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Oben auf dem Zimmer schob Klara sofort den Riegel vor. Erst dann atmete sie auf und blickte sich ruhiger um.
Ihr Mann entledigte sich schnell der Kleidung, die er ununterbrochen drei Tage lang auf dem Körper gehabt, und begann sich zu waschen. Sein Ernst wich bei dem körperlichen Wohlgefühl der Reinigung und Hauttätigkeit, und er sagte, indem er sich abrieb:
»Das tut gut.«
Klara war schon unter die Decken geglitten. Sie empfand das Bedürfnis zu sprechen, als müsse sie sich wehren gegen einen geheimnisvollen Feind. Sie wollte über die Stille hinwegkommen, eine Stimme, einen Laut hören und ihm irgendein Interesse zeigen, darum sagte sie:
»Ich will's glauben! War's denn sehr anstrengend?«
»Allerdings, es war eine entsetzliche Arbeit!«
Nun ließ er sich hinreißen von der Erregung der letzten Stunden und begann zu erzählen, indem er mehr sprach als sonst wohl in ganzen Tagen.
Er berichtete, wie sie hinaufgestiegen, zuerst fast ohne Hoffnung, die Stelle an dem Tage noch zu finden, wie aber Sepp Kuntner schließlich, vom Gipfel ein Stück an der Nordseite herunterkletternd, ihnen habe Winke geben können.
»Den einen – ich weiß immer noch nicht, welcher Taylor hieß und wer Ellwood – haben wir verhältnismäßig schnell gefunden. Er hat nicht gelitten. Er sah sehr friedlich aus, als schlummere er. Den andern aber fanden wir am ersten Tage überhaupt nicht mehr. Und da mußten wir ein Biwak beziehen. Es war ganz erträglich, nur das frische Holz schwelte und machte einen fürchterlichen Qualm. Du weißt ja, Kläre, den Rauch kann ich nicht vertragen ...«
Sie hatte sich im Bett aufgesetzt, faltete über der Decke unterhalb der Knie die Hände und starrte vor sich hin. Er war dabei, den Rucksack auszupacken, und begann von neuem, ohne sie anzublicken, indem er sich bei der schlechten Beleuchtung in der Ecke über die Gegenstände beugte:
»Wie es geschehen ist, kann man wohl nur vermuten. Offenbar haben sie übrigens in Schluderbach gesagt, daß sie von Norden auf den Cristallo wollten, im eifersüchtigen Gedanken, es könnte ihnen einer zuvorkommen. All die kleinen Menschlichkeiten spielen ja leider bei solchen Touristen mit, die eine Eitelkeitssache aus dem Naturgenuß machen. Das kommt davon, wenn man die Luft dort oben nicht als Reinigung, seelisch wie körperlich, auffaßt, sondern mit seinen eigenen Tiefengedanken die Berge entweiht. Dann rächen sich die Höhen. Solche Leute weisen sie ab ...«
Wieder hatte er in seiner Art gesprochen, die den Bergen förmlich eine Persönlichkeit zuschrieb. Klara hörte mit starren Augen zu, wie er nun fortfuhr:
»Weißt du, Kläre, ich habe die Überzeugung, daß ... wie soll ich's sagen ... daß, wer den Bergen mit ... mit befleckten Händen naht, mit, mit unlauteren Absichten, mit ... Gott, hierbei spreche ich natürlich nicht von den beiden Unglücklichen, von denen ich weiter nichts weiß ... ich meine nur im allgemeinen ... wer zu ihnen mit einer Sünde kommt, einer Schuld ... dem vergelten sie's ... Das ist so wenigstens mein Gefühl. Etwa wie auf religiösem Gebiet, wer zum Tische des Herrn tritt ohne Reue ...«
Er blickte Klara an. Sie hatte einen so seltsamen Ausdruck um die Augen, daß er meinte, sie würde wohl nicht verstanden haben, und er erklärte weiter:
»An ein Fatum glaube ich ja selbstverständlich nicht. Es gibt auch eine rein mechanische, psychologische Erklärung. Nämlich: in Ausnahmeseelenzuständen paßt man nicht so auf, die Gedanken, die bei der Sache sein müßten, schweifen ab. Na, dann wird man unsicher, zerstreut, nervös, übersieht Notwendigkeiten, überschätzt kleine Schwierigkeiten und unterschätzt wieder andere. Schließlich achtet so einer nicht mehr auf Stein- oder Lawinengefahr, prüft die Beschaffenheit des Schnees nicht und nicht die Zuverlässigkeit von Tritt und Griff. Und dann – na, dann passieren jähe Katastrophen! Alles rächt sich, wenn nicht von oben, so doch vielleicht als Fügung von oben, indem wir schwachen Menschen eben mit so unzuverlässigen und leicht zu verwirrenden Sinnen ausgestattet sind. Und ich finde es schön, daß es in den großen Höhen so ist ...«
Er hatte, wie immer, zum Schlafengehen die Brille abgesetzt, was sich jetzt durch zwei feine, rote Streifen an den Schläfen zeigte. Nun konnte er das Mienenspiel Klaras nicht mehr erkennen, deren Gesicht ihm nur noch als unbestimmter Fleck erschien.
Sie saß noch mit herangezogenen Knien, den Kopf etwas gesenkt. Sie fragte mit trockener Kehle:
»Und ... wie soll es geschehen sein?«
»Der eine, größere, ist wahrscheinlich vorausgeklettert. Sie waren zusammengeseilt. Nun ist dort der Fels grauenhaft brüchig, und da werden sie wohl – leichtsinnig waren sie über alle Beschreibung, sagen die Führer – da werden sie wohl zugleich geklettert sein. Vielleicht ist dabei der untere ausgerutscht oder der obere und hat den andern, dem der Ruck bei losem Seil unerwartet kam, mitgerissen. Oder es ist ein Stück Fels ausgebrochen, das einer der Kletternden als Griff benutzte. Wer soll das auch wissen, da sie beide tot sind. Spuren, die eine bestimmte Deutung zugelassen hatten, haben wir nicht gefunden.«
Er war fertig und legte sich. Wohlig streckte er sich aus in dem Bett aus hellem Zirbelholz, das Seite an Seite neben dem andern stand. Klara blieb in ihrer Stellung. Sie schien nachzudenken. Endlich fragte sie, denn der Gegenstand ließ sie nicht los: »Ob sie wohl lange gelitten haben?«
»Nein, gewiß nicht.«
»Woher will man das wissen?«
»Sie sind zu sehr zerschlagen. Sie scheinen auch keine Bewegung mehr gemacht zu haben ...« Klara sah in das halbdunkle Zimmer mit großen Pupillen. Nur noch das eine Licht auf dem Nachttisch brannte.
»Und . . . und der Arm?« »Welcher Arm?«
»Wie wollt ihr den Arm erklären? Der eine hatte doch noch den Arm erhoben. Als lebte er. Als wollte er sich wehren. Ich habe es ja genau gesehen, wie sie kamen.«
Jetzt wußte er, was sie meinte, und sagte: »Ja so. Nun, er wird instinktiv im Sturz den Kopf haben schützen wollen gegen das Aufschlagen auf die Felsen, denn es war ein langer Fall, länger bei dem wie beim andern. Deshalb fanden wir ihn zuerst nicht. Wir haben uns eingebildet, er müßte durchaus weiter oben liegen. Dabei war er noch vierzig Meter tiefer gefallen. Man kommt oft gerade auf das Einfachste nicht. Wir zum Beispiel, ich will mal sagen zum Beispiel, zum Beispiel ...«
Er hielt inne. Ein Gedanke war ihm gekommen: die Erfahrung, die man so oft im Leben macht, daß einem Geschehnisse bei den allernächsten Angehörigen entgehen, während alle Welt sie sieht und weiß. Und in diesem Moment schoß ihm abermals die Erinnerung durch den Kopf an den entsetzlichen Blick, den seine Frau mit seinem Freunde getauscht. Und als drängte es ihn, klarzusehen, alles loszuwerden von seiner Seele, sagte er plötzlich und wendete sich dabei zur Hälfte herum zu Klara:
»Ich habe ein Beispiel. Denke dir einen Mann, der nicht ahnt und nicht sieht, daß ein anderer neben ihm seiner Lebensgefährtin Herz gewinnt. Daß auch sie von ihm betört wird. Und alle andern Menschen sehen und ahnen es. Er lebt mit ihr, er wohnt mit ihr, er sieht sie täglich – und er, nur er allein kommt nicht darauf.«
Er schwieg und blickte forschend Klara an, die sich noch mehr niederduckte, daß ihr großer, schlanker Schatten an der Wand jetzt zur Kugel zusammensank.
Eine ganze Weile regten sie sich beide nicht. Endlich fuhr er fort zu erzählen in der Stille des Abends, während alles Leben im Hotel schon erstorben war, draußen das Schweigen der Berge lag und nur ab und zu bei einem Windstoße irgendwo an der Hausfront klappend eine nicht eingehakte Jalousie anschlug:
»Der Transport war schwer! Unten ging es ja dann, da hatten wir sie in Latschenzweige eingebunden und schleiften sie wie Schlitten über den Schnee und das Geröll. Aber oben. Über Felsen tragen, nur herunterlassen, an denen wir ohne Last ganz allein nur mit äußerster Vorsicht vorwärts kamen – nein, das war unmöglich. Das hätte vielleicht noch mehr Menschenleben gekostet. Da mußten wir zu einem Notmittel greifen. Wir haben die Leichen in die Decken fest eingebunden, die uns im Biwak gewärmt hatten, und haben sie über die letzte Wand auf den Gletscher hinuntergeworfen. Zarte Rücksichten helfen da nicht, nur Tat.«
Klara richtete sich auf, stützte sich seitwärts auf beide Hände und sagte tonlos:
»Entsetzlich!«
Dann blickte sie sich im Zimmer um, durchspähte alle dunklen Ecken, und mit einem Male beugte sie sich seitwärts zu ihrem Mann, und die sonst starke Frau, die furchtbaren Abgründen in den Schlund gesehen, ohne daß eine Fiber gezuckt hätte, sagte plötzlich im Zusammenbruche der Nerven:
»Ist jemand im Zimmer?«
Er zog sie an sich.
»Weshalb?«
»Ich fürchte mich.«
Er legte den Arm um sie. Er fühlte, daß sie zitterte. Er zog sie immer näher an sich, bis ihr Kopf an seiner breiten Brust lag. Da begann sie zu schluchzen. Erst leise, kaum merklich, doch immer heftiger, lauter, daß sich ihr Busen hob und senkte, daß ihre Schultern zuckten. Schließlich brach ein Sturm über sie herein, ein Röcheln, ein lautes Jammern, ihre Augen füllten sich mit Tränen, Stöße gingen über ihren krampfhaft bebenden Leib, und die Entladung ihrer bis zum Reißen angespannten Nerven machte sich in langem Atemholen, stillem Stöhnen Luft.
Er hielt sie mit den Armen umschlossen. Er streichelte liebkosend ihr Haar. Er beruhigte sie mit Lauten und abgerissenen Worten wie ein törichtes Kind. Er forschte nicht nach dem Grunde. Er quälte sie nicht. Er sagte nur immer:
»Kläre, meine arme Kläre, meine Kläre!«
Und dann wieder:
»Närrchen, mein gutes, kleines Närrchen!«
Allmählich ward sie ruhiger. Er fühlte, daß irgend etwas in ihr vorging, aber er wollte nicht fragen. Sie würde es ihm schon von selbst anvertrauen. Und als sie nun gleichmäßiger atmete und von seinem Arm umschlossen an seiner Schulter lehnen blieb, sagte er:
»Du Arme, du Arme!«
Es war ihm, als schüttelte sie den Kopf. Doch sie antwortete nicht. Er aber fühlte plötzlich vielerlei Mannes- und Berufsselbstsucht, ward sich klar über allerhand, das er verfehlt, wie ihre Ehe sich allmählich völlig verändert hatte. Schon oft waren ihm flüchtig solche Gedanken gekommen, aber er besaß dazu keine Zeit, keine Zeit, wie auch nicht für seine Frau in den letzten Jahren.
Sein Unrecht ward ihm offenbar. Und er begann leise ihr zu erklären, er fühle, daß ihr Verhältnis zueinander nicht mehr wäre wie früher. Seit langem habe sich zwischen sie die kalte, langweilige Gewohnheit geschoben. Arbeitslast, der Ehrgeiz, etwas zu leisten, habe ihn blind gemacht gegen seine nächsten Pflichten, gegen sie.
Es war in dieser Stunde alles zusammengestimmt, um ihm die Erkenntnis zu erleichtern. Durch die halbe Dunkelheit, ja durch seinen behinderten Blick ohne Glas, weil er sie nicht sah, getrieben durch eine körperliche Müdigkeit, wie er sie noch nicht gefühlt, die ihm sogar den Schlaf von den Augen nahm, erregt durch das, was ihm noch immer wie ein Stich ins Herz vor Augen stand, jener entsetzliche, verräterische Blick am Cristallo, entlastete sich seine Seele, beflügelte sich seine Zunge, eröffnete sich sein Herz. So fand er Worte, wie er sie nie in den Mund genommen, die, vom Herzen kommend, auch zum Herzen gingen.
Er klagte sich an. Er sprach von seiner Liebe zu ihr, die noch genau so brenne wie einst in junger Ehe, die nur die Jahre gedämpft unter dem Drucke des Berufs. Er machte sich schlecht und klein, nahm alle Schuld auf seine Schullern, als ob Klara fast nur das Opfer sei, eine Märtyrerin, rein und ohne Fehler.
Das konnte sie nicht hören. Sie fühlte den Betrug gegen ihren Mann brennen, auf ihrem Gesicht, ihrem Hals, Brust, Armen, Händen, in ihrer Seele. Sie dachte an Joachim, und ein Widerwille schüttelte sie. Sie ward sich reuig bewußt, während ihr Mann ihr seine Seele ausschüttete, daß sie ihr Herz einem andern geöffnet.
Das erschien ihr so quälend, so schmachvoll, daß sie allen Mut zusammenraffte und zu antworten begann.
Sie gestand, auch sie habe eine Schuld, die sie bedrücke, auch sie müsse ihn um Verzeihung bitten. Und damit er milde verfahren sollte gegen sie, knüpfte sie immer wieder an ihres Mannes Bekenntnis an. Sie widersprach nicht seiner Selbstanklage, sie wollte sie als Waffe und Rückendeckung behalten. Und was sie von sich sagte, hüllte sie in unbestimmte Worte, daß er es halb erraten sollte.
Jeden Augenblick fürchtete sie, der Zorn möchte über ihn kommen, aber er blieb ganz ruhig.
Sie sagte, ihr Herz wäre ihm leise, ganz leise entglitten. Ganz leise habe es sich einem andern zugeneigt.
Der Name wurde nicht genannt. Sie wartete, er möchte fragen. Er fragte nicht. Er sprach nichts. Er stieß sie nicht von sich. Nur ganz unmerklich ließ der Druck seines Armes nach, mit dem er Klara umschlossen hielt. Aber er zog ihn nicht fort.
Sie sah den Augenblick voll Entsetzen kommen, wo ihn der Zorn übermannen würde, denn sie meinte, es bräche über ihn herein, unvorhergesehen, gleich jener Bergkatastrophe dort oben.
Er blieb ganz ruhig.
Da gewann sie mehr und mehr Vertrauen, und immer verschleiernd erzählte sie von ihrer Liebe. Wohin sie geführt, davon sprach sie nicht. Es wäre über ihr Vermögen gewesen. Sie wollte sich nur etwas entlasten. Mit dem Rest mußte sie allein fertig werden.
So festigte sich in ihm die Überzeugung, es wäre eine einseitige Neigung von ihr, und den Freund träfe keine Schuld. Und im Bewußtsein eigenen Verfehlens überkam ihn kein Zorn, nur tiefschmerzliches Bedauern, unendliches Mitleid mit der Frau, die ihm jahrelang die Nächste auf der Erde gewesen und es noch war. Ja, sie war es noch, war es in dieser Stunde vielleicht wieder mehr, denn seit Jahren.
Wie man sich des Wertes eines Dinges erst recht bewußt wird, wenn man es verloren hat und zufällig wiedererlangt, so fragte er sich plötzlich, was aus ihm werden sollte, wenn sie nicht wäre. Er ward ganz verstört, als ihn der Gedanke nur streifte.
Da legte er den Arm wieder fester um sie. Er begann ihr zuzureden, es würde vergehen, sie solle sich nur Zeit gönnen. Er sprach mit ihr wie mit einer Kranken, immer in der Meinung, nur ihre Seele habe teil, nur ihre Seele.
Er ließ ihr braunlockiges Haar wie ein junger Verliebter spielend durch die Finger gleiten. Sie schmiegte sich an ihn wie an einen Halt, das einzig Sichere, das es ihr noch zu geben schien. Und diese beiden Menschen, die Jahre hindurch sich einander entwöhnt, fanden sich plötzlich wieder.
Er fragte ängstlich, vorsichtig:
»Hast ... hast du ihn denn wirklich so ... so lieb?«
Sie entwand sich ihm plötzlich:
»Ich hasse ihn.«
«Du – hassest ihn?«
In der Atemlosigkeit ihrer Erregung rief sie ein zweites Mal:
»Ja, ich hasse ihn.«
Ganz ruhig fragte er, indem er sie wieder an sich zog:
»Was hat er dir denn getan?«
Ihre Augen blitzten beim Schein des Kerzenlichts, das ihr gerade ins Gesicht fiel. Sie bannte ihre Gedanken. Sie konnte nicht die Wahrheit sagen, und sie stammelte nur:
»Er ist schuld daran, daß ich dir das habe sagen müssen. Er hat mich in diese Unruhe gestürzt ...«
Und nach einer Sekunde Pause, immer heftiger werdend:
»Und ich sage dir, ich will ihn nicht sehen. Hörst du, ich ... ich kann seinen Anblick nicht ertragen ...«
Darauf stürzten ihr plötzlich die Tränen aus den Augen, ihre Unterlippe bebte, ihre Hand zuckte, und sie lehnte sich zitternd wieder an die Brust ihres Mannes.
Nun wußte er, wie es um sie stand: sie war krank, überreizt, nervös. Vielleicht hatte ihr die Katastrophe am Popena einen solchen Nervenschock eingetragen, daß sie das alles jetzt so ansah. Und eine große Weichheit kam über ihn. Er durfte nicht schroff sein, er mußte sie behandeln eben wie einen Kranken.
Das einmal erkannt, war es, als hülfe ihm sein Beruf. Er war ganz Arzt. Es war Neurasthenie, etwas hysterische Anlage mochte dabei sein. Die arme, arme Kläre!
Natürlich, dann war Joachim auch nicht daran schuld, und nun erinnerte sich der Professor auch genau wieder des Blickes, der ihm aufgefallen. Er kam von Klara, allein von Klara. Daß ihn Joachim zurückgegeben hätte, meinte er, sich nicht zu entsinnen. Das wäre ja auch Unsinn, barer Unsinn gewesen! Die beiden Freunde untereinander wollten sich schon einigen. Der arme Kerl konnte also nichts dafür. Sie hatte doch auch jetzt unbegründet erklärt, sie hasse den Betreffenden.
Den Betreffenden, dessen Name nie genannt worden war.
Dabei sollte es auch bleiben. Vor allem mußte Joachim die Unbefangenheit erhalten werden, und dafür wollte er schon sorgen. Er wollte es ihm nicht entgelten lassen. Im Gegenteil, gutmachen mußte er.
Wie das geschehen, was überhaupt werden sollte, das würden sie morgen sehen. Jetzt mußte nur Klara beruhigt werden.
Darum schob er sich weiter herüber zu ihr, nachdem er vorher das Licht gelöscht, bettete sie bequem, drückte sie an sich und flüsterte ihr zu:
»Es wird alles gut werden, mein Närrchen. Laß nur etwas Zeit vergehen, und dann denkst du an das alles nicht mehr. Ich will dich wieder liebhaben, Kläre, wie ich nur kann. Du, meine kleine, kleine, liebe, liebe Frau. Und paß auf, ich ... ich richte in Berlin irgend etwas ein, daß ich mehr Zeit habe für dich. Ja ... ja, laß mich nur machen. Ich werde schon Mittel und Wege finden, daß meine kleine Frau zufrieden ist ... ja ... ja ... ja ...«
Er schwieg, und ruhig lagen sie beide in der Dunkelheit da. Klaras Herz hämmerte noch, aber sie fühlte sich etwas ruhiger. Nur schlafen konnte sie nicht. Und nach einiger Zeit begann es sie zu quälen, daß sie sich, von dem Arme umschlungen, nicht bewegen konnte. Sie lauschte. Man hörte tiefe, regelmäßige, für ein Wachsein zu langsame Atemzüge.
Vorsichtig fragte sie:
«Schläfst du?«
Keine Antwort.
Sie suchte sich loszumachen, und sein Arm sank schlaff nieder.
Da krachte es irgendwo. Ein Möbel; die Diele, die Täfelung, irgend etwas. Sie schreckte zusammen. Sie dachte plötzlich an die beiden Toten, die unten, unweit des Hotels im Schuppen lagen, nebeneinander, wie sie neben ihrem Mann. Mit einem Male gewahrte sie den abwehrend, drohend erhobenen Arm in ihrer Phantasie und unter den Decken, die den Körper verhüllten, plötzlich das Gesicht.
Es war Joachim.
Sie stieß einen Schrei aus, der halb in den Kissen erstickte. Der Schläfer rührte sich nicht. Sie warf sich über ihn. Sie wollte etwas Lebendiges fühlen. Da kam ihr der grausige Gedanke, auch er wäre tot. Sie betastete ihn, sie lauschte auf seinen Atem, und er regte sich.
Nun nahm sie des Schlafenden Arm, zog ihn herüber zu ihrem Lager und hielt ihn fest. Sie wollte nur wissen, daß sie nicht allein sei.
So blieb sie keuchend liegen, immer die Blicke in die Dunkelheit nach allen Seiten gewendet, ängstlich spähend, ob nicht von irgendwoher etwas käme. Ihr Körper war feucht. Ihre Lider brannten. Immer mußte sie den Zwangsgedanken abwehren an die, die da drüben lagen, von denen der mit grauenvoll erhobenem Arm des Mannes Züge trug, an den jetzt allein zu denken ihr das Blut vor Scham in die Wangen trieb.
Gegen Morgen schlief sie ein. Aber nach wenigen Viertelstunden fuhr sie empor, und sie fühlte, wie ihr Herz klopfte. Doch sie ward sofort ruhiger, denn durch die geschlossenen Jalousien schimmerte schon der junge Morgen.
Da stand sie auf, schlich sich ans Fenster, öffnete es schnell und stieß die Läden hinaus. Hastig schloß sie wieder die Läden, als fürchte sie, von draußen könne sie eine erstarrte Hand packen, sie zur Rechenschaft ziehen, sie fragen, was hast du getan hier in den Bergen, in der heiligen Natur, du, die Bergsteigerin, der die großen Höhen immer gnädig waren, weil du rein warst wie ihr Firn.
Sie setzte sich in eine Ecke, von wo sie hinausblicken konnte auf die Cadinspitzen, die fern in der Tallücke über dem verborgenen Misurinasee auftauchten, vom ersten rosigen Morgensonnenschimmer überhaucht, in Türmen, Zinnen und Brustwehren, emporragend gleich einer mittelalterlichen Feste.
Es war ihr, als dürfe sie den Bergen nicht mehr nahen, als müsse das eintreten, wovon ihr Mann gesprochen. Sonst würde ein Schwindel ihre Sinne umnebeln, ihr Fuß den Tritt nicht finden, ihre Hand den Griff nicht mehr umspannen können. Das Seil mußte reißen, an dem sie hing. Die Gletscherbrücken wie ein böser Zauber zusammenbrechen unter ihrer Last. Der Fels gab nach, den sie umfaßte. Der Schneehang löste sich in loser, pulvriger Decke über dem Eise darunter, wenn sie ihn betrat. Durch die Eisrinne, die sie querte, schoß Steinfall herab, pfeifend, wie eine Granate. Seracs, unter deren wilden Eisgebilden sie schritt, neigten sich brechend, wenn sie darunter vorübereilte.
Sie kam sich wie ein Nachtwandler vor, den man gerufen hat, der herabstürzt, weil er erweckt worden, weil ihm das Unbewußte genommen ist.
Gleich dem schuldig gewordenen ersten Menschenpaar aus dem Garten Eden, fühlte sie sich vertrieben aus der reinen Bergeswelt.
Da packte sie wieder die Angst. Sie stürzte an das Bett, rüttelte ihren Mann und rief, als müßte es im selben Augenblicke sein und sie hätte nicht eine Sekunde zu verlieren:
»Karl, laß mich fort von hier, laß mich fort aus den Bergen!«