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Auf dem Holzweg

Wo fahren wir Sonntags hin? Natürlich zum Garten des Doktor Kleinermacher. Andere müssen sich streiten, ob man Sonntags zu Haus bleibt, in den Stadtpark geht oder den nächsten See aufsucht. Dieter und Traute aber kannten nur ein Ziel. Es soll langweilig sein, immer denselben Garten zu besuchen? Wenn die anderen ahnten, wie interessant es im Garten des Doktors ist, interessanter kann eine Reise zum Mond oder zum Mars auch nicht sein. Selbst wenn der Doktor mal sein Wunderwasser vergessen hätte. Der liebe Herr ist so nett und freundlich und kann so spannend plaudern, daß man darüber die Zeit und das Essen vergißt. Schon wenn er von seinen Gemüsepflanzen erzählt, dann wundert man sich immerzu, wo er das nur alles her hat.

Als die Kinder wieder im Garten waren, plagten sie ihren alten Freund: »Doktor, erzähl uns doch etwas von deinen Gurken und Kürbissen. Sicher ist mit ihnen auch etwas Interessantes los.«

»Nun, dann will ich euch meine Gurken zeigen. Hier sind sie. Viel Wasser brauchen die Pflanzen. Da kann man immerzu gießen, die Gurken und Kürbisse sind die durstigsten Pflanzen. Das haben schon die alten Ägypter gewußt, denn die pflanzten auch Gurken und Kürbisse an. Ehe die Juden aus Ägypten auswanderten, haben sie zu Füßen der Pyramiden schon Kürbisse gegessen. Darum klagten sie auch nach der Auswanderung: »Wir gedenken der Fische, die wir in Ägypten umsonst aßen, und der Kürbisse, Pheben, Lauchs, Zwiebeln und Knoblauchs ...«

Aber auch Karl der Große ließ in seinen Gärten Kürbisse anbauen. Da fällt mir ein Witz ein. Eigentlich müßte ich ihn lateinisch erzählen. Ich werde aber versuchen, ob man auch auf deutsch über ihn lachen kann.

Es war einmal ein römischer Kaiser, der hieß Claudius. Die Zeitgenossen dachten nicht gut von ihm und hielten ihn für einen Trottel. Besonders der Philosoph Seneca machte sich über den kaiserlichen Narren lustig. Nun müßt ihr wissen, im alten Rom wurden die Kaiser nach ihrem Tode zu Göttern erhoben. Man sprach von einer Vergöttlichung. Das Wort Vergöttlichung aber klang im Lateinischen so ähnlich wie Verkürbissung. Seneca dachte an den hohlen Kopf des Claudius und versprach sich ständig mit konstanter Bosheit. Er redete immer von einer Verkürbissung des Claudius. Bei Nero hätte sich der Philosoph das nicht erlaubt, das hätte den eigenen Kürbis gekostet. Wie gefällt euch der Witz aus dem alten Rom mit dem längsten Bart? Wenn Seneca von einer Veräppelung gesprochen hätte, so hättet ihr ihn besser verstanden.

Übrigens stammen unsere Kürbisse aus Amerika. Die alten Kürbisse aus dem Orient pflanzt man heute kaum noch an. Ebenso wie die Kürbisse kamen die Tomaten über den großen Teich. Kartoffeln, Tomaten, Bohnen, Tabak, Mais, alles kam aus Amerika. Dafür gab Europa den Indianern das Feuerwasser und die Feuerwaffe. Tomaten und Kartoffeln sind übrigens sehr nahe verwandt.

Nun aber genug, Kinder, ich möchte mich heute nicht lange mit der Vorrede aufhalten. Ich habe mir ein Abenteuer ausgedacht, und daran muß ich immer denken. Wir wollen heute in einen Baum hineinsteigen.«

»Fein, Doktor, hast du denn deinen Fahrstuhlbohrer wieder bei dir?«

»Nein, mit dem Fahrstuhlbohrer geht die Sache nicht. Ich habe es ausprobiert. Er bleibt in dem harten Holz stecken. Das ist schade, denn die Zellen im Holz sind noch viel eigenartiger und sonderbarer als die Zellen in der Blume. Ich muß euch mal Holz unter dem Mikroskop zeigen. Ihr ahnt gar nicht, was für wunderbare Gebilde im Holz stecken. Schon die Jahresringe sind sehr sonderbar. Das Holz wächst nämlich in den Jahreszeiten sehr verschieden. Im Sommer werden große Zellen gebildet und im Herbst nur kleine. Als Jahresringe kann man diese Wachstumsunterschiede erkennen. So kann man an jedem gefällten Baum ablesen, wieviel Jahre er alt geworden ist. Man kann noch mehr. Die Jahre sind sehr verschieden. Es gibt gute und schlechte Jahre. Nun stellt euch mal vor, wie alt die großen Mammutbäume in Amerika werden. Wenn man einen Mammutbaum fällt, dann kann man feststellen, ob der Sommer vor dreitausend Jahren gut oder schlecht war. Jeder Baum ist ein Witterungskalender.«

»Können wir denn wirklich nicht in einen Baum hinein? Vielleicht bohren wir uns vorher selbst unsere Gänge, wenn dein Fahrstuhlbohrer nichts taugt.«

»Das ist alles nicht notwendig. Es gibt ja genug Tiere in den Bäumen, die für uns die Tunnel und Gänge anlegen. Wir machen uns so klein, daß wir in einen solchen Gang hineinpassen.«

Der Doktor ging mit den Kindern in den »deutschen Wald« seines Gartens und führte sie an die Fichte. Die Bäume werden alle von sogenannten Borkenkäfern, Holzböcken, Waldgärtnern, und wie die Käfer alle heißen, heimgesucht. Viele Käfer gehen nur an bestimmte Bäume. Zum Beispiel lebt der Holzkäfer, den man den ›Waldgärtner‹ nennt, nur in der Kiefer. Er heißt Waldgärtner, weil seine Fresserei und Holzbohrerei in der Kiefer den Baum zu einem bestimmten, eigenartigen Wuchs anregt. Den Käfer deshalb gleich Gärtner zu nennen, ist für den menschlichen Gärtner nicht gerade schmