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Am Toblacher See liegt das Dorf Echtach, das sich mit Kraft zum Badeort entwickelt. Ein paar große Hotels stehen schon, und andere sind im Bau, es gibt Strandbäder und Strandmusik, lange Terrassen, auf denen es wirklich mondain zugeht und Kleider gezeigt werden wie nur irgendwo am Mittelmeer. Hinter dem Schloßhotel, einst Sitz der Grafen Echtach, im tiefen Kastanien- und Buchenpark, ist das Rokokohäuschen, in dem alle Echtachs, Jahrhunderte hindurch, ihre heimlichsten Feste gefeiert haben.
Jetzt, wo die Echtachs verkaufen mußten und eine Hotel‑A.‑G. auf ihrem Grund herrscht, sind »alle Attraktionen der Riviera« in diesem Rokoko untergebracht.
»Bis zum Schluß der mondainen Vergnügungen taghelle Straßenbeleuchtung!«
Wirkliche Roulette und Trente et Quarante sind zwar als notorische Glücksspiele nicht erlaubt, aber 80 der Pächter dieses Miniaturkasinos, von dessen Betrieb die Hoteldirektion nicht mehr weiß als die Plakate sagen, hat andere, ähnliche Glücksmaschinen erfunden. Pferdchenspiel, den Marathonläufer, die Glückspistole – es sind eigentlich keine Glücksspiele sondern einfache Fallen. Wer setzt, verliert, die wirklichen »Attraktionen der Riviera« sind damit verglichen mündelsichere Anlagen.
Es kann nicht anders sein, wenn die Direktion Miete, Reklamespesen und einen kleinen Gewinn herauswirtschaften will, denn sie hat wenig Zeit. Zwei Wochen nach Eröffnung jeder Saison kommt die Polizei, kontrolliert und eröffnet ein Verfahren wegen berufsmäßigen Glücksspiels. Der Pächter wendet ein, es handle sich um erlaubte, nicht um verbotene Spiele. Seine Maschinen und Systeme sind ganz sorgfältig dahin konstruiert, daß sie nicht unter § 522, Abs. 1 u. 2 fallen. – Zuständig ist ein Dezernat in Wien, dorthin werden die Akten geschickt. Die Hofräte der Republik prüfen sorgfältig, stellen Rückfragen, der Pächter verzögert das Verfahren nach Kräften, eilig ist es niemandem. So vergehen acht Wochen, bis endlich alle Polizei rings um den See, aus Johannes am Stein, Stuck-nach-Stuckberg, Leopoldbrunn und Annengrab, eines Nachts zusammengezogen wird, den Park umstellt, das Haus besetzt, Personal und Spieler festnimmt, Apparate und Geld saisiert. 81
Der Pächter selbst hat den Zeitpunkt gut errechnet und ist vorher in seine Heimat auf dem nahen Balkan verreist. Fürs nächste Jahr verkauft er den Tip an seinen Bruder. Personal und Spieler waren sich des Illegitimen nicht bewußt – es war ja ein öffentlich affichiertes Unternehmen – und müssen entlassen werden. In der Polizeiwachtstube werden jetzt von dienstfreien Mannschaften die netten Apparate gehütet. Der Oberwachtmeister kurbelt den Marathonläufer an und hält die Bank, die Gendarmen verlieren nach Herzenslust ihre Löhnung.
All das wiederholt sich Saison um Saison. Dr. Ayala und seine Frau gehen nur hin, um Surren und Klappern wie in Baños de Fuente einmal wieder zu hören, verstörte, gierige, weiße Gesichter zu sehen, verflossenen Illusionen nachzuhängen. Um den Balkanmann nicht mißtrauisch zu machen, setzen sie dann und wann einen Schilling, er einen auf Schwarz, sie rasch einen auf Weiß – bei zwei Zero unter acht Nummern und sechsfachem Geld als Höchstgewinn baut auch Dr. Ayala kein System auf.
Ayala hatte Praxmarer sofort erkannt, den einzigen Menschen, der am Tag der »Aushebung eines Spielernestes« völlig unbeteiligt und abweisend allein vor dem Schloßhotel saß. Er ging scheu an ihm vorbei und dachte nicht daran, zu grüßen. 82 Praxmarers Augen waren ganz leer, sahen nur Wasser und Wolken.
»Es würde ihm schrecklich sein, mich zu treffen, Felicitas?«
Sie überlegten es lange und sachlich.
