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Am Sedanmorgen kleidete sich Herr von Brieg zu seinem letzten Dienst, der Fußparade auf dem Paradeplatz an. Mit einer gewissen Feierlichkeit legte er das Bandelier um die bunte Ulanenschärpe an, die damals noch nicht der silbernen Feldbinde zum Opfer gefallen war. Nach der Paroleausgabe wollte er dem Kommandeur sein Abschiedsgesuch mit der Einwilligung seines Vaters überreichen und auf Grund der gestrigen Untersuchung um seine Dispensation vom Manöver bitten.
Plötzlich wurde die Tür ohne Anklopfen aufgemacht, und als Brieg sich umdrehte, stand sein Vater hinter ihm. Er wunderte sich, daß der alte Herr ihn so früh heimsuchte; es mußte wohl etwas Besonderes sein, zumal er seit dem ersten Krach seine Kasernenwohnung nicht mehr betreten hatte.
»Guten Tag, Papa, wie geht es dir?« sagte er freundlich. Aber der alte Herr zerrte, ohne eine Antwort zu geben, aus seiner Tasche einen Brief und hielt ihn seinem Sohn mit zittrigen Fingern entgegen.
»Da lies!« stieß er hervor. »Ich habe ihn eben bekommen.« Brieg entfaltete den Brief. Er war von einer ihm unbekannten, kaufmännischen Hand geschrieben. Schon beim Lesen der ersten Zeile erbleichte er.
»Als Oberhaupt Ihrer Familie werden Sie auf das unsittliche Verhältnis aufmerksam gemacht, das Ihr Herr Sohn sich nicht entblödet, unter Ihren eigenen Augen mit Ihrer Pensionswirtin, einer geschiedenen Frau von Carsten, zu unterhalten. Da er noch ein sehr grüner Mensch ist, scheint er in die Netze dieser in übelstem Ruf stehenden Dame gefallen zu sein, vermutlich auf Kosten Ihres Geldbeutels, da die Betreffende vor dem pekuniären Ruin steht und aus allem Geld zu schlagen sucht. Sollten Sie nicht gewillt und imstande sein, diesem skandalösen Treiben ein Ende zu setzen, so werden wir uns nicht scheuen, es zur öffentlichen Kenntnis zu bringen. Vorläufig geht ein Bericht an den Kommandeur Ihres Sohnes ab.
Das Sittlichkeitskomitee.«
Briegs Augen stürmten durch die Zeilen; die Buchstaben begannen zu tanzen; das ganze Zimmer tanzte und drehte sich um ihn. Er mußte sich an der Tischkante festhalten; er sah nichts mehr.
»So, mein Sohn,« rief die drohende Stimme seines Vaters, »nun weiß ich genug von deinem verkommenen Charakter, den du immer noch verteidigst und beschönigst! Also deshalb wolltest du dein Erbteil ausgezahlt haben, deshalb hast du dich innerlich von mir losgesagt, deshalb gibst du deinen angestammten Beruf auf – nur um dieser Person das Geld in den Rachen zu werfen und deinen Lüsten ungehindert nachzulaufen!«
»Vater!« schrie Brieg, durch diese Worte wieder zu sich gebracht. »Nicht weiter. Ich habe dir auf dieses feige Machwerk nur zu erwidern, daß ich zu Frau van Carsten erst seit kurzem in näheren Beziehungen stehe und daß all diese schmutzigen Anschuldigungen erfunden sind.«
»Etwas Wahres muß daran doch sein,« entgegnete der Vater barsch. Und als Brieg ihm herausfordernd ins Gesicht sah: »Ich habe mich bei hochangesehenen, glaubwürdigen Personen nach ihr erkundigt, die haben mir gleichfalls bestätigt, daß sie in ihren natürlichen Kreisen drunter durch ist ... Jedermann wird sagen: das ist ein geschlechtliches Verhältnis!«
»Vater!« wiederholte Brieg gereizt.
»Ja, mein Sohn, ich kenne das,« beharrte dieser. »In den Jahren wachen bei den Weibern die niedrigen sinnlichen Triebe noch einmal auf, und du mit deinem heißen Blut hast dich von diesem Sinnentaumel umstricken lassen und bist hineingetappt. Nun hat sie dir das Korallenhalsband um den Nacken geworfen und treibt dich dazu, deinen Abschied zu nehmen und erniedrigt dich zu ihrem Lasttier, ihrem Sklaven ...«
»Meinen Abschied hätt' ich ohnedies genommen,« fiel Brieg dazwischen. »Ich will hinaus aus dieser unfruchtbaren Enge! Und was dieses erbärmliche Machwerk betrifft, so weiß ich ganz genau, wer es auf dem Gewissen hat: das kann nur diese Person, die Frau Hüppe gewesen sein.«
»Ja, so was kriegt allerdings nur 'n Frauenzimmer fertig, solche abgefeimten Nadelstiche,« nickte der General. »Sollte dieser Brief übrigens nicht von jemand anders stammen?« fragte er, seinen Sohn bedeutungsvoll ansehend. »Vielleicht ein Racheakt von dem Mensch, dessen Briefe hier offen in deiner Briefmappe herumflogen?«
Brieg lachte. »Ach, das gute kleine Ding! Nein, Papa, das ist ausgeschlossen.«
»Nun, jedenfalls geh sofort zu deinem Kommandeur und rede mit ihm, wie diese Schmutzgeschichte am besten niedergeschlagen wird. Er hat ja auch solch einen Brief gekriegt. Du gehst natürlich gleich ins Manöver mit oder reist mit mir nach Berlin, bis alles wieder in Ordnung ist.«
Brieg blickte seinen Vater erstaunt an. »Ja, meinst du denn, Papa, ich würde Frau von Carsten jetzt im Stiche lassen? Das wäre doch eine erbärmliche Feigheit von mir! Ich werde sie verteidigen, und wenn ich mit Himmel und Hölle zu kämpfen hätte! Damit du es weißt: ich bin mit Frau von Carsten verlobt!«
Eine Sekunde herrschte Totenstille. Man hörte draußen den Posten auf und ab klirren und das Appellsignal durch die alte Kaserne gellen.
»Verlobt mit ihr!« schrie der General, mit beiden Händen an seinen Kopf greifend. »Mich rührt der Schlag! ... Oh! mich rührt der Schlag! ... Mit einer geschiedenen Frau mit drei Kindern, die nichts Rundes hat als die Augen und tief in Schulden steckt, einer Pensionsmutter, die mit allen möglichen Menschen auf einem Korridor schläft ! ... Wie oft hab' ich dich gewarnt: Verläppere dich nicht! ... Einen so wichtigen Schritt, wo deine ganze Zukunft auf dem Spiel steht, muß man reiflich bedenken! Und du – du hast mir alles verheimlicht ... Dies Weib hat dir Fußangeln gelegt und du in deiner Leichtfertigkeit und Unerfahrenheit bist hineingetappt – blind, blind! ... Ich schieß' mich tot! Ich schieß' mich tot!«
Brieg hörte diesen Auftritt erschüttert an, ohne ein Wort zu erwidern. In seiner Ratlosigkeit hatte er vulkanisch den höchsten Trumpf ausgespielt; anders, so meinte er, könnte er Frau von Carsten nicht helfen. Die Welt hatte ihm ihre Formen aufgezwungen; eine freie Liebesgemeinschaft schien ihm nicht zu verwirklichen, – beschützen konnte er sie nur als künftiger Gatte!
»O du feiger, du hinterlistiger Bengel!« fuhr der General fort, als er Atem geschöpft hatte. »Warum hast du mir das alles verschwiegen! Ihr Freund, ihr Beschützer konntest du sein – aber verlobt!«
»Da siehst du ja, was die Welt von unsrer Freundschaft hält! Sie zwingt mich, die Verlobung zu veröffentlichen!«
»Niemals geb' ich meine Einwilligung dazu!« polterte der alte Herr. »Es ist ein Wahnsinn, der sofort unterdrückt werden muß!«
»Ja, es ist ein Wahnsinn, sein Wort zu halten,« höhnte Ferdinand. »Ein Wahnsinn, zu lieben, wo kein Geld zu holen ist, ein Wahnsinn, Menschen im Unglück nicht feig zu verlassen, ein Wahnsinn, Verleumdete zu schützen ... O ja, ich kenne diesen Moralkodex der guten Gesellschaft, aber mich ekelt davor, denn er ist mit Blut und Tränen besudelt!«
»Dein Gewäsch ist gar nicht mehr mit anzuhören,« unterbrach ihn der Vater. »Ins Irrenhaus gehörst du! Gehorche, oder ich lasse dich einsperren!«
Brieg brach in ein höhnisches Lachen aus. »Ja, mich ins Tollhaus stecken und dafür noch Dank verlangen! Das nennst du Vaterliebe.«
»Für dich ist nur noch Strenge am Platz!« herrschte der General ihn an. »Ich habe mich in meiner Güte und Nachsicht von dir auf den Leim locken lassen: das muß ich jetzt wieder gutmachen durch eisernen Zwang!«
»Als ob du damit etwas notwendig Gewordenes aus der Welt schaffen könntest!« begehrte der junge Herr auf.
»Nun gut,« entschied der General, »ich werde selbst mit der Frau reden und ihr klar machen, daß ich meine Hand von dir zurückziehe; dann wird sie ja wohl einsehen, daß sie sich verrechnet hat ... Wie durfte sie überhaupt deinen Antrag annehmen, wo ich in ihrem Hause wohnte, ohne mich zu fragen, ob ich's für recht hielte, wenn du zu feige dazu warst ...« »Zu dieser Feigheit hast du mich selbst erzogen!« gab Brieg erregt zurück. »Was ich dir auch je gesagt habe von Dingen, die mich angingen und beschäftigten, stets bekam ich Vorwürfe und Verweise ... Da hab' ich schließlich gelernt, das Maul zu halten und das zu tun, was ich selbst für recht hielt ...«
»Ja, deine Illusionen!« schrie der Vater. »Lerne erst mal für dich selbst sorgen, eh du dich zu andrer Leute Helfer aufwirfst!«
»Gib mir lieber Gelegenheit zu beweisen, daß es keine Illusionen sind!« entgegnete sein Sohn, die Fäuste ballend.
»Nein, mein Sohn,« schüttelte der General den Kopf, »ohne eine gesunde materielle Basis läßt sich keine Familie gründen, und wenn man erst am Hungertuche nagt, zieht auch bald der Unfriede ein.«
»Als ob eure Vernunftehen mit der gesunden materiellen Basis glücklicher wären,« warf Brieg dazwischen.
»Ja, wenn das noch 'ne Frau wäre, die mit ihrem Manne alles durchmacht, die am Waschtrog steht und ihm die Unterhosen wäscht,« schränkte der alte Herr ein. »Aber nach allem, was ich gehört habe, ist sie luxuriös und verschuldet und sucht nichts als Geld und Genüsse ... Ganz abgesehen von ihrem Alter und ihren drei Kindern ...«
»Du bist falsch über sie berichtet,« unterbrach ihn sein Sohn, der ein Lächeln über die Unterhosen nicht unterdrücken konnte. »Wenn sie Schulden hat, so liegt das an ihrer Mittellosigkeit – ebenso wie bei mir – und nicht an ihrer Verschwendungssucht ... Und da ich aus der Ehe kein Geldgeschäft mache, wie andre Leute, so wird der Mangel mich auch nicht unglücklich machen. Ich habe meine zwei Hände und mein mütterliches Erbteil – damit werde ich mir schon den Weg bahnen.«
»Dein mütterliches Erbteil behalte ich!« entschied der Vater. »Jetzt mehr denn je. Und ich ziehe die Erlaubnis zu deinem Abschied zurück! Ich hätte deine Umsattlung, wenn auch schweren Herzens, hingenommen und dir selbst dabei geholfen. Aber jetzt, wo ich sehe, daß alles nur Farce ist ...«
»Ich bin majorenn und habe über beides mein eignes Verfügungsrecht,« unterbrach ihn Ferdinand schroff. »Ich werde meine Verlobung noch heute veröffentlichen – und wenn du mir mein Erbteil vorenthältst,« drohte er, »so weißt du, daß ich klagen werde!«
»Au, au!« schrie der alte Herr auf, wie bei einem Anfall von Hexenschuß. »Das ist der Dank für alle meine Liebe! ... Wie eine Mutter hab' ich stets für dich gesorgt und mir alle Einschränkungen auferlegt. Und nun brichst du mit deinem alten Vater wegen dieser wildfremden Person und zerstörst das ganze Familienglück!«
»Diese wildfremde Person hat mir in acht Tagen mehr Glück gebracht, als zehn Väter mit ihrer Tyrannei!« platzte Brieg heraus. Es war, als ob eine Bombe in ein Pulverfaß schlug.
»Du verlorener Sohn!« knirschte der General mit bebenden Kiefern. »Ich wollte mal sehn, wie du über meine Tyrannei zetern würdest, wenn ich dir befehlen würde, das zu tun, was du jetzt vorhast. Nichts als Trotz und Lüge hast du für mich übrig! Ich verstoße dich und sage mich von dir los! Magst du sehen, wie du allein weiter kommst mit deiner Dirne! Aber komme mir nicht wieder und bettle mich an, wenn du im Rinnstein geendet bist!«
Damit knallte er die Tür hinter sich zu und ging.