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Joachim Dörstling war den Hang hinuntergeeilt auf das Plateau, das sich blockübersät unterhalb der Geröllhalden der drei Zinnen erstreckte. Ab und zu wandte er sich um, ob man von den beiden etwas sähe, aber er gewahrte sie nicht. Vielleicht suchte er am falschen Orte, auch hoben sich menschliche Gestalten von den Felsen kaum ab.
So ging er immer weiter hinaus über Bodenwellen, in deren Vertiefungen hier und da stagnierendes, bläulich schimmerndes Wasser stand. Als er an die äußerste Kante gekommen war, wo das Plateau gegen das Tal von Auronzo abbrach, hielt er inne und blickte in die von der Morgensonne beschienene Alpenlandschaft hinaus: ein Wechsel zwischen milden in bläulichem Dunst liegenden Tälern, wilden, abenteuerlichen Jacken, Schneehäuptern, blitzenden Eisrinnen, grünen Matten, dunklem Wald und sattblauem Himmel.
Er hatte Ähnliches noch nie gesehen. Es packte ihn. Doch nicht lange Zeit, dann dachte er wieder an die Kletternden, an Klara.
Wie konnte eine schwache Frau so etwas leisten. Er war voller Bewunderung. Und als er sich nun umdrehte und diesen klotzigen, furchtbaren Turm vor sich sah, da überlief ihn ein Schauer bei dem Gedanken, dort hinauf zu sollen.
Ungeheuer, in lauter einzelne Wände, Türme, Vorgipfel, Zacken zerfallend und doch ein Ganzes standen die Zinnen vor ihm. Jetzt gänzlich verändert die westliche links in der Verkürzung eins mit der großen. Man sah, daß sie die kleine überragte, aber den Eindruck, das zwingende Bild gab nicht der in riesigen Mauern zum Geröll niedersetzende Koloß, sondern die scheinbar dem Menschen unbezwingbare Säule, an deren grauenvoll sich emporschwingenden Turmflanken jetzt an einem armen Seil eine schwache Frau hing.
Joachim setzte sich auf einen Felsblock und starrte durch das Glas hinauf. Er konnte keine menschlichen Gestalten unterscheiden. Er suchte ängstlich Klara, Es war ihm, als hätte er tagelang ihren Anblick entbehrt. Er fühlte, er hätte ohne sie nicht lange mehr sein können, sie, die er den ganzen Winter und das Frühjahr hindurch fast täglich gesehen.
Er stellte sich ihre Augen vor, die ihn anblickten, ihren Gang: ihre Stimme klang ihm in den Ohren, und mit einemmal packte ihn eine fürchterliche Angst: wenn nun etwas passierte. Der Professor war auch nur ein Mensch. Wenn er abglitt?
Joachim dachte daran, daß die beiden zusammengebunden waren, und der Gedanke, daß sie mlteinander ein Seil verknüpfte, war ihm lästig wie Eifersucht. Er hätte mit ihr gehen sollen. Er. Ach, wenn er es nur könnte!
Und plötzlich kam ihm die Idee, ja die feste Überzeugung, er würde es auch fertigbringen. Was war am Ende dabei! Ihm wuchs der Mut. So viele kletterten in den Bergen herum, die gewiß körperlich nicht tüchtiger waren als er. Wahrhaftig, er mußte es auch können.
Eine brennende Sehnsucht überfiel ihn, sie zu begleiten.
Doch im selben Augenblick, wie er bei seinen Gedanken durchs Glas sah, erblickte er sie. Entsetzlich, oben am Gipfelturm. Sie ließ los. Klammerte sich an einem Felsblock fest. Ihre Füße schwebten frei in der Luft. Wenn nun das Seil riß?
Wie weggeblasen waren seine stolzen Gedanken. Nein, das konnte er nicht, das war ja grauenvoll auch nur mit anzusehen, und er setzte das Glas ab, herzklopfend, senkte den Kopf mit dem Entschluß, erst wieder hinaufzublicken, wenn sie oben wären.
Er zitterte förmlich um diese Frau, und in einer Sekunde ward ihm plötzlich greifbar klar, worüber er sich noch nie Rechenschaft gegeben: er liebte sie.
Da gewann er neuen Mut, hinaufzublicken. Sie waren oben. Auf dem Gipfel erkannte er durch den Görztrieder mit seiner Riesenvergrößerung deutlich die beiden Gestalten.
Nur was sie sprachen, vernahm er nicht. Wie eine quälende Pantomime kam es ihm vor. Er mußte wissen, was sie redeten, Er wollte sich den Augenblick merken und Klara später fragen.
