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Tiere, die reichlich angeben

Der Doktor war Dieter noch lange etwas böse. Oftmals hielt er dem Jungen eine »Standpauke«, wie Dieter sagte, und Dieter war dabei immer sehr beschämt.

Wie konnte er auch nur! Wie leicht hätte ihm ein Unglück zustoßen können! Und dann, wenn der Doktor oder Traute ihn getreten hätten –? Sie hätten Dieter zerquetscht und es nie gewußt, daß sie den Jungen umbrachten. Der Doktor entwickelte seine Lebensphilosophie, sooft er mit dem Jungen sprach. Wenn Menschen gütig sind, wenn sie sich freundlich zeigen, ja wenn sie schüchtern sind, dann glaubt jeder ein Held zu sein, sobald er dem freundlichen Menschen entgegentritt. Dagegen ducken sich die gleichen Helden, wenn ihnen ein frecher, anmaßender Mensch entgegentritt. Man nennt solche Gestalten im Leben Radfahrertypen. Nach unten treten sie, und nach oben ducken sie sich. Das kann man schon in der Schule beobachten. Die Schwächlinge unter den Kindern werden gehänselt und geschlagen. Die Schneeballschlacht geht immer gegen die Mädchen, gegen die »Gummipuppen«. Die Mädchen müssen immer flüchten, wenn sie aus der Schule kommen und in den Straßen Schnee liegt. Was ein richtiger Junge ist, der soll doch mal einem echten »Rabauken« gegenübertreten. Der Doktor will ja gar nicht eine Jugend ohne Keilerei. Aber keinen hinterlistigen Angriff, nicht unter Hallo mit der großen Menge auf den schwächsten Jungen aus der Klasse.

Was hat das alles mit Dieters Extratour zu tun?

Der Doktor ist immer freundlich, immer gütig zu den Kindern. Er gebraucht nie ein hartes Wort. Nun denkt sich Dieter, er kann sich alles mit dem Doktor erlauben. Der Doktor ist zu gut, um böse zu werden. Aber gerade deshalb soll Dieter den Doktor doppelt achten!

Dieter wurde butterweich, wenn er den Doktor so sprechen hörte. Er hatte längst sein eigenmächtiges Handeln bereut. Für ihn stand es fest: nie wieder gegen den Doktor! Und als Traute bat, ihren Freund wieder als guten Kameraden anzuerkennen, da schloß der Doktor wieder Freundschaft mit dem Jungen. In jeder Küche raucht es einmal. Eine Versöhnung festigt jede Kameradschaft. Die drei wurden wieder einig und gingen mit doppelter Lust auf das nächste Abenteuer zu.

Zur Versöhnung ging im Garten des Doktors die Wunderflasche herum. Sie standen alle drei auf dem Rasen, und der Doktor sagte: »Prost!« Dann trank Dieter einen tüchtigen Schluck und zum Schluß Traute. Es ist wieder alles in Ordnung. Und alle Gedanken über den Zwist wurden vergessen, als das Kleinerwerden sich im Körper ankündigte. Das zieht und reißt wieder, und dann wird die Welt so groß, die Bäume wachsen in den Himmel, und die Gräser werden zu Bäumen. Der Doktor hatte wieder drei große Schutzschirme angefertigt, und drei kleine Gewehre dienten zur Abwehr gefährlicher Angriffe. Das war bestimmt sicherer, als wenn Dieter allein auf Abenteuerfahrt gegangen wäre.

Diesmal wurden die Kinder so klein wie Streichhölzer. Sie kamen daher über das Gelände gut hinweg. Kaum hatten alle drei ihre Gewehre in den Händen und kaum hatten sie die Schutzschirme ergriffen, da nahte auch schon mit Gebraus eine Fliege und ließ sich auf Traute nieder.

