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Besuch im Wespennest

Wieder waren die Kinder im Garten des Doktor Kleinermacher. Dieter war schon immer gespannt darauf, zu erfahren, wie es der Doktor eigentlich fertigbringe, seinen Garten so schön zu beschreiben. Dessen war man sicher, wenn der Doktor erst über Kohl, Rüben und Zwiebeln spräche, dann bliebe kein Auge trocken. Er findet so packende Worte, daß man von der Begeisterung angesteckt wird. Zum Schluß schwärmt alles von Kohl, Rüben und Zwiebeln. Sicher wird es so kommen; aber wie wird der Doktor die Sache angreifen? Am besten, man macht sich keine Sorgen und wartet ab.

»Doktor, erzähle mir doch einmal etwas von deinen Küchenpflanzen. Wir wollen von Kohl, Rüben und Zwiebeln hören, von Gurken, Kürbissen ... na, du weißt ja, wie all das Zeug heißt.«

Der Doktor erzählte gern, und wenn man ihn sogar dazu aufforderte, dann erzählte er mit doppelter Lust.

»Ihr seht hier Blumenkohl und Kohlrabi, da Kohlrüben, da Rotkohl, Weißkohl, Grünkohl, Rosenkohl. Wie verschieden die Pflanzen doch alle aussehen, nicht wahr? Nur eins haben sie alle gemeinsam, nämlich das Wort Kohl. Nun muß ich euch sagen, ob Blumenkohl oder Kohlrabi, es sind alles dieselben Pflanzen. Es sind Zuchtformen einer einzigen Pflanze. Unser Grünkohl sieht der Urform noch am ähnlichsten. Diese Urkohlpflanze wächst noch manchmal wild an den Meeresgestaden, auch an den deutschen. Aus dieser Urkohlpflanze haben die Menschen in Jahrhunderten die verschiedensten Formen gezüchtet. Es ist genau so wie bei den Haushunden. Zwischen Zwergpinschern und Bernhardinern kann man auch kaum noch eine Verwandtschaft erkennen. Die Menschen sind eben Tausendkünstler.

Aber Kohl gab's schon lange. Ich habe euch mal die Geschichte von einem römischen Kaiser erzählt, der sich in den Kohl verliebte. Es gab auch einen deutschen Kaiser, der seinen Gemüsegarten genau so sorgfältig bestellte wie sein großes Reich. Ihr kennt ihn auch: es war Karl der Große. Im Jahre 812 setzte sich Karl der Große hin und schrieb seine berühmte Landgüterordnung. Er empfahl seinen Bauern, tüchtig Kohl, Mohrrüben, Zwiebeln und Obst aller Sorten zu pflanzen. Der Gemüsegarten war dem Kaiser genau so wichtig wie die hohe Politik. Soll ich mich der Tätigkeit schämen, die Karl der Große mir anempfiehlt?

Hier stehen meine Erbsen. Aschenbrödel kennt ihr doch, die Erbsen sortieren sollte. Aber da gab es mal einen berühmten Redner im alten Rom, der hieß Erbse. Ein gewisser Herr Kichererbse. Daß ich nicht kichere. Er war der berühmteste Redner aller Zeiten. Ihr kennt ihn vielleicht unter dem lateinischen Namen Cicero. Wenn ihr ihn in der Schule noch nicht gehabt habt, dann kommt er sicher noch dran.

Die Römer waren überhaupt sehr praktisch bei ihrer Namengebung. So hieß zum Beispiel ein berühmtes Geschlecht im alten Rom ›die Fabier‹. Das bedeutet weiter nichts als ›Familie Bohne‹. Die Römer waren ursprünglich nämlich ein Bauernvolk. Bauernvölker sind immer große Kriegervölker. Wir geben uns so viel Mühe mit unseren Namen. Die Kinder müssen alle Liese-Lotte oder Egon-Karl heißen. Die Römer machten sich weniger Kopfschmerzen. Sie riefen ihre Söhne Fünfter oder Sechster, ganz nach der Reihenfolge der Geburten. Und wir glauben wunder, wie vornehm das klingt: Quintus, Sextus ...