Da ... da wandten sie sich herum. Der Professor sah zur großen Zinne hinauf. Sie starrte hinunter.
Joachim zog sein Taschentuch und begann zu winken. Keine Antwort. Da fing er an zu rufen, so laut er konnte, und nun endlich klang etwas von der Höhe herab, nur ganz fern, ganz dumpf.
Aber gehört haben mußte sie ihn, sonst hätte sie nicht geantwortet. Der Schall drang also besser hinauf als herab.
Jetzt ließ sie sich mit einemmal nieder. Der Abstieg begann. Es sah furchtbar aus.
Joachim strengte seine Sehnerven aufs äußerste an. Er biß die Zähne aufeinander, wie er sie an den grauenvollen Wänden in der Sonne jetzt scharf beleuchtet schweben sah. Und es ging so langsam, so entsetzlich langsam. Jeder Tritt wurde gesucht, getastet, probiert, gewechselt, jeder Griff an- und umgefaßt, und nur ganz, ganz allmählich schob sich der Körper weiter herab. Und jede Bewegung ging ihm durch und durch.
Jetzt kam wieder der Block, an dem er sie vorhin plötzlich entdeckt. Er setzte das Glas ab und wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn. In der Nervosität nahm er ein paar Steine auf und warf sie fort im Bogen. Aber er konnte es doch nicht ertragen, er mußte wieder hinsehen.
Doch die beiden waren verschwunden. Er schraubte an dem Glase. Er suchte ängstlich. Ein furchtbarer Schreck durchzuckte ihn. Aber im selben Moment hatte er den Professor entdeckt, der sich nur undeutlich vom Fels abhob und jetzt hinunterstieg – Klara folgend. Seine Schultern waren noch zu sehen, dann sein Hut – er war verschwunden. Endgültig. An der der großen Zinne zugekehrten Seite stiegen sie hinab.
Erschöpft stützte sich der untätige Beobachter auf die Arme und ließ den Kopf sinken.
Er lag der Länge nach ausgestreckt da in dem funkelnagelneuen Berganzuge, den er sich hatte machen lassen, um seine Freunde zu begleiten. Die Sonne glühte ihm auf den Rücken, daß die Schulterblätter förmlich juckten, und er schob sich den Hut rechts aufs Ohr, um etwas geschützter zu sein.
Seine Gedanken weilten unausgesetzt bei der Frau, die jetzt drüben die Wände hinabstieg. Er wußte, es würden noch fast zwei Stunden so hingehen, und das peinigte ihn.
Um auf andere Gedanken zu kommen, stand er auf und begann auf dem Plateau bis an den Absturz ins Tal von Auronzo zu gehen. Wie er so hinbummelte, entdeckte er ein Edelweiß, das an dem sonnigen Kalkhange wuchs. Er bückte sich danach. Ein paar Schritte weiter sah er andere. Er pflückte sie.
Er wollte ihr den Strauß anbieten, gewissermaßen als Preis für die kleine Zinne. Und nun begann er eifrig zu suchen. Er wagte sich bis hart an den Absturz heran, der tief in das Tal niederfiel. Unten blitzte ein Wasserlauf. Er wand sich und verlor sich in Sonnengeflirr, in bläulich grauen Dunst. Scheinbar ein einziger Sprung, und man war unten auf dem Boden.
Doch so schlimm konnte es offenbar nicht sein, denn mit einem Male gewahrte er an dem steilen Hang einen Menschen.
Joachim blieb unbeweglich, sich vorsichtig an eine scharfe, aus der dünnen Humusschicht ragende, weiße Dolomitkalkplatte haltend, die aussah wie ein Leichenstein.
Der Mann stieg langsam weiter. Er war fast schwarz gebrannt von der Sonne. Auf dem Kopf trug er einen von Wind und Wetter zerzausten, farblos gewordenen Hut mit herabgeschlagenen Krempen. Sein Hemd stand offen, und über der Schulter hing ihm ein gefüllter Sack.
Ehe er den Hang ganz erstiegen, warf er seine Last ab und äugte nach allen Seiten, ohne jedoch Joachim zu sehen, da er sein Augenmerk nur auf das Plateau richtete, über das knapp sein dunkler Kopf lugte.
Dann pfiff er leise, nickte und war in der Tiefe des italienischen Tales verschwunden.