»Man sah ihm an, daß er ganz allein ist, auf niemanden wartet. Vielleicht würde es ihn gerade freuen . . .«
Felicitas hatte schnell heraus, daß der Ingenieur ein großes Eckzimmer mit Bad bewohnte, das teuerste Appartement im Schloßhotel. Er hatte einen großen amerikanischen Wagen und hielt einen Chauffeur, obwohl er selbst das Führerpatent besaß.
»Versucht muß es werden, Camillo. In acht Tagen ist der Wechsel fällig!«
Bäcker-Carl ging im klassischen Trab seine gewohnte Landstraße um den See hin. Seine Vorderbeine flogen exakt wie Maschinenteile, herrlich trug er den schönsten Pferdekopf, den es in Tirol gab. Merkwürdig lässig und unproportioniert war die Hinterhand, der Rücken viel zu kurz, die Kruppe hing nach. Er hätte prachtvolle Nachzucht geliefert, aber dieses Schönheitsfehlers wegen bot niemand für einen Sprung. Auf dem Rasen aber hatte Bäcker-Carl versagt, Irrsinn in den Augen war er vor dem Zeichen vom Start gegangen, . . . zweimal, 83 hatte schließlich gebäumt, um sich geschlagen, seinen Wagen zertrümmert und war für die Dauer disqualifiziert worden.
Trotzdem verdankte ihm Ayala den Ruf des besten Pferdekenners im Land, beim Roßmetzger hatte noch niemand ein solches Tier gekauft.
Er war Sachverständiger, Mitglied des Turfvorstandes, ein bißchen Pferdehändler, Gentlemantrainer, Ratgeber am Totalisator, und hätte in besseren Zeiten mehr verdient als ein braver kleiner Badearzt. Aber der Rennsport ging noch immer zurück, nirgends war flüssiges Geld.
Camillo del Ayala und Felicitas nannten sich selbst hungrige Wölfe, die menschliche Behausungen nur umschleichen, wenn der Hunger ihre Höhle bedroht. Seit Felicitas in Trotz und Eifersucht ihr zweites Kind erzwungen hatte, waren emsige Portraitmalerei, Kunststicken und Uebersetzen, waren geheime Doktorei und stiller Pferdehandel, Zimmer vermieten und jungen Provinzlerinnen die Tore der aristokratischen Häuser öffnen, kein Erwerb mehr, der das Budget in Balance halten konnte. Er deckte kaum die Fassade.
Drei Dienstboten und ein Stallbursche erwiesen sich als unentbehrlich, auch wenn die Saison vorbei und kein Pensionsgast im Haus war. Das waren acht Münder, von Pferden und Hunden zu schweigen. Man konnte die Löhne schuldig bleiben, beide hatten 84 sie ja Glück bei den Menschen; die Dienstboten liebten sie, verrieten nie, wie hoch die Herrschaft in ihrer Kreide stand. Aber man mußte essen, gut sogar, denn schlecht genährte Menschen haben keinen Kredit, – und sie aßen zu acht.
Oft stand das Wasser bis zum Hals, versiegelt waren die alten Truhen und Teppiche, in Generationen gesammelt; im Banksafe und hoch beliehen war das Botschaftersilber; Wechsel liefen drohend umher, wurden ungern in Zahlung genommen, und von Zieltag zu Zieltag war's oft kaum ein Atemholen.
Manchmal, wenn man das Haus voll Gäste hatte, sperrten plötzlich Bäcker oder Metzger die Lieferung. Sie verlangten nicht, daß die Phantasieposten in ihren Büchern gelöscht würden, aber einmal wieder mußte ein à Conto in runder Summe mit drei Nullen geleistet werden. Dann tobte Bäcker-Carl mit seiner energiestrotzenden, herrlichen Vorderhand und dem gleichmütig zottelnden Hinterteil, immer so schnell und schneller als der Personenzug, ein paar Ortschaften durch, fort vom See, in eine fremde Stadt, holte Proviant ein. Abends wurde Palaver gemacht, Metzger und Bäcker mußten sich zur Baronin bemühen, die sie als Kind schon gekannt, deren Eltern und Großeltern sie die Hände geküßt hatten.