Hier sind meine Bohnen, da wir gerade von der Familie Bohne sprechen. Habt ihr mal von dem Pythagoras gehört? Komisch, Kinder, wie ich mit den Gedanken springe. Von den Bohnen komme ich auf Pythagoras. Den Lehrsatz des Pythagoras – kennt ihr den? Am rechtwinkligen Dreieck soll die Summe der Quadrate der Katheten gleich dem Hypotenusenquadrat sein. Als Pythagoras den Lehrsatz fand, soll er vor Freude den Göttern hundert Ochsen geopfert haben. Man sagt, seit der Zeit zittern alle Ochsen, wenn eine neue Wahrheit entdeckt wird. Aber Spaß beiseite, dieser Pythagoras war ein großer Philosoph. Er gründete eine Schule und verbot seinen Schülern das Essen der Bohnen. Ist das nicht komisch? Unsere grünen Bohnen schmecken doch so gut!

Na ja, die Sache findet ihre Aufklärung. Unsere grünen Bohnen gab es damals nämlich noch nicht. Die sind aus Amerika gekommen, und Amerika war damals noch nicht entdeckt. Damals wuchsen aber Bohnen, die wir heute Pferdebohnen oder Saubohnen nennen. Da drüben stehen sie. Die verbot Pythagoras seinen Jüngern. Und das erscheint mir schon verständlicher, denn für jedermanns Geschmack sind die Saubohnen nicht. Wie übersetze ich nun aber den Namen der Familie Fabius? Soll ich Familie Saubohne sagen oder Familie Pferdebohne? Auf jeden Fall ist die Saubohne eine sehr ehrwürdige Bohne..

»Au!«

»Was hast du denn. Traute?«

»Eine böse Wespe hat mich gestochen. Doktor! Du mußt mir helfen, verjage bitte die Wespe!«

»Ganz ruhig, Traute, keine heftigen Bewegungen! Die Wespe tut dir nichts. Nur wenn man sich schnell bewegt, glauben die Tiere, wir wollen sie angreifen, und dann wehren sie sich. Siehst du, Traute, jetzt fliegt sie ab. Bei Bienen und Wespen heißt es immer Ruhe bewahren, dann passiert nichts.«

»Doktor, leben die Wespen auch in einem Staat wie die Bienen?«

»Ja, die Wespen haben auch ein Staatsnest. Nur können sie ihre Zellen nicht aus Wachs bauen. Aber sie wissen sich zu helfen. Sie benagen Holz, zerkauen die Holzmasse, und daraus bereiten sie einen Stoff, der ungefähr so wie unser Papier aussieht. Die Wespen haben ein Schloß aus Papiermaché.«

»Doktor, das Papierschloß müssen wir uns ansehen.«

Auch Dieter war damit einverstanden, nur wollte er noch mehr von dem Gemüsegarten wissen. Der Doktor sollte nicht vergessen, die Erzählung vor dem nächsten Abenteuer fortzusetzen. Daß man von Kohl auf Karl den Großen komme, von der Erbse auf Cicero und von den Bohnen auf Pythagoras und Amerika, das sei doch riesig interessant. Der Doktor versprach alles. Aber nun bereitete er sich auf das folgende Abenteuer vor.

Zuerst, wo ist hier das nächste Wespennest?

Der Doktor ließ die Kinder suchen und lächelte dabei. Er hatte schon alles vorbereitet, denn wenn auch die Kinder ein Nest gefunden hätten, ohne Vorbereitungen hätten die drei Abenteurer niemals das Nest betreten dürfen. So friedfertig die Hummeln sind, so kriegerisch und angriffslustig sind die Wespen. Es kommt hinzu, daß die Wespen noch besser riechen können als die Bienen. Ein Feind wird also noch schneller erkannt. Wer den Nestgeruch nicht an sich hat, wird niedergestochen. Die Wespen machen kurzen Prozeß. Ein Bienenstaat ist ein Paradies gegen den kriegerischen Wespenstaat.

So hatte denn der Doktor einen Extrakt gebraut, dessen Geruch genau dem Geruch der Wespen entsprach. Das Wespennest befand sich in einer Erdhöhle, dicht bei einem Baum. Hier wurde ein Teller mit der Flüssigkeit des Wespenaromas niedergestellt.

