Friedrich von Oppeln-Bronikowski
Der Rebell
Friedrich von Oppeln-Bronikowski

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3.

Brieg ging stracks zu Frau von Carsten. Das Dienstmädchen stand hochgeschürzt mit dem Spüleimer in der offenen Haustür und die ganze Treppe schwamm. Er tappte hindurch und seine nassen Fußspuren hafteten auf den Stufen. Bisher hatte er immer eine aristokratische Scheu vor Arbeit und Geldverdienst gehabt. Es war ihm peinlich, daß seine Freundin von fremden Leuten Geld nahm, und einmal, als er sie in die Küche begleitet hatte, war es ihm schrecklich zu sehen, wie die elegante Frau ein paar grobe Hantierungen vornahm. Aber jetzt schien es ihm geboten, diesen Adelsstolz zu überwinden, und er atmete herzhaft den Schmierseifengeruch ein.

Dann trat er unangemeldet in das Wohnzimmer. Frau von Carsten fuhr mit einem leichten Freudenschrei von ihrem Schreibtisch auf, und als er ihr seine Photographie überreichte, stellte sie diese voller Freude vor sich auf. Dann begann er, neben ihrem Stuhl stehend, in abgerissenen, hastigen Sätzen seine letzten Erlebnisse zu erzählen. Frau von Carsten bat ihn inständigst, sich weder mit seinem Vater noch mit seinem Kommandeur zu überwerfen. Er sollte jenem gut zureden, daß er ihm seine Erlaubnis erteilte, dann würde er seinen Abschied auch ohne Schwierigkeit durchsetzen.

»Aber mein Vater gibt mir die Erlaubnis nicht, solange ich mein mütterliches Vermögen herausfordere, und ohne dies kann ich dir nicht helfen,« diskutierte Brieg.

Frau von Carsten brach in einen Tränenstrom aus und warf sich schluchzend an seinen Hals.

»Laß mich gehen, Ferdinand,« stieß sie mit erstickter Stimme hervor. »Bleibe in deinem Berufe. Mir ist ja doch nicht mehr zu helfen. Wenn du später einmal an mich zurückdenkst, wirst du's mir danken, wie ich dir jetzt danke für alles, was du an mir tun wolltest!«

Brieg zog sie ergriffen an sich. »Du Gute, Liebe,« sagte er sanft, ihre Haare streichelnd. »Du denkst immer nur an andre und nicht an dich. Aber du sollst nicht untergehen. Ich halte dich in meinen Armen und trage dich ans Land. Lieber will ich mit dir zugrunde gehen, als dich im Stiche lassen!« Und er bedeckte ihre tränenfeuchten Wangen mit Küssen.

»Oh, was tust du,« wehrte sie ab.

»Was ich schon immer tun wollte und immer wieder tun möchte,« sagte er leidenschaftlich. »Denn ich liebe dich; ich liebe nichts mehr als dich und ich kann ohne deine Liebe nicht mehr leben.«

Frau von Carsten hob den Kopf ein wenig und blickte zu ihm auf. Durch den Tränenflor ihrer Augen brach ein warmer Sonnenstrahl wie durch Wettergewölk. »Und ich liebe dich auch,« lispelte sie, seinen Kuß erwidernd.

Da preßte er seine Lippen wild auf die ihren; ihm war, als müßte in diesem Kuß Seele in Seele überfließen. Nun war alles klar und entschieden! Nun gab es kein Zurück, kein Bedenken mehr; die Liebe gab seinem Leben Zweck und Ziel und alle Zwischenwände sanken. Ihm war, als ob er im klaren Licht stände und alle Dinge hatten plötzlich eine neue Bedeutung. »Und ich liebe dich auch« ... das Wort klang ihm immer noch in den Ohren, und er blickte ihr lächelnd in die Augen ... Wie sie so gut zu ihm aufschaute, in Tränen lächelnd, so reizend verwirrt und doch so vertrauensvoll und dankbar! hier bedurfte es keiner Worte mehr und beide umarmten sich nochmals in seligem Schweigen.

Dann löste Frau van Carsten sich sanft aus seinen Armen. Sie hatte draußen Stimmen gehört und alsbald steckte die kleine Anna ihr Köpfchen neugierig ins Zimmer. Die Mutter tupfte sich hastig mit ihrem kleinen Spitzentuch die Wangen. Das Kind kam trällernd herein, blickte sie erstaunt an, schnüffelte am Schreibtisch herum, hob den Briefbeschwerer gedankenlos auf, um ihn dann wieder hinzusetzen, und verschwand schließlich ebenso unmotiviert, wie es gekommen war.

