Georg Freiherr von Ompteda
Aus großen Höhen
Georg Freiherr von Ompteda

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13.

Sie saßen zusammen vor dem Hotel Croce Bianca unter dem Sonnendach. Jetzt wieder gemessen, denn es war heller, lichter Tag, Sonnenbrand und tiefblauer, italienischer Himmel.

Am Platz schräg gegenüber, wo sich der Campanile neben der Kirche freistehend erhob, war lebhaftes Treiben.

Gäste fuhren fort. Wagen kamen an, bestaubt, mit müden, prustenden Pferden, deren Köpfe ganz grau waren in all den aufgewirbelten Kalkteilchen der Straße.

Vor dem Hotel saßen deutsche Touristinnen, die Kleider durch Riegel gerafft, Engländerinnen mit Rock, Hemdenbluse und Schoßjackett darüber, den Strohhut auf dem Kopf.

Ein Ehepaar mit Tochter erschien, alle drei mit Rucksäcken, von denen die Frau, der reine Packesel, den größten trug, das junge Mädchen einen aus hellem Leinen mit rot aufgesticktem Monogramm. Alle drei hatten verbrannte Gesichter. Sie nahmen Platz, und der Vater, in dessen glattrasiertem Gesicht eine goldene Brille glänzte, hing sich einen Plaid um, sich nicht zu erkälten.

Dann kamen drei englische Damen vorüber, mit langen Bergstöcken bewehrt, auf denen bandförmig allerlei Bergnamen eingebrannt waren. Oben an der Spitze eines jeden Stockes saß ein Gamskrickel angekittet, als sollte es den Beweis liefern, daß die Trägerinnen mit diesen unpraktischen Stecken jedenfalls auf den verzeichneten Bergen nicht gewesen sein konnten.

Ein Allerweltsmensch lief herum, der überall Bekanntschaften anknüpfte, auf jeder »Cima«, jeder »Punta«, jeder »Croda«, jedem »Monte«, jedem »Kofel« gewesen war, den Damen Kolapastillen empahl zum Steigen, und obwohl er gar keine Tour vorhatte, in Kniehosen und Nagelschuhen posierte.

Es ward immer mehr Leben. Die Stunde kam, wo die Hochtouristen von den Touren heimzukehren begannen. Ein Wagen erschien, dem eine englische Dame entstieg mit zwei großen, von der Sonne fast schwarzgebrannten Ampezzaner Führern. Seil, Rucksäcke, Pickel wurden ausgepackt.

Klara wollte wissen, wo die Dame gewesen wäre, die Kellnerin fragte den älteren der Führer, einen hochgewachsenen Mann von prachtvollem Ebenmaß der Glieder, dessen muskulöses Bein sich straffte unter der Kniehose aus englischem Stoff – offenbar dem Geschenk eines Touristen.

»Croda da Lago!« hieß es. Sofort rief Joachim hinüber, der schon Pumphosen trug, eigens für die heutige Tour angefertigt:

»Haben Sie denn da Professor Hallbauer nicht getroffen?«

Der Führer, an dessen Hut das Führerzeichen des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins mit dem großen, messingenen Edelweiß prangte, lüftete den Hut.

»Ein Herr mit dem Tschurtschenthaler. Name weiß i nit – von die Herr.«

»Ja, ja, stimmt. Nun, sind sie noch nicht zurück?«

Der Ladiner meinte lächelnd:

»Der Herr geht noch auf Becco di Mezzodi.«

Klara sagte mit leichtem Stolz:

»Das ist was für ihn. Gleich noch einen zweiten Berg!«

Der Führer sprach leise mit der Kellnerin, eine Ampezzanerin mit tiefer, breiter Frisur, zwei silberne Nadeln hindurchgesteckt, und weißen Puffhemdärmeln mit roten Bündchen gerafft, daß der Unterarm bloß blieb. Sie nickte, dann trat er an Klara heran, lüftete etwas linkisch abermals den Hut und sagte, er habe eben gehört, sie wäre die Frau von dem Herrn auf der Croda. Er ließe ihr nämlich sagen, sie sollten nicht auf ihn warten, er käme mit Tschurtschenthaler etwas später direkt nach Tre Croci.

Dann entschuldigte er sich, nicht gleich gewußt zu haben, daß sie »die Frau« wäre. Er habe gemeint, der Herr – dabei blickte er Joachim an – wäre der Mann.

Dann hing sich der eine Führer das Seil, der andere den Rucksack um, sie schulterten die Pickel wie Gewehre und gingen in kniegebogenem, langsamem, etwas wiegendem Schritte davon.

Klara und Joachim durchzuckte im gleichen Moment dasselbe Gefühl: er war für den Mann gehalten worden.

Sie lächelte und ließ auf seinen hübschen, feinen Zügen das Auge ruhen, während ihn ein unbestimmtes Gefühl überkam, Bangigkeit und doch Glück, Freude, Stolz.