Aber der Kuckuck traue den kriegerischen Wespen. Wer weiß, vielleicht macht sich doch noch eine Wespe über die drei Zwerge her. Dann ist es aus mit allen Abenteuern. So baute denn der Doktor kunstvolle Panzer, die aus Chitin bestanden. Chitin ist eine Masse, die von den Insekten, besonders von den Käfern, als Körperschutz getragen wird. Die harten Käferdeckel sind aus Chitin. Die Rüstungen hatten kunstvolle Gelenke, so daß sich die Kinder gut bewegen konnten. Selbst für ein Visier war gesorgt, damit das Gesicht geschützt werden konnte. Die zierlichen Ritterrüstungen wurden am Extraktteller niedergestellt. So, jetzt kann die Wunderflasche herumgehen.

Die drei Abenteurer schrumpften zusammen, und bald waren sie so klein wie Bienen. Wo ist denn der Teller mit der Riechflüssigkeit? Da steht er ja. Schnell hin, ehe uns eine Wespe entdeckt und sich über uns herstürzt. Die Wespen stiegen wie summende Bomber durch die Luft und sehen sehr beängstigend aus.

Der Teller wurde erreicht, und die drei stürzten sich in die Flüssigkeit, damit ihr ganzer Körper schnell ein Bad nehme und den Wespengeruch habe. Prustend und sich schüttelnd kletterten sie dann aus dem Teller.

Da stehen ja auch die Rüstungen. Die größte war für den Doktor. Der hatte sie rasch angezogen. Auch Dieter war mit der Ritterrüstung schnell fertig. Nur Traute konnte sich nicht so bald zurechtfinden. Dieter mußte ihr beim Anziehen helfen. Alle drei waren nun startbereit. Jetzt hinein in das Wespennest, doppelt geschützt durch Rüstung und Nestgeruch!

Aber, o weh! Müssen es die alten Ritter schwer gehabt haben! Vorher konnte man noch springen und laufen, jetzt aber war jeder Schritt schwer und mühsam, vom Springen ganz zu schweigen. Besonders Traute bewegte sich schwerfällig in ihrer Ritterrüstung. Aber in ihrem Kummer sah sie auf Dieter und war entzückt:

»Dieter, jetzt sehe ich dich endlich mal als Ritter. Du siehst aber schmuck aus. So ein Ritteranzug steht dir ganz gut, alles was recht ist.«

Dieter war stolz. Er wollte der Traute zeigen, wie schneidig er gehen könne, machte gewagte Schritte und – plauz, da lag er in ganzer Länge auf dem Boden. Als er sich, gehemmt durch die Rüstung, noch nicht mal allein erheben konnte, da lachte die Traute laut los: »Armer Ritter, ich habe dich zum Fressen gern. Arme Ritter esse ich nämlich sehr gerne.« Dann hoben der Doktor und Traute den armen Ritter auf.

Bei weitem vorsichtiger und ruhiger gingen jetzt die drei auf den Eingang des Wespennestes zu. Wie gefährlich nahe die Wespen herumflogen. Aber der Geruch, den der Doktor zusammengebraut hatte, schien echt zu sein – keine Wespe griff die drei Zwerge an.

Wieder hatte der Doktor seine Bakterienlampe bei sich, und als die drei in das enge Loch des Wespenstaates traten, leuchtete die Lampe hell auf.

So also sieht der Papierdom des Wespennestes aus! Aus Papiermaché hing ein riesiges Gewölbe in dem Erdloch. Im Innern des Gewölbes waren Wabenreihen dicht bei dicht angebracht. Während die Bienen ihre Waben waagerecht bauen, hingen hier die Wabenöffnungen nach unten. Wie sollen denn nur die Wespenkinder den Honig naschen? Er muß ja auslaufen.