»Ihr seht, es geht auch ohne euch. Aber sollen wir 85 das Geld in die Nachbarschaft tragen, und ihr geht leer aus?«
Ein kleiner, letzter Kredit wurde bewilligt: Jeder, Bauer und Edelmann, glaubte an den Stern dieser mit Grazie und Selbstvertrauen gezierten Menschen, die sich so mühsam durchs Leben schlugen, so hochherrschaftlich ihre Form behielten.
Aber waren die Lieferanten aus dem Haus, dann stierte eben doch wieder ein unvorstellbarer Ruin aus den Falten jeder Gardine. Nur ein großer Schlag konnte einmal reinere Luft machen, eine hohe Partie, ein gigantischer Pump. Gläubiger war jede Bank und jedes Geschäft am See, jeder Freund und jeder Pensionär, Köchin, Kinderfrau, Stubenmädchen und Stallknecht, Steuerbehörde und Nachbarschaft; denn soviel, daß es ein paar Wochen einmal Luft gab, daß man einen Strich ziehen, ein neues Budget ausbalanzieren konnte, in dem Einnahmen und Ausgaben einander wenigstens näher kamen, – soviel gab es nie auf einmal, mochte man von oben herab oder mit Selbstmorddrohungen, als Kavalier oder als verzweifeltes Elternpaar den Pump einleiten.
Die Kinder, drei und vier Jahre alt, paßten sich stilvoll in diese zerbrechlich-vornehme Umgebung, waren zart und still, wohlgepflegt. Sie spielten in ihrer bunten Seide wie große Schmetterlinge im Garten und am Seeufer, erregten Neugier und 86 Interesse, lehnten jeden Versuch zu Zärtlichkeiten ab. Felicitas malte sie oft und kannte sie nur als Modelle. Ihre Migräne kam im Augenblick, wenn diese Schmetterlinge sich um sie wiegten. Camillo aber war ein müder, gnädiger Vater, obwohl er wußte, zu welchem Zweck Mercedes und Juanita ihm geschenkt worden. Wenn seine Brust voll Bedrängnis war und der Jammer seines im Spiel verlorenen Daseins zu mächtig wurde, legte er doch gern den Kopf an diese kleinen, emsig schlagenden Herzen.
Praxmarer wurde ausgekundschaftet und abgetastet, während er immer allein in seinem Langstuhl am Strand lag. Ayala erinnerte sich, daß er am Totenbett seiner Frau wie ein Krösus jede offene Hand gefüllt hatte. Er war sich bewußt, dieser kranken Frau gegenüber mit Heroismus die Pflicht des Arztes erfüllt zu haben. »39,8?« hatte er gefragt und war vom Spieltisch fort zu ihr gegangen, während sich turmhoch hinter ihm die Gewinne häuften, nach denen er nicht griff.
»Don Ernesto!«
Praxmarer war, als träte aus den Träumen, in die er verpuppt war bis zum Selbstvergessen, eine Gestalt hervor, die langsam, vor Augen, die es nicht glauben wollten, Körper und Leben bekam. Hier, eingerahmt von den weißkantigen Tiroler Bergen, unter lauter Menschen, die ihm fremd waren wie 87 Holz, stand ein Mann, der immer, immer auftauchte, wenn er bei Niëves war, und er war jetzt immer bei Niëves.
»Ich bin nicht mehr Arzt,« erzählte der melancholische Spieler aus Baños de Fuente. »Ihre schöne, junge Frau war mein letzter Patient.«
Praxmarer sprach kaum, aber er wollte Ayala nicht fortlassen. Als er zum erstenmal wieder von Niëves sprechen hörte, wurde ihm bewußt, daß er seit langer Zeit keines Menschen Wort mehr wirklich gehört. Das tat ihm gut, diese tiefe, weiche Stimme, dies argentinische Spanisch, das Landschaften wieder erstehen ließ, dies Wort »Doña Niëves«, das immer wieder kam, wie in Flöre gekleidet.
An diesem Abend gab es kein Morphium! Praxmarer legte sich wach und tapfer ins Bett, eine lachende, reifende Niëves vor Augen, hörte Helena sagen: »Aepfel des Paradieses, Señor«, »Es ist kein Fehl an dieser Blume Gottes . . .« . . . hörte Niëves selbst: »Du mußt heut für mich spielen, Räuberle.«
Plötzlich hatte die Welt wieder Farben und Klänge, das Bett war wieder Trost geworden, zwischen damals und heute stand eine Brücke. 88