Joachim hatte ihm nachgeblickt wie einer Erscheinung, und er starrte noch hinunter über den jähen Abhang, den der Italiener wie eine Katze hinabgeklettert, als oben jemand kam: ein starker, großer Mann mit blauen Augen und blondem, struppigem Vollbart, der nach unten zu breiter ward wie eine umgekehrt brennende Gasflamme. Er trug einen leeren Rucksack und einen langen, rindelosen Stecken in der Hand. Ruhig nahm er die Last des Italieners und versenkte sie in seinem Schnerfer.
Darauf wollte er langsam davongehen, als er plötzlich Joachim gewahrte. Er faßte sich sofort, blieb stehen, nahm den Hut ab, kraute sich das Haar und sagte ganz unbefangen:
»Heiß ischt's! Jesses!«
Joachim verstand kein Wort und sagte auf gut Glück:
»Ja, ich warte auf eine Partie, die auf den Zinnen ist.«
Er begann, sich an die Aussprache zu gewöhnen und gab zurück:
»Nein, ich will erst anfangen, guter Mann!«
Nun hatte wieder der Tiroler nicht verstanden:
»Wie meinen S'? Wissen S', wann der Verdienst nit war, nachher ging koaner aufi. Aber fünfzehn Gulden, wann die Tourischten halt wollen, warum sölln die Bergführer nit. San arme Bursch manche dabei. Und von Norden der Zinne kost's gar hundertfünfzig jeder Führer, hab' i g'hö'rt. Davon lebt aner 's ganze Johr, und wann man runterfallt, wie der Michl Innerkofler und der Joseph Innerkofler aus Landro, wissen S', da glei drüben im Ampezzo, no do sauft man halt a paar Viertel wen'ger in sei Leben.«
Er lachte, zeigte seine gesunden, weißen Zähne, schob den schweren Rucksack ein Stück hinauf, machte ein paar ganz verschmitzte Augen und rief zum Abschied:
»Unseraner freili kann sei Viertel nur immer am sechsten Sonntag im Monat trinken. Jeder nach sein Guschto. A sakrische Hitz ischt heit. Sell bleibt nit. A Hochgwitter kommt, das fiehl i an der Luft. Schaun S' nur, daß bald hinunterkommen. Wissen S', hier oben ischt's schlecht. A Wetterläuten kann man nit anstelln und der Blitz, da verbrennt man sich dran wie an a zu heißen Polenta. Grüß Gott!«
Damit eilte er davon, dem Patternsattel zu. Joachim aber stieg, seinen Edelweißstrauß krampfhaft umschlossen haltend, das Geröll zum Rastplatz am Einstieg der großen Zinne hinan.
Er war ganz außer Atem, als er oben bei den Rucksäcken, Pickeln und Stiefeln wieder ankam, die noch immer ihrer Besitzer harrten.
Inzwischen hatte sich der Himmel verändert, als sollte die Prophezeiung des Schwärzers, der trotz seines dunklen Geschäftes so treuherzig mit seinen blauen Augen in die Welt schaute, in Erfüllung gehen. An dem bisher wolkenlosen Firmament zogen weiße Dunststreifen hin, und mit einem Male wurde es einen Grad finsterer, als würde in einem Saal ein Teil der Gasflammen ausgelöscht: die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden.
Joachim wurde ungeduldig. Kamen sie denn immer noch nicht? Er blickte, sich fast den Hals verrenkend, zur kleinen Zinne empor: Der schmale Himmelsraum zwischen den drohenden Felswänden war durch Nebel verhüllt, während der Blick hinausging in die immer gleichmäßig sonnenstrahlende Ferne. Nur das Gebiet des Zinnenmassivs schien verfinstert zu sein.
Da endlich entdeckte Joachim die Absteigenden. Fast zu gleicher Zeit ging eine Steinsalve los, prasselte, knatterte, lief, kam wieder zur Ruhe. Und nun vernahm er auch ihre Stimmen. Er hörte, wie der Professor rief:
»Vorsicht! Nicht so schnell ....«
Klara antwortete:
»Wir werden naß.«
Er:
»Immer besser als sich den Fuß vertreten oder ....«
Sie: »Aber es ist doch jetzt ganz gemütlich. Das Schwere ist ja vorbei!«
Er:
»Ganz gleich, Kläre. Man muß auch an den leichtesten Stellen vorsichtig sein ....«
Joachim ärgerte sich über ihn. Er war so pedantisch. Warum der großartigen Frau, die so etwas geleistet, nicht ihren Willen lassen. Aber das war seine Art: sie konnte es ihm nie recht machen. Und der Wartende rief, als wollte er seinen Freund hindern, weiterzusprechen, so laut er konnte ein Hohohoho nach dem Felsen hinüber.