Die Wabenplatten waren in Etagen angebracht. Der Wespenstaat war bedeutend größer als der Hummelstaat. Der Doktor sagte, so ungefähr dreitausend Staatsbürger wohnten hier im Wespennest. Der Werdegang eines Wespennestes ist sonst aber ungefähr so wie der Werdegang eines Hummelnestes. Da ist auch die Wespenmutter, die Große da! Die ging im Herbst vorigen Jahres auf die Hochzeitsreise, und dann verbarg sie sich irgendwo in der Erde oder in einer Baumrinde. Kommt der Frühling, dann gründet die Wespenmutter ihren Staat. Sie baut die ersten Zellen, zerkaut selbst das Holz der Bäume zu Papiermaché, fliegt zu den Blüten, um sich zu ernähren, legt die ersten Eier und fliegt aus, um zu überfallen und zu morden. Die ungezogenen Wespenkinder wollen nämlich, wie die Kinder bei so vielen anderen Wespen, nur Fleisch fressen. Darum können auch die Zellen nach unten offen sein. Sie sind nämlich nicht für den Honig bestimmt.

Die Wespenkinder sehen wie kleine Maden aus. Da könnt ihr welche sehen, da hängen sie mit den Köpfen nach unten in ihren Zellen. Wenn die Wespenlarven sich verpuppen, dann spinnen sie selbst ihre Waben zu. Nun schlafen sie einige Zeit in ihrer Puppenwiege, und dann kommen die fertigen Wespen hervor. Die ersten helfen bald der großen Wespenmutter. Sie pflegen die Kinder, sammeln Beute ein, und schließlich fliegt die große Wespenmutter überhaupt nicht mehr aus, sie legt nur noch Eier. Dabei wird der Wespenstaat immer größer, und es muß fortlaufend angebaut werden.

Bis jetzt wurden nur Arbeiterinnen geboren, verkümmerte Weibchen. Im Herbst aber legt die große Wespenmutter echte Weibcheneier, und auch echte Männchen werden geboren. Jetzt geht es auf die Hochzeitsreise. Im Wespenstaat stirbt dann langsam alles ab. Auch die große Wespenmutter hört mit dem Eiergeschäft auf. Zum Schluß aber kommt über die Wespen eine Raserei. Sie stürzen sich über die Waben her, reißen die letzten Larven und Puppen heraus, zerstören in sinnloser Wut alles und gehen dann schließlich selber zugrunde. Der Wespenstaat stirbt im Wahnsinn. Nur die befruchteten Wespenweibchen überleben den Winter irgendwo verborgen und gründen im Frühling einen neuen Staat. In jedem Jahre muß alles neu erarbeitet werden. Da sind die Bienen doch besser daran, die ihren Staat den Winter über lebendig erhalten.

Der Doktor hatte beim Herumklettern viel erzählt. Seine Worte aber klangen immer schwächer. Die schwere Rüstung behinderte ihn sehr stark, und Traute und Dieter stöhnten noch mehr unter der Last der Insektenritterrüstung.

»Doktor, laß uns hinausgehen. Wir können es nicht mehr aushalten. Wenn wir hier noch länger bleiben, fallen wir um und sterben. Die Ritter müssen früher wirklich Helden gewesen sein, wenn sie in solchen Anzügen auf Abenteuer ausgehen konnten.«

Der Doktor war gern dazu bereit, denn seine Rüstung war nicht genau nach Maß angefertigt, und ihn drückte es an allen Körperstellen.

Als die drei draußen im Freien saßen und ihre Helme lüfteten, beobachteten sie müde und erschöpft eine Fliege, die sich in der Sonne badete. Keiner redete ein Wort, alles schaute auf die Fliege, die da arglos in der Sonne saß.

Plötzlich kam aber doch Bewegung in die drei Beobachter. Von oben stürzte sich eine Wespe im Sturzflug auf die arme Fliege, tötete sie und riß ihr dann beide Flügel und alle sechs Beine aus. Das ging so schnell und plötzlich, daß Traute noch nicht mal Zeit zum Aufschreien fand. Ehe die Beobachter zu Worte kamen, war die Wespe schon mit der verstümmelten Fliege verschwunden. »Doktor, was hat denn die arme Fliege der Wespe getan?«

»Ich habe es euch ja schon vorhin erzählt. Die Wespen naschen Honig und Zucker, die Kinder aber schreien nach Fleisch. Die arme Fliege wird, vorgekaut, den Larven vorgesetzt. Darum stürzen sich ja die Wespen auch nicht nur über Obst- und Zuckerwaren her, sie suchen auch Fleischerläden auf. Die Wespenkinder müssen ernährt werden. Was tut man nicht alles aus Liebe zum Kind. Aber wir wollen hier weggehen. Sonst hält uns eine Wespe auch für eine Fliege und will uns verstümmelt einschleppen.«

Die drei machten ihre Helme wieder zu und stolperten mühsam von dannen. Sie wollten um den Baum herumwandern und sich auf der anderen Seite niederlassen. Da drüben werden wir uns wohl ungestörter ausruhen können. Mühselig folgten die Kinder ihrem Doktor und stöhnten schwer. Ein Glück, daß wir im täglichen Leben ohne Ritterrüstung auskommen. Ein Armeegepäckmarsch ist ein Kinderspiel gegen einen Ritterspaziergang.