Frau von Carsten folgte ihm nach. Der Kadett nahm draußen im Beisein des Hauptmanns Althoff Abschied von seiner Mama und Schwester. Dann stand er stramm vor dem Vorgesetzten, der ihm herzlich die Hand schüttelte, als Anna, der kleine Racker, ihn von hinten anstieß und ihm zuwisperte: »Gib ihm doch einen Kuß, das wird ja dein Papa!« Dann lief sie wie ein kleiner Kobold in die Küche.

Frau von Carsten gab dem Kadetten freundlich die Hand zum Lebewohl und kehrte dann in ihr Zimmer zurück.

»Ja, was soll man tun?« seufzte Brieg, als sie wieder eintrat. »In zehn Tagen rücken wir zum Manöver aus.«

»Und mir hat der Wirt gekündigt,« setzte sie tonlos hinzu.

»Um so besser,« entschied Brieg nach einem kurzen Schweigen. »Dann gehen wir beide nach Berlin.«

»Aber wie und womit?«

Er schwieg bedrückt. Ohne daß es eines Wortes bedurft hätte, wußte er, daß sein Vater so etwas nie dulden würde, selbst wenn er in seinen Abschied willigte. Der bloße Gedanke, er könnte sich einer Frau ohne Geld nähern, die noch dazu zehn Jahre älter war als er, würde ihn in Raserei versetzen. Damit durfte er ihm also nicht kommen, wenn er nicht alles verderben wollte. Er mußte zwar seines Vaters Einwilligung zu seinem Abschied durchsetzen, aber alles andre bis auf gelegnere Zeit verschieben. Vielleicht, wenn der alte Herr sah, daß es ihm mit seinem neuen Beruf ernst war, und daß er vorwärts kam, würde er umzustimmen sein.

»Aber wie soll dir denn sonst geholfen werden?« gab er ihre Einwendung zurück.

»Ich lasse alles gehen, wie es will,« sagte sie mutlos. »Mehr als meine Möbel und meine Wohnung können sie mir ja nicht nehmen. Verkaufen können sie mich doch nicht. Ich will eine Stellung annehmen als Wirtschafterin oder Repräsentantin der Hausfrau und die Kinder bei Verwandten unterbringen; vielleicht kann auch eine auf dem Lande bei wohlhabenden Leuten als Schulgefährtin miterzogen werden. Ich will alles versuchen und geduldig warten, bis die Dinge klarer liegen, und wenn du mich dann noch nicht vergessen hast, dann rufe mich zu dir!«

»Ich werde dich nie, nie vergessen!« beteuerte er.

»Oh siehst du, wie schwach und schwankend ich bin!« warf sie sich vor. »Ich bin auch nicht besser als die andern und verdiene deine Bewunderung nicht. Ich müßte mich von dir losmachen zu deinem eigenen Glück und klammere mich doch an dich in meinem Jammer, um nicht unterzugehen. Ich will ja alles mit dir ertragen, wenn du mich liebst! ... Ich kann nicht mehr.«

Damit sank sie halb bewußtlos auf das Sofa. Ihre Hände tasteten mechanisch nach dem Korsett, als wollte sie es aufreißen. Brieg sah, wie sie plötzlich die Farbe wechselte, und in seiner Angst schellte er nach dem Mädchen, das mit seinem Scheuertuch in der Hand angelaufen kam und es bestürzt auf den Nipptisch warf, um seiner Herrin zu helfen.

Brieg entfernte sich diskret, als sie ihr die Taille aufknöpfte, und klopfte an der Tür seines Vaters.

Der alte Herr war gerade damit beschäftigt, eine Fliege zu fangen; er blickte seinen Sohn kalt und verwundert an.