Die Sache fängt ja sofort mit Gefahren an. Ist das etwa eine Raubfliege? Dieter fragte nicht lange, ergriff sein Gewehr und wollte auf die Fliege anlegen. Aber so schnell die Fliege gekommen war, so schnell verschwand sie auch wieder. Sie hatte Traute nichts getan, nur ein niedliches kleines Osterei hatte sie auf Trautes Kleid gelegt, das dort wie angeklebt befestigt war. Eine Fliege legt Ostereier! Traute hatte sich von ihrem Schreck erholt und jauchzte jetzt auf. »So eine niedliche Fliege, kommt angeflogen, schenkt mir ein Osterei und fliegt wieder davon, ehe ich danke schön sagen kann.«

Aber der Doktor war anderer Meinung: »Das Osterei ist ein schlimmes Geschenk. Wir haben keinen Anlaß zur Freude. Diese Fliege ist nämlich eine sogenannte Raupenfliege. Wir wollen das Ei so schnell wie möglich entfernen.«

Der Doktor ergriff sein Gewehr und drückte mit dem Kolben das Ei von Trautes Kleid. Das Fliegenei kullerte in den Sand. Der Doktor wollte noch von der Raupenfliege erzählen, als Dieter im Grase eine Raupe erkannte. Wie der dicke, vollgefressene Körper sich durch das Gras drückte, das erregte seine ganze Aufmerksamkeit. Wie ein vollgestopfter bunter Sack, so wälzte sich die Raupe durch die Landschaft. Jetzt kam die Raupenfliege wieder angebraust. Die schwärzliche Fliege nahm Richtung auf den Raupensack. Will sie hier wieder ihr Osterei ablegen? Auch die Raupe hatte die Fliege erkannt. Aber sie freute sich nicht über das Ostergeschenk. Ängstlich und abwehrend bäumte sie ihren Körper empor, um die Fliege zu verscheuchen. Aber die Fliege hatte keine Angst. Husch, husch, die Waldfee! Geschwind und eilig ließ sie sich für ganz kurze Zeit auf der Raupe nieder, legte ihr Ei auf der Raupenhaut ab und verschwand dann wieder.

Die Raupe hat keine Hände, um das Fliegenei, wie der Doktor es getan hatte, abzustreifen. Mit dem Fliegenei beladen kroch sie weiter.

Nun konnte der Doktor erzählen: »Die Raupenfliege legt ihre Eier auf anderen Tieren, meist auf Raupen, ab. Aus den Eiern kriechen die Fliegenlarven, fressen sich in die Raupe hinein und entwickeln sich innerhalb der Raupe zu fertigen Fliegen. Dann kommt aus der Raupe nicht ein bunter Schmetterling, sondern eine schwärzliche Fliege. So werden durch die ›Ostereier‹ die Schmetterlinge betrogen. Darum habe ich von deinem Kleide, Traute, so schnell das Ei entfernt. Ja, ja, es gibt viel merkwürdige Dinge in der Natur. Anscheinend ahnte die Raupe ihr Schicksal, denn sie wehrte sich ängstlich dagegen, Eierschrank der Fliege zu werden.«

Die Raupenfliege hatte ihr Kuckucksei abgelegt. Sie glaubte an die Zukunft ihres Kindes, sie hatte ihre Mutterpflicht erfüllt. Aber in der Natur ist nichts sicher. Die Raupe war noch in Sicht – da rannte über den Erdboden ein schreckliches Ungetüm, ein Tausendfuß! Der war komisch anzusehen. Wie im Paradeschritt hoben und senkten sich nicht die vielen Beine, auch nicht im wirren Durcheinander, wie bei einer Hammelherde, sondern ein Bein setzte immer ein klein wenig nach dem Vorderbein auf die Erde auf, als ob die Beine sich in Wellenlinien fortbewegten.

Der Name des Tausendfuß ist etwas übertrieben. Die Menschen haben zwei Beine, die Säugetiere als Vierfüßler haben vier, die Vögel wieder nur zwei, dagegen verfügen alle Insekten über sechs und die Spinnen über acht Beine. Die Beinordnung ginge unter den Tieren schön auf, wenn die Krebse und Tausendfüßler nicht wären. Die Krebse ziehen, abgesehen von vielen Ausnahmen, oft die Zehnzahl der Beine vor. Die Tausendfüßler aber kennen keine Regel. Einige haben viele Beine, andere sehr viele, aber tausend werden es nie. Die Tausendfüßler kommen höchstens auf fünfhundert Beine, und das ist bereits sehr selten. Man hat daher schon vorgeschlagen, die Tausendfüßler Hundertfüßler zu nennen. Auf die genaue Zahl kommt es bei hundert ja nicht an. Der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich dauerte ja auch nicht genau hundert Jahre.

Die Tausendfüßler können wie die Krebse nur in Raten wachsen. Wird die harte Schale für den Körper zu eng, dann müssen sie sich häuten. Der neue Anzug, der dann wächst, paßt wieder für einige Zeit. Die Krebse und die Tausendfüßler haben einen großen Anzugverbrauch.

Die meisten Tausendfüßler sind Räuber, es gibt aber auch Vegetarier unter ihnen. Die Vegetarier verraten einen guten Geschmack, denn sie naschen an den Erdbeeren. Andere aber verspritzen Gift aus ihren Giftzangen. Uns können die Tiere zwar nicht viel anhaben, es gibt höchstens eine Hautentzündung. In den Tropen aber leben Tausendfüßler, die werden bis zu einem halben Meter lang, und vor denen muß man sich in acht nehmen. Die Eingeborenen fürchten sie mehr als wir die Kreuzottern.

Der Tausendfüßler, den die Kinder sahen, hatte die langsame Raupe bald erreicht. Die Giftzangen bissen zu, die Raupe krümmte sich wie ein Wurm, und dann begann die Mahlzeit des Überlegenen. Obgleich die Raupe viel dicker und fetter war als der Sieger, blieb sie ein armes Opfer. Tausendfüßler sind tapfer. Sie greifen Regenwürmer an, die zehnmal größer sind. Sie haben viele Beine und einen großen Appetit. Schade, daß unser Briefträger nicht hundert Beine hat. Dann könnte er wie der Hase im Buche von Münchhausen sich immer mit ein paar Beinen ausruhen, wenn die anderen Beine strampeln müssen.

Die Raupenfliege aber flog irgendwo durch die Luft und dachte ihr Ei gut untergebracht zu haben. Dachte ... Dabei war das Fliegenei schon längst verzehrt und der Eierschrank dazu. In der Natur kann man sich auf nichts verlassen. Darum arbeitet sie ja mit solcher großen Verschwendung. Tausende von Eiern werden gelegt, neunhundertneunundneunzig kommen um, eins wird schon heil und gesund bleiben.

Plötzlich unterbrachen die Zwerge ihre Betrachtungen. Achtung! Deckung nehmen! Fliegergefahr! Sie verbargen sich unter ihren grünen Schirmen, denn eine Wespe nahte sich ihnen. Der Hinterleib war schwarz und gelb gefärbt. Eigenartig war der Flug dieser Wespe. Manchmal hielt sie rüttelnd in der Luft an, dann aber schoß sie blitzartig eine Strecke fort, um plötzlich wieder in der Luft stillzustehen. Wespen sind gefährlich. Dieter machte das Gewehr schußfertig, um jeden Überfall abwehren zu können.

Aber der Doktor lachte: »Das ist keine Wespe, das ist ein schrecklicher Angeber. Die Tiere sehen nur aus wie Wespen, in Wirklichkeit sind es harmlose Fliegen, die anderen Tieren nur einen Schreck einjagen. Es ist ein Aprilscherz der Natur. Die vermeintliche Wespe ist eine sogenannte Schwebfliege, die sich unblutig von Blüten ernährt und gar keinen Stachel hat.