Die drei hatten ihren Platz erreicht und wollten sich setzen. Aber Traute war der Boden zu feucht. Da kann man sich ja die schönste Erkältung holen! Schon wollte der Doktor weiterwandern, nun blieb er aber wieder betrachtend stehen.

»Kinder, hier müssen wir bleiben! Ich habe eine große Entdeckung gemacht. Hier befindet sich Sonnentau.«

Dieter fragte: »Wo? Doktor, das ist kein Sonnentau, das ist Wasser. Warum sagst du zu den Wasserpfützen Sonnentau?«

»Ich meine nicht die Pfützen, ich meine die Pflanze dort, die heißt nämlich Sonnentau.«

Dieter sah sich die Pflanze an. Mitten im feuchten Moos stand sie. Gewiß, sie sah sonderbar aus. Besonders die Blätter waren merkwürdig gestaltet. Auf ihnen standen nämlich lauter Stiele, und jeder Stiel hatte ein helles Tröpfchen, wie ein Tröpfchen Sonnentau. Das sah sehr nett aus. Aber wollen wir nicht weitergehen? Hier im feuchten Moos holt man sich kalte Beine. Eben wollte Dieter den Doktor auffordern, doch die dummen Pflanzen stehen zu lassen und sich einen trockeneren Platz auszusuchen, man holt sich ja nur nasse Füße. Da ereignete sich etwas, und Dieter und Traute blieben ebenso wie der Doktor staunend stehen.

Eine kleine Fliege ließ sich durch die glänzenden Tautröpfchen auf den Stielen des Blattes anlocken. Sie nahm Richtung auf ein Blatt der Pflanze und setzte sich mitten drauf. Aber nun merkte man: die »Tautropfen« sind gar keine Tautropfen, es sind klebrige Flüssigkeiten, die jedes kleine Insekt festhalten. Ängstlich wollte sich die Fliege befreien, aber nun stülpten sich alle Stengel des Blattes über ihr zusammen. Immer mehr Klebetropfen hielten sie fest. Schließlich rollte sich das Blatt so sehr zusammen, daß von der Fliege nichts mehr zu sehen war. Dieter wollte warten, bis sich das Blatt wieder öffnete. Aber der Doktor sagte: »Da kannst du lange warten, Dieter, am nächsten Tag öffnet sich das Blatt, und dann ist von der Fliege nichts mehr zu sehen: die Pflanze verdaut nämlich die Fliege.«

»Ach so, das ist eine sogenannte fleischfressende Pflanze! Dabei hört sich der Name so unschuldig an: Sonnentau.«

Der Doktor mußte wieder einiges erzählen. »Handelt die Pflanze nicht wie ein kluges Tier? Ihr müßt wissen, auf diesem feuchten, moorigen Boden steht die Pflanze, und ihr fehlt etwas an Nahrung. Was ihr der Boden nicht bieten kann, das nimmt sich die Pflanze aus dem Tierreich. Dabei unterscheidet sie sehr gut zwischen genießbarem und ungenießbarem Zeug. Legt man ein kleines Stückchen Fleisch oder Käse auf das Blatt, dann greifen die Stiele genau so zu, wie bei einem Tierchen. Legt man aber ein kleines Stückchen Holz oder Glas auf die Blattoberfläche, dann reagieren die Blätter nicht. Die kleine Sonnentaupflanze läßt sich nicht verkohlen. Aber, Dieter, du schaust so gespannt nach oben, daß du noch Genickstarre bekommen wirst. Und kalte Füße bekommst du auch. Wir wollen weiterwandern, um wieder trockenen Boden zu erreichen.«

