Georg Freiherr von Ompteda
Aus großen Höhen
Georg Freiherr von Ompteda

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19.

Sie hatten am Köpfl sich nicht aufgehalten. Die Kamine waren vorübergegangen, und sie standen auf dem unteren Bande am Rastplatz, als wäre das alles ein Traum gewesen. Das folgende Stück, zurück über das Band zum Paß, erschien Joachim wie ein ebener, bequemer Spaziergang. Doch als sie wieder Schnee und Eis betraten, mußte er sich von neuem gewöhnen.

Und jetzt blies nach all dem Sonnenbrande ein kalter Wind. Im Schatten zwischen den hohen Felswänden war es eisig.

Aber rastlos ging es weiter. Über den Paß stiegen sie. Der Gletscher tat sich vor ihnen auf. Sie folgten den Stufen, die von den beiden vorangegangenen Partien schon breit, tief, bequem getreten waren.

»Aufpassen! Jetzt!« warnte Jörgl, als sie an die ersten Spalten kamen.

»Vorsichtig auf die Schneebrücke treten!« rief er noch einmal. Dann, als Joachim zögerte, das über die blau und grün dämmernde Spalte gebogene, gewölbte, dünne Eisbauwerk der Natur zu betreten:

»Es hält, 's ischt dick heuer. Und i halt a.«

Er trat darauf. Er schloß halb die Augen. Er war drüben.

Der Professor folgte langsam mit Klara, ab und zu mit einem Blick nach rechts zu den Turmwänden und Zacken des Popena. Endlich waren sie über den Gletscher hinab, der in schmutzig graue Moränen auslief.

Als sie das Geröll betraten, wurde haltgemacht und das Seil abgelegt. Joachim atmete auf. Er sagte zu Klara, nun er alle Fährlichkeiten hinter sich wußte:

»Oh, das ist allerdings ein schöner Berg!«

»Nicht wahr?« meinte sie, und er las den Dank dafür, daß er mitgegangen, aus ihren Augen. Da trat der Professor zwischen sie und erklärte, er müsse sich jetzt von ihnen trennen. Seine Pflicht rufe ihn.

»Die Pflicht?« fragte Klara erschrocken. Sie liebte das Wort nicht. Es erinnerte sie an die ersten Jahre ihrer Ehe, wenn ihr Mann, statt zu einem Kosestündchen bei ihr zu bleiben, in die Klinik ging, und wenn sie ihn schmollend zurückhalten wollte, sagte: »Kläre, die Pflicht!« »Du Närrchen, die Pflicht ruft!«

Der Professor erklärte, welche Katastrophe sich wahrscheinlich am Popena abgespielt. Um ihnen vor dem Abstiege keinen Schreck einzujagen, hätten sie nicht davon gesprochen.

Klara dachte an die Befürchtung, die einen Augenblick in ihr aufgestiegen, und indem sie bald ihren Mann, bald Joachim anblickte, sagte sie, viel weniger erschrocken, als es der Professor vermutet:

»Ach, das war es!«

Dann aber ward ihr der Ernst klar, und sie rief plötzlich, indem sie sich die kleinen Hände an die Schläfen hielt:

»Mein Gott, wie gräßlich! Wie gräßlich!«

Sämtliche Partien, die auf dem Cristallo zusammengetroffen, waren jetzt hier auf dem Geröll versammelt. Von den Touristen hatte niemand eine Ahnung, auch nicht die Brüder Weber. Als sie es nun erfuhren, sagte der alte Herr zu seinem Sohne:

»Siehst du, wie gut, daß wir nicht auf den Popena gegangen sind, wie du wolltest.«

Klara wiederholte:

»Mein Gott, das ist ja gräßlich!«

Und Joachim fragte:

»Was ... was ... wird denn jetzt gemacht?«

Alle blickten nun unwillkürlich zum Popena auf, um die Stelle zu entdecken, wo der Körper lag. Man borgte sich Joachims ausgezeichnetes Glas. Die Fragen klangen, ob der Verunglückte bestimmt tot wäre, wo sich der andere befände, ob sie abgestürzt, ob Steine sie erschlagen oder eine Lawine.