Dagegen sind die Larven der Fliegen nicht so harmlos. Die Fliegenkinder leben auf Blättern, sehen wie Blutegel aus und ernähren sich von Blattläusen. Eine Blattlaus nach der anderen nehmen sie empor und saugen sie aus.

Da fliegt noch so ein Angeber. Das ist eine sogenannte Schlammfliege. Auch sie sieht wie eine Wespe aus. Immer nur fliegt sie in der Sonne von Blüte zu Blüte und ernährt sich von den Blütensäften. Das scheint ihrem Namen nicht zu entsprechen. Aber die Schlammfliege legt ihre Eier in schmutzigen Gewässern ab, und in diesen Schmutz- und Schlammtümpeln leben ihre Kinder.

Warum aber sehen die harmlosen Fliegen den gefährlichen Wespen so ähnlich? Die Vögel fressen gern Insekten. Aber Wespen und Hummeln sind eine gefährliche Nahrung. Ein Stachel in der Speiseröhre kann einem den ganzen Appetit verderben. Darum meiden die Vögel die Wespen, Hummeln und Bienen. Und da die Schweb- und Schlammfliegen wie Wespen aussehen, werden auch sie gemieden. Man nennt diese Angeberei in der Tierwelt Mimikry. Es gibt dafür sehr erstaunliche Beispiele.«

Der Doktor mußte seine Rede unterbrechen, denn da flog schon ein Beispiel an: eine schreckliche Hornisse. Aber es war gar keine Hornisse. Körper und Farbe erinnerten stark an eine kriegerische Hornisse, auch summte das Tier so ähnlich wie Hornissen summen. Angst konnte man bekommen. Aber es war nur ein harmloser Schmetterling, ein sogenannter Hornissenschwärmer, der zu den Glasflüglern zählt.

Die Tiere geben an, um Gefährlichkeit vorzutäuschen. Da gibt es unschuldige Käfer, die wie kriegerische Ameisen aussehen. In Brasilien fliegen Schmetterlinge durch die Lüfte, die so bitter und widerwärtig schmecken, daß jeder Vogel nur einmal den Braten kostet und nie wieder. Andere Schmetterlinge sind gar nicht bitter, aber sie sehen den bitteren so ähnlich, daß die Vögel auch sie in Ruhe lassen. Andere Tiere wieder ahmen Pflanzen nach. Da gibt es Insekten, die wie herrliche Blüten aussehen. Heuschrecken sehen wie Blätter aus, andere wieder wie dürre Äste. Von den Stabheuschrecken und der Heuschrecke, die wandelndes Blatt heißt, hatten die Kinder schon gehört. Schmetterlinge sitzen an Borken und sind an dem Baume gar nicht zu erkennen, so sehr ist ihre Farbe der Borkenfarbe ähnlich. Vögel recken ihre spitzen Schnäbel in den Nestern mitten im Rohr so still und unbeweglich empor, daß sie nicht zu erkennen sind. Rehe und Hirsche flüchten vor den Feinden, die Reh- und Hirschkinder aber ducken sich mitten in der Wiese und halten still, denn ihr getupftes Fell ist auf der Blumenwiese kaum zu erkennen. Schutzfärbung nennt man diese Erscheinung.

Die Hornissenschwärmer, die Schweb- und Schlammfliegen sind harmlose Geschöpfe, sie täuschen aber grimmige Tiere vor, diese Angeber. Unter den Menschen ist es auch so. Harmlose Zeitgenossen können schrecklich angeben – mit Worten. Schon Kinder erzählen gern, daß sie zehn Gegner auf einmal in die Flucht geschlagen hätten. Aber in Wirklichkeit haben sie wie die Schweb- und Schlammfliegen und wie die Hornissenschwärmer keinen Stachel.

Der Doktor war mitten im schönsten Erzählen, da war das Abenteuer zu Ende, denn das Wachstum setzte ein. Der Doktor wurde immer größer und größer, und auch die Kinder wuchsen aus ihrem Zwergendasein heraus.


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