Jetzt war es Dieter, der schwer zu bewegen war, die Fläche zu verlassen. Er betrachtete die fleischfressende Pflanze und dachte: Würde die kleine Sonnentaupflanze auch Menschen fressen? Wenn nun der Doktor der Raubpflanze zu nahe käme, dann würde er kleben bleiben, und um unseren guten Doktor Kleinermacher wäre es geschehen. Aber Traute und ich, wir würden dann zeigen was wir können und unseren Doktor von dem Fleischfresser befreien. Wir würden zerren und ziehen, bis wir unseren Freund wieder hätten, und wenn dabei die Hose des Doktors zum Kuckuck ginge. Dieter träumte Sonnentau-Abenteuer, schließlich ging er aber dem Doktor und der Traute nach. Ein Glück, daß die Ritterrüstung nicht aus Eisen ist und nicht rostet. Bei der Bodenfeuchtigkeit wäre es um eine Eisenrüstung geschehen.

Die drei Abenteurer stampften schwer durch das Moos, bis sie wieder trockenen Boden erreicht hatten. »Hier laßt uns ausruhen, jetzt haben wir aber wirklich genug gearbeitet.

Aber was ist denn da schon wieder? Sollen wir denn überhaupt keine Ruhe finden? Da liegt doch eine Maus im Sande, schon halb eingegraben. Und was da für Insekten um die Maus herum tätig find. Das ist ein Gewimmel!«

Der Doktor hatte alle Müdigkeit vergessen und beobachtete angestrengt die Vorgänge. Eine Maus hatte das Zeitliche gesegnet. Sie war jetzt mausetot und lag ausgestreckt im Sande. Nun kamen die Insekten in Scharen und wollten an der Maus ihre Eier ablegen – damit die Larven gut zu fressen haben, wenn sie aus ihren Eiern auskriechen.

Da flog die wunderschöne Goldfliege von so herrlicher Metallfarbe, daß die Kinder glaubten, noch nichts Schöneres gesehen zu haben. Da ist aber auch die graue Fleischfliege, größer als unsere Stubenfliege. Sie ist ein Sonderling unter den Insekten. Die anderen Tiere legen Eier, die graue Fleischfliege aber bringt »Würmer« zur Welt, denn schon im Mutterleib kriechen die Maden aus ihren Eiern. Da ist auch die blaue Schmeißstiege, die ihre Eier loswerden will. Man nennt die Fliege auch Brummer, denn wenn die Schmeißfliege in unseren Wohnungen Fleisch riecht, kommt sie hereingeflogen und legt ihre Eier am Fleisch ab. Beim Hinausfliegen stößt sie dann meist an die Fensterscheiben und brummt dort auf und nieder, bis zur Verzweiflung. So ein Brummer kann einem die Hölle heiß machen. Da ist auch noch die braune Pferdebißfliege zu sehen und die anderen Fliegen alle.

Im Keller aber unter der toten Maus arbeitet der schöne Totengräber, ein Käfer, der rot und schwarz gefärbt ist. Die Käfer buddeln so lange unter der toten Maus, bis sie immer tiefer einsinkt. Die Totengräber sind nette Burschen, denn sie überlassen nicht, wie es sonst in der Tierwelt üblich ist, ihren Frauen alle Arbeit, sondern packen rüstig mit an. Ist die Maus genügend tief in die Erde gesunken, dann kommen die Weibchen und legen ihre Eier. Aus all den Insekteneiern entwickeln sich Larven, die die tote Maus von innen aufzehren. Man glaubte früher an Leichenwürmer, die von selbst entstehen. Die Würmer sind aber weiter nichts als Larven von Fliegen und anderen Insekten.

Die drei Abenteurer wollten das Maus-Begräbnis erster Klasse ruhig beobachten und setzten sich dabei hin. Aber kaum saßen sie, da zog es in allen Gliedern, es juckte und preßte, und der Doktor rief:

»Kinder, schnell! Die Rüstungen ausziehen! Wir wachsen!«

Die Kinder wollten auch, aber das Wachstum setzte so plötzlich ein, daß ihre Körper gegen die Panzer gedrückt wurden. Es tat ziemlich weh, dann aber sprengten die wachsenden Körper die Ritterrüstungen.


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