Zu allem zuckten die Führer die Achseln; Sepp Kuntner trat auf dem Geröll hin und her:

»Wann s' nit allein gangen wärn, nachher wärs nit g'schehn!«

Der Professor übernahm die Leitung der Rettungs- oder Bergungskolonne. Willig räumten ihm die drei Führer den ersten Platz ein. Er fragte die Herren Hempel, Vater und Sohn, ob sie einverstanden wären, wenn Sepp Kuntner gleich hierbliebe und sie mit Hansl Unterwurzacher den Weg allein fortsetzten. Auch Jörgl sollte zurückbleiben und Klara wie Joachim sich gleichfalls dem Hansl anschließen.

Dörstling blickte unwillkürlich über eine Felsstufe ins Val fonda hinab, das sich bei Schluderbach öffnete. Der Professor erriet seine Gedanken:

»Es kommt nichts mehr. Nur ein kurzer, kaminartiger Einriß. Zwei Minuten. Und es sind noch dazu künstliche Stufen hergestellt.

Dann nahm er seine Frau beiseite:

»Kläre, ängstige dich nur nicht. Wahrscheinlich wird es schwer sein. Zu dem einen zu gelangen, den wir schon gesehen haben, und den andern müssen wir doch erst suchen. Wartet nur ruhig in Schluderbach und vertreibt euch die Zeit, daß ihr auf andere Gedanken kommt. Fahrt nach Toblach oder wohin ihr wollt! Ja, die Berge machen auch einmal Ernst. Sie rächen sich an dem, der sie nicht achtet.«

Dann reichte er Frau und Freund die Hand und blieb, auf den Pickel gestützt, stehen, nachdem er noch dem mit zu Tal gehenden Führer Instruktion gegeben, unten sofort alles zur Rettung mögliche zu veranlassen.

Angesichts der Pflicht, der ernstesten des Bergsteigers, waren alle Bedenken und Zweifel, ja fast die Erinnerung an die Blicke, die dort oben die beiden getauscht, verlöscht. Die fünf Menschen stiegen zusammen zu Tal. Ab und zu blieb einer stehen und warf einen Blick zum Piz Popena, als müßte man an den ruhigen Felsen etwas Außergewöhnliches wahrnehmen, wie man meint, einen andern Ausdruck in den Zügen eines Menschen zu finden, von dem man eben unerwartet vernommen, daß er ein Mörder ist.

Die beiden Studenten warteten ruhig, bis ihnen der Augenblick gekommen schien, dann trat der ältere an den Professor heran und fragte einfach:

»Dürfen wir mit?«

Professor Hallbauer antwortete nur den beiden bergbegeisterten, jungen Menschen, denen er sich, trotz des Unterschiedes an Jahren und Erfahrungen, nahe fühlte wie Kameraden:

»Ich habe auf Sie gerechnet.«

Sie hielten kurz Rat. Schon beim Abstiege hatten sie auf Tritte auf dem verschneiten Gletscher geachtet, um den Einstieg der beiden Engländer zu finden. Aber das Unglück war wohl schon am Tage vorher geschehen, und der in kleinen Lawinen abgegangene Neuschnee mochte die Spuren verwischt haben.

So wurde nur nach Möglichkeit erst einmal festgestellt, wo der kleine Absatz sich befinden könnte, auf dem sie den Körper entdeckt. Er lag ziemlich hoch oben, und der Professor bestimmte daher, um dem vielleicht noch am Leben befindlichen, ermatteten oder verwundeten zweiten Bergsteiger schnell Hilfe bringen zu können, daß sie sich teilen sollten. Er wollte mit den beiden jungen Leuten und Sepp vom Gletscher aus an der Nordseite einsteigen. Jörgl dagegen, der Kletterschuhe bei sich hatte, sollte auf den Paß zurück, von da auf den Popenagipfel, um einerseits festzustellen, ob der zweite Engländer etwa den Gipfel erreicht, andererseits, von oben der Unglücksstelle sich nähernd, möglicherweise denen unten Winke geben zu können.

Schnell hatte alles zu geschehen, denn es war schon drei Uhr nachmittags, und so stiegen sie zu den Felsen des Popena den Weg, den sie gekommen, wieder zurück, nicht eilend, um die Kräfte zu schonen, aber raumschaffend in ihrem gleichmäßigen Bergsteigerschritt, ohne eine Sekunde zu rasten.


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