Klaras helle Stimme klang:
»Wir kommen!«
»War's schön?« fragte er. Sie blieb in den Schroffen stehen, legte beide Hände auf die Brust und rief laut atmend:
»Ach, wunder-, wunderschön!«
Hinter ihr ein Stück höher stand der Professor, der das Seil nun fast aufgewickelt über der Achsel trug und seine Frau ganz kurz gefaßt hatte. Er strahlte über das ganze Gesicht.
»Die erste Tour das Jahr! Und ein guter Anfang.«
Joachim aber fragte, während sie weiter abwärtsstiegen:
»Hat sie's gut gemacht?«
»Natürlich!«
Klara verzog das Gesicht. Gerade jetzt hätte sie gern ein Wort mehr gehört, denn Herr Dörstling hatte ja keine Ahnung, was sie eben geleistet. Darum versuchte sie, das Gespräch ein zweites Mal darauf zu bringen, blieb ein paar Meter über dem Geröll in den Schroffen stehen und sagte, ein wenig kokett den Kopf wendend:
»Ich hätte doch nicht gedacht, daß die Zinne so steil ist!«
Joachim verzehrte die Gestalt dieser Frau, die eben solches geleistet, mit den Blicken. Und wie er sie genau beobachtete, sah er, daß der linke Fuß, den sie leicht nur aufgesetzt, zitterte wie im Krampf. Ihre Brust hob und senkte sich. Ihre Wangen waren gerötet. Sie hielt sich rückwärts mit der einen Hand, und er sah mit innerster Bewegung die andere zittern, beben, hin und her gehen wie das Knie.
Er hätte mögen sie an die Lippen ziehen und mit Küssen bedecken, diese kleine Hand, die sich so tapfer an den scharfkantigen, zerrissenen Felsen gehalten.
Es kam etwas über ihn, der diese Frau bisher nur immer als lässige Stadtdame gesehen, daß er seiner kaum Herr ward.
Da kletterte sie den letzten Absatz herab und sprang auf das Geröll, daß es klang wie das Laufen auf frisch beschotterter Straße. Sie eilte über die Platten, das kleine Gebröckel, Sand und Schutt des weißen Kalkstromes, der zwischen den Felsen niederzog, so schnell, daß sie ausrutschend fast an Joachim stieß und sich an ihm festklammern mußte, um nicht zu fallen.
Sie hielten sich ein paar Sekunden umfaßt, und er sagte stolz und überglücklich:
»Ich hätte das nie von einer Frau für möglich gehalten! Das war ja furchtbar, ganz furchtbar.«
Sie machte ein glückliches Gesicht:
»Hatten Sie Angst um mich?«
»Ja! Ja! Furchtbare Angst. Einmal konnte ich nicht mehr hinsehen!«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich.«
»Wann war das?«
»Da ganz oben an dem Turm.«
Sie lachte mit Augen, Mund, den Wangen, dem ganzen Antlitz:
»Aha, der Zsigmondykamin!«
Er versicherte noch einmal:
»Das war wundervoll, aber doch furchtbar!«
Strahlend, mit geröteten Wangen, heftig atmend stand sie vor ihm. Da sah sie den Edelweißstrauß in seiner Hand, den er völlig vergessen hatte:
»Oh, das ist schön! Haben Sie das hier gefunden?«
»Ja, dort drüben!«
»Ist das für mich?«
Er gab ihr die weißen, weichen, silbrig glänzenden Blumen:
»Es sollte der Siegespreis sein!«
Sie nahm sie in die Hand, strich darüber und sprach gedehnt:
»Die hebe ich mir auf als Erinnerung an die kleine Zinne!«
Dann steckte sie den Strauß an den Gürtel und setzte sich, um die Kletterschuhe von den Füßen zu bekommen. Joachim wollte niederknien, ihr die Dienstleistung zu tun, doch sie empfand es mit feinerem Frauenverständnis als nicht passend und sagte:
»Danke, mein Mann zieht sie mir aus!«
Der aber stand ein Stück davon, noch immer die Seilschlinge in der Hand. Er lächelte. Auch er glückselig. Glückselig über die Gefährtin seines Lebens, die etwas konnte, das beinah keiner andern Frau gegeben war. Er lächelte stolz. Aber er sagte nichts. Er behielt alles und vielleicht desto tiefer in seinem Herzen.
Dann kniete er nieder, um die Schnürsenkel zu lösen und über den zarten, kleinen Fuß die schweren, nagelbeschlagenen, fettgetränkten Bergstiefel zu ziehen, die besser geeignet waren, den Stoß von scharfen Steinen und nachrutschenden Platten im Geröll auszuhalten.