über Niëves' Blutarmut, oder was dem Mädel sonst fehlen mochte. »Wie sehr ist er caballero! Ah, wie symphatico!« schluchzte sie noch auf dem Heimweg und jedes Mal wieder, wenn nach ihrer Tochter gefragt wurde.
Ueber Baños de Fuente strich eine Seebrise, so würzig und salzig, als könnte sie Tote lebendig machen. Niëves lachte im Wagen, sie rollten die Küste entlang, durch Felsen war ein Weg gesprengt. Die Landstraße leuchtete weiß, zog sich wie ein Wall an der Küste hin, links aus der Tiefe atmete das Meer.
Schließlich nahmen sie ihre Wohnung ganz unten am überfluteten Felsgeröll. Das Haus stieg wie ein Turm empor, über den Wall der Straße hinauf. Niëves war matt und glücklich.
»Das Bett im Meer, das Meer im Bett!«
Am Morgen kroch wirklich die Flut in kleinen, schnellen, grauen Schlangen zur Tür hinein. Bald war das Zimmer ganz benetzt, es plätscherte um Stühle und Bettpfosten; durchs Fenster sah man 17 weiße Schaumkämme der Wellen feurig gegen ein Riff stürmen, klatschend zerbrechen.
Ernesto rettete einen Handkoffer ins Bett, dann lief er ins Meer hinaus. Es war schwer, aber schön, sich vor den Brechern zu schützen, die einen gegen verwaschene, scharfkantige Felsen schleudern wollten, die See trommelte feindselig gegen seinen Rücken und scheuerte ihm die Haut rot, er war ein froher, kämpfender Mensch und rief:
»Niëves! Hier wirst du gleich gesund, Niëves!«
Aber sie kam nicht, und endlich sah er sie verzagt auf der Schwelle stehen, in einem drolligen Badeanzug, in dem sie aussah wie ein bunter Rickschahkuli in Siam.
»Warum kommst du nicht?«
Da sah er – zum erstenmal im Leben –, daß Niëves weinte! Das war so schrecklich, obgleich sie still und anmutig vor sich hinweinte. Aber es klang, als sei plötzlich alle Zukunft zerschlagen und alles Unheil gewiß.
Niëves konnte doch gar nicht weinen, sie hatte immer gelacht und getobt. Sie konnte vielleicht blasser und stiller werden, als sie in ganz gesunden Tagen war, aber um zu weinen, war sie doch viel zu sehr Niëves, Pampaskind, ein junges, sonniges Tier.
»Ich muß doch krank sein, Ernesto, sei mir nicht bös!« 18
Sie gestand wie eine Schuld, daß sie Schmerzen hatte. Sie verlor Blut und schämte sich.
Inzwischen braute draußen am Horizont etwas zusammen, die Flut zischte häßlicher, das Dröhnen der Brecher gegen Riffe und Mauern bekam einen bösen, knurrenden Ton. Gleich darauf drängte sich eine hohe Woge über die Schwelle hin, zerbrach an der Tür, warf ihren Gischt ins Bett, in die offenen Gepäckstücke, über Kleider und Wäsche.
Ein Hausknecht kam: »Schnell hinauf, gnädiger Herr, ein Zyklon!« Er raffte Gepäck. »Gnade uns Gott, gnädiger Herr!«
Aber Niëves folgte nicht, setzte sich mitten ins Zimmer auf den überfluteten Steinboden, beide Hände vors Gesicht gepreßt.
»Ich hab' doch nichts getan!«
Ein bunter Rickschahkuli, der auf seinen dicken vier Buchstaben im Strudel hockt und nichts getan hat, was den Himmel zu einem Zyklon bestimmen konnte, – machte das giftige Grün am Horizont dies lustige Bild so namenlos traurig?
Ernesto kniete sich neben sein weinendes Mädchen. »Nein, du hast nie, nie etwas Böses getan!«
Dann krachte ein Donner, als sollten die Felsen zerbrechen.
Das Sanatorium war um einen maurischen Hof gebaut, in dem Palmen wuchsen und viele Blumen. 19 Lauter schneekühle, weiße, leuchtend saubere Zimmer, eins neben dem anderen, in endloser Reihe, mit einem Zeltbau von Moskitonetz über jedem Bett, einer Madonna an weißer Sandsteinwand, weißlackierten Eisenstäben, – eins leer wie das andere. Kein Arzt, kein Patient, kein Pförtner im Haus, nur eine wilde, schwarze und üppige Schönheit von Krankenschwester in frisch gestärktem Weiß, die Niëves mit »arme Kleine« ansprach. Sie fragte nichts, bat den »Señor Gatten« nur um ein Nachthemd, zog der armen Kleinen ihr bißchen feuchtes Gewand aus. »Schön wie die Königin Helena von Spanien« sagte sie, als Niëves nackt und fröstelnd vor ihr stand.
»Welche Formen!« rief sie, die Hand erst auf Niëves Busen, dann von hinten auf ihren Hüften. »Aepfel aus dem Paradies, Señor Marido!«
»Jetzt liegen Sie gut, kleine Dame? Ich heiße Helena wie die Königin von Spanien. Wie heißen Sie?«
»Frau Niëves Schneiderli de Praxmarer.«
»Niëves?«
Die unproportioniert großen Augen der Schwester flammten Don Ernesto vorwurfsvoll an, als wäre er es, der seiner Frau den Namen gegeben.
»Niëves, Schneeflocke, Señor Ehegatte? Ich bin Castilianerin und in den Guadarramabergen geboren. Ich weiß, was eine Schneeflocke ist!« 20
Sie sprach das reinste und schönste Spanisch mit der Verve einer großen Sprechkünstlerin. Als sie zu Niëves sagte: »Sie dürfen nicht aus dem Bett, ehe der Doktor kommt«, und dann zu Ernesto: »Einen Augenblick verlassen Sie gütigst das Zimmer«, klang alles, als spräche sie Jamben.
Mit einem verhüllten Gegenstand ging sie an Ernesto vorbei, das Haupt erhoben, den Arm gereckt wie eine Königin der großen Oper.
»Sie dürfen wieder eintreten, Señor Marido.« 21