»Nun,« sagte er in ärgerlichem Tone, »kümmerst du dich auch mal wieder um deinen alten Vater, nachdem du ihm soviel Gram bereitet hast?«

»Ich bedaure, daß ich dir Gram bereitet habe,« entschuldigte sich Brieg, indem er ihm mit niedergeschlagenen Augen die Hand reichte; »aber bei der Verschiedenheit unsrer Anschauungen und wo es sich um so wichtige Fragen handelte, waren Differenzen kaum zu vermeiden. Ich bitte dich, das zu entschuldigen.«

»So,« entgegnete der General mürrisch. »Und schließlich noch mit den Gerichten zu drohen, deinem alten Vater, der dir nichts als Liebe und Güte erwiesen hat ...«

»Es wäre mir selbst nichts schmerzlicher,« lenkte Brieg ein, »als eine gerichtliche Auseinandersetzung mit meinem Vater. Aber wenn du willst, können wir von diesem Punkt ja einstweilen absehen und vorerst nur von meiner Verabschiedung reden. Ich möchte sehr gern bis zum Manöver klar darin sehen; wir rücken bald aus und du wirst jedenfalls nicht länger allein hierbleiben; nicht wahr?«

»Nein, ich will nur noch das Sedanfest bei meinen braven Grenadieren mitmachen,« entgegnete der Vater.

Der alte Herr konnte nach Art Zornmütiger keine heftige Gegenrede vertragen, ohne nicht selbst aufzubrausen; aber wenn sein Autoritätsgefühl geschont wurde, ließ er mit sich reden, und wo sein Sohn jetzt respektvoll und gemessen sprach, lieh er ihm zu seiner Verwunderung ein ziemlich williges Ohr, wiewohl er noch immer stöhnend beteuerte, dieser Abschied wäre ein Nagel zu seinem Sarge. Schließlich sagte er sogar:

»Du mußt dir dann aber Pension ergattern.«

»Pension?« wiederholte sein Sohn etwas erleichtert. »Ich bin doch gar nicht krank.«

»Wenn auch nicht,« entgegnete der Vater. »Gehe zu euerm Militärdoktor und laß dir ein Attest ausstellen. Dem Staat darf man nichts schenken. Und dieser Notgroschen rettet dich dereinst vielleicht vorm Hungertod,« schloß er mit einem tiefen Seufzer.

Der alte Herr sah wirklich recht niedergeschlagen und gealtert aus. Er tat Brieg mit einem Male sehr leid. Er fühlte, daß er ihm unrecht getan hatte und daß er in seiner Furcht, sein Vater würde nie in seinen Abschied willigen, so maßlos gegen ihn angestürmt war. Um so mehr schmerzte es ihn, daß er ihm jetzt nicht mehr sagen konnte, wenn er nicht alles wieder verderben wollte. Dieses doppelte Spiel war seiner geraden Natur zuwider und er klammerte sich an den Gedanken, daß die Wahrheit ja doch früher oder später offenbar würde und daß er nur nicht gleich seinen höchsten Trumpf ausspielen wollte. Wie schön müßte es sein, dachte er, wenn Eltern und Kinder sich verstehen und als Menschen achten, wenn man sein Herz wie ein Buch aufschlagen könnte und ohne beschämende Winkelzüge miteinander auskäme!

Aber was half es? Hier mußte gehandelt werden, und wenn er das Ziel wollte, mußte er auch die Mittel gutheißen. Er begann also seinem Vater für seine bedingte Zustimmung zu danken und Trost zuzusprechen. Er würde schon sehen, daß dieser Schritt ihm zum Segen ausschlüge; an Fleiß wollte er es nicht fehlen lassen und begabt wäre er doch, zum Glück auch noch jung genug, um umzulernen.

»Und was hast du vor, wenn du deinen Beruf aufgegeben hast?« unterbrach ihn der Vater.

»Ich dachte zunächst an die Universität. Ich möchte etwas Gescheites lernen und dann weiter sehen.«

»Nun, dann kommst du natürlich zu mir nach Berlin,« wiederholte der Vater seinen alten Vorschlag.

Brieg widersprach diesmal nicht. Unter Umständen konnte er ja für ein oder zwei Semester bei seinem Vater wohnen, bis sich alles geklärt haben würde.

Um den Frieden auch äußerlich zu besiegeln, aß Brieg heute mit in der Pension; aber das Benehmen seines Vaters war und blieb verändert; während der Mahlzeit war er steif und förmlich, und ein paar Worte über Kunst, die Brieg mit Fräulein Schamroth wechselte, hörte er mit gleichgültiger Miene an, als ob sie nichts mehr miteinander gemein hätten.

Unter diesen Umständen ging es bei Tische recht einsilbig zu. Adolfs bevorstehende Reise mußte die Kosten der Unterhaltung decken und Agathe fauchte ihren Bruder, als er sie schadenfroh in die Rippen stieß, an: »Gott sei Dank, morgen bist du ungeratener Bengel fort.«

Frau von Carsten sah gedrückt und verweint aus; trotzdem wollte sie ihr Versprechen, mit den jungen Engländerinnen ins Theater zu gehen, nicht brechen. Brieg hatte von dem Stück, das gegeben wurde, schon durch den kleinen Grafen Limburg gehört; es war Sudermanns »Heimat« und die erste Heroine des Stadttheaters, Waldburgs Freundin, spielte die Hauptrolle darin, – wie man tuschelte, ihre eigene Lebensgeschichte. Brieg wäre gern mitgegangen, sowohl des Stückes wegen, wie um der Heroine willen, die seit Waldburgs Unglück sein größtes Interesse erregte, vor allem auch, weil er jeden Augenblick ausnutzen wollte, wo er mit Frau von Carsten zusammen sein konnte.

Er fragte seinen Vater also schlankweg, ob er wohl gestatte, daß er sich den Damen anschlösse; dieser entgegnete frostig, er möge tun, was er für gut halte, und reichte ihm, als er mit den Damen von Tisch aufstand, mit kalter Verneigung die Fingerspitzen.

Frau Hüppe lächelte maliziös. Sie hatte wohl gemerkt, wie der Wind blies, und nutzte geschickt den Augenblick aus, um sich dessen zu erkühnen, was der Hauptmann bisher nicht gewagt hatte.

Kaum hatten die vier das Speisezimmer verlassen, so erzählte sie dem General mit wirkungsvollem Augenaufschlag, sein Sohn wäre schon am Montag nachmittag mit Frau von Carsten gelustwandelt, und bedauerte den alten Herrn, daß er nun wieder allein bliebe.

»Ich gehe heute abend ins Stadtkasino,« brummte dieser und warf seine Serviette mit einem Ruck fort, um ebenfalls aufzustehen und das Kasino aufzusuchen.

Er war unter den alten Herren schon eine bekannte Persönlichkeit. Sofort fand sich eine Whistpartie zusammen. Sein Gegner war ein Oberst von Hochberg, ein Sechziger mit mächtigem weißen Schnauzbart und wulstigem Nacken, der rot über den weißen Kragenrand hinausquoll. In seinem blühend roten Gesicht funkelten ein Paar listige Wildschweinsäuglein. Er war bekannt dafür, daß er stets die alten Geschichten wiedererzählte, was ihn übrigens nicht hinderte, auch die Zeitung des neusten Stadtklatsches zu sein. Nach einigen Bemerkungen über das Spiel benutzte der alte Brieg eine Frage seines Partners, ob er sich in seinem Domizil wohl fühle, zu ein paar vorsichtigen Erkundigungen über seine Wirtin. »Sie kann einem ja eigentlich sehr leid tun,« setzte er vorsorglich hinzu.

»Ach, die tut schon lange keinem mehr leid, Exzellenz,« wehrte der Oberst ab. »Die vielen jungen Offiziere, die bei ihr ein- und ausgehen, und so weiter ...«

»Aber sie ist doch als der unschuldige Teil geschieden?« fragte der alte Brieg mißtrauisch.

»Gott weiß, ob das wahr ist, Exzellenz,« achselzuckte sein Gegenüber. »Die Scheidungsakten hat keiner gesehen. Nach ihrem jetzigen Verhalten sollte man eher auf das Gegenteil schließen ... Was meine Frau da neulich wieder gehört hat – na, ich will der Dame nicht zu nahe treten,« schloß er und legte seinen gewonnenen Tric an.

Übrigens war dies nur ein rhetorischer Kunstgriff, um die Neugier der Exzellenz zu spannen, und beim nächsten Robber kam das Gespräch auf den alten Gegenstand zurück, so daß Herr von Brieg, als er am Abend zu Frau von Carsten heimkehrte, allen über sie kursierenden Stadtklatsch kannte.

Er ahnte nicht, daß an dem Skattisch nebenan der alte, verbitterte Hauptmann, mit dem er im Stadtgarten genörgelt hatte, über das gewerbsmäßige Spielen des Obersten herzog und mit verächtlichem Zucken um die Mundwinkel fragte, woher der wohl das viele Geld hätte ...


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