Nach der Mahlzeit bummelten sie von einem Ende der einzigen Straße des Ortes zum andern; sie besahen Photographien und Ausrüstungsgegenstände.

»Sie sollten sich einen Pickel kaufen! Der ist hübscher als so ein Stock«, meinte Klara. Er fand es auch. Sein Bergstock hatte neben den gebrauchsgebräunten Eispickeln der andern etwas so Zahmes.

Klara mußte ihm ein Eisbeil aussuchen. Es sah ernst, hochtouristisch aus, aber ihm dünkte es sehr schwer. Doch er freute sich wie ein Kind über den neuen Besitz.

Dann kehrten sie an die Croce Bianca zurück. Gegenüber hing eine Tafel mit den Namen der für eine Tour freien Führer auf kleinen Blechschildern, die, wenn umgeklappt, die inschriftlose, schwarze Seite zeigten. Klara erklärte es ihm.

Alles mußten sie sehen bei diesem köstlichen, tatenlosen Umherstreifen vor der eigentlichen Arbeit des Tages, dem Wege nach Tre Croci. Sie lachten verstohlen gemeinsam über Menschen, die ihnen auffielen. – Alle fielen ihnen auf. Alle fanden sie komisch, denn sie waren nur allein mit sich beschäftigt. Es schien ihnen, als verstünden sie sich allein, während alle andern Menschen ihnen fremd waren. Sie teilten ein Geheimnis, das über keines Lippen kommen durfte, das sie zusammenband, eine unübersteigliche Wand aufrichtend gegen jeden andern.

In der Ausstellung der Ampezzaner Schnitzereischule waren eingelegte Kasten und Truhen, Schmuck, Filigranarbeiten, Möbel zu sehen.

Klara begeisterte sich für einen Schmuckkasten mit Elfenbein und Metall eingelegt. Sie schlug die Hände zusammen und fand das Stück köstlich. Aber es war ihr zu teuer, und ganz verliebt in das kleine Kunstwerk gingen sie davon.

Jetzt war vermehrtes Führerleben in der Croce Bianca. In der Führerstube saßen die wettergebräunten, kräftigen Gestalten, mit den durch stete Gefahr und fortwährende Anstrengungen vor der Zeit gealterten, ehernen Gesichtern. In der Ecke standen Pickel, an der Wand hingen Seile, Rucksäcke, Kletterschuhe und Steigeisen.

Ein Führer aus Lauterbrunnen in der Schweiz, ein ruhiger Mann mit Vollbart und langen Hosen, dessen Äußeres von den Ampezzaner Führern sofort abstach, saß in einer Ecke allein am Tisch.

Der Wirt erzählte Klara und Joachim schmunzelnd, ein Herr habe sich den eigens mitgebracht. Er wäre ein berühmter Eisführer, und der Tourist habe gesagt, er solle mal den Dolomitführern zeigen, wie man's macht. Nun, bis jetzt hätten sie nur die Sorapiß auf dem Müllerwege versucht, aber dazu vierzehn Stunden gebraucht, und wären trotzdem nicht hinaufgekommen.

Joachim meinte, als verstünde er es ganz genau:

»Na, die Sorapiß ist aber auch nicht leicht...«

Da unterbrach ihn Klara:

»Um Gottes willen, es ist höchste Zeit!«

Er sah nach der Uhr. Und Klara ging eiligst auf ihr Zimmer, sich anzuziehen, während Joachim, der schon bereit war, mit dem Wirte stehenblieb. Er erklärte, mancher Gletschermann wäre schon in den Dolomiten gescheitert. Solche Steilheit gäbe es sonst nirgends, und die Orientierung wäre oft in dem Gewirr von Wandeln und Schroffen, Türmen, Eisrinnen, Graten und Kaminen so schwierig, daß der geborene Felskletterer dazu gehöre, hier Erfolge zu haben.

Joachim hörte nur mit halbem Ohre zu, seine Gedanken weilten bei Klara. Er war nervös, ungeduldig, gespannt auf den Weg nach Tre Croci, den ersten Anblick des Berges, der morgen sein Freund werden sollte oder sein Feind. Welches von beiden wußte er nicht, und die Ungewißheit beunruhigte ihn, daß er den Moment kaum erwarten konnte, bis sie endlich aufbrächen.

Er überlegte: sie mußte sich noch gänzlich umkleiden, da konnte wohl noch eine halbe Stunde vergehen, Wie sollte er die hinbringen?

Auf einmal kam ihm ein Gedanke: sie hatte den Kasten mit Elfenbein und Metall eingelegt so schön gefunden. Sofort stand es bei ihm fest, er wollte ihn holen für sie.

Er ging zur Ausstellung, suchte den Schmuckkasien heraus, stellte ihn auf den Verkaufstisch und zog das Portemonnaie:

»Was kostet das Ding? Ich nehme es gleich mit.«

»Zweihundert –«, antwortete der Verkäufer, der es angesichts des hohen Preises für nötig hielt, noch hinzuzufügen:

»Es ist Elfenbein eingelegt und – Silber.«

Aber Joachim achtete gar nicht darauf, sondern er, der immer viel Geld bei sich führte, zahlte, ohne ein Wort zu verlieren. Es war ja für sie. Für diese Frau hätte er alles gegeben. Und er freute sich wie ein Kind, ihr den Kasten überreichen zu können. Er nahm ihn gleich unter dem Arm mit und konnte es nicht erwarten, sie zu sehen.

Sofort ging er hinauf und klopfte:

»Sind Sie fertig?«

»Noch ein paar Minuten!« klang es von drinnen.

Er blickte sich um. Niemand war auf dem Korridor. Da legte er das Ohr an die Tür und lauschte, indem er tief atmete dabei. Er hörte ein Rascheln, wie von Kleidern. Ein seidener Rock wurde fortgelegt, und der Gedanke, sie wären nur durch die dünne Holzwand voneinander getrennt, schnürte ihm die Kehle zusammen, daß er schwer schluckte.

Wieder horchte er hinab zur Treppe. Unten sprach jemand. Ein Lachen klang. Eine Tür fiel ins Schloß, dann war alles still. Nun klopfte er leise und begann zu fragen:

»Wie lange noch?«

Schritte kamen:

»Ein paar Minuten.«

»Ich möchte Sie so gern sprechen.«

»Was ist es denn?«

»Ich ... ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«

»Etwas mitgebracht?«

»Darf ich's Ihnen nicht geben?«

Ein Zögern, dann:

»Gleich! Können Sie mir's hereingeben? Ich mache sofort auf.«

Er wartete. Lauschte. Hörte Kleiderrauschen. Horchte ins Haus. Nichts regte sich, nur von der Straße klang Räderrasseln. Schellenklirren und Peitschenknall. Nun öffnete sich die Tür, nur ein Spalt:

»Was ist es denn?«

»Eine Kleinigkeit.«

»Ist jemand draußen?«

»Nein.«

Eine Hand erschien, dann ein Gelenk, ein Unterarm. Joachim aber gab nicht den Kasten hinein, sondern faßte die Finger, senkte die Lippen darauf und hielt die Hand fest, während er sie küßte. Sie ward ihm nicht entzogen. Er ließ den Mund hinaufgleiten auf den festen, schlanken Arm. Die Tür öffnete sich etwas und gab nach in das Zimmer hinein.

Nun setzte er in der Hast den Kasten zu Boden. Er hielt nur noch den Arm. Er achtete auf nichts. Die Glut, die sich seit Monaten und Monaten gehäuft, loderte auf, daß ihm das Blut in Hirn und Wangen schoß, daß es ihm in der Halsschlagader pochte, ihm die Augen aus dem Kopf zu treten schienen.

Sie gab seinem Ziehen, seinen Küssen nach, trat vor die halbgeöffnete Tür, überließ sich ihm mehr und mehr. Sie vergaßen alles, den Korridor, die Laute unten, die Möglichkeit, daß jemand kam.

Sie überlegte nichts. Sie hatte Monate bedurft, um dahin zu kommen. Sie wollte nur ihn, der immer um sie war, sich um sie kümmerte, für sie sorgte, sie unterhielt.

Sie fühlte seine Lippen wie Feuer auf dem bloßen Fleisch. Der Bart streichelte ihre Hand. Sie sah, sie empfand seine Erregung, seine Leidenschaft.

Sie litt es, daß sein Mund ihren Oberarm berührte und ihre Schultern, daß er ihren Hals küßte, den sie ihm überließ, willenlos, wie gebrochen, wie gelähmt.

Sie war glücklich, unsäglich glücklich.

Er war glücklich, unsäglich glücklich.

Seine Augen schienen Dank und Liebe zugleich zu sprechen. Sie neigte ein wenig den Kopf. Sie schloß die Augen. Sie lehnte sich an seine Schulter, und mit einemmal schlangen sich ihre bis dahin schlaffen, willenlosen Hände um seinen Hals.

Da plötzlich klang lautes Lachen auf der Treppe. Zwei unterhielten sich und kamen nahe heran. Immer lauter, immer näher.

Erschrocken machte sich Klara los, richtete den Kopf auf. Sie waren beide verstört und wußten sich nicht zu helfen. Sie ahnten irgendeine Gefahr. Ein Ausweichen gab es nicht. Sie sahen nicht Mittel noch Wege. Einen Moment verloren sie völlig den Kopf, und in Todesangst flüsterte die Frau ihm zu:

»Komm herein, schnell...«

Er bückte sich, den Kasten noch aufzuraffen. Dann zog sie ihn ins Zimmer, und lautlos schloß sich hinter ihm die Tür.

Der Riegel fuhr vor.

Langsam, sich laut unterhaltend, kam ein dicker Herr mit einem jungen Mann die Treppe herauf, blieb auf dem Absatz des Stockwerkes stehen und atmete keuchend. Ihm war das Steigen sauer geworden.

Dann setzten sie den Gang hinunter das Gespräch fort und verschwanden im Dunkel des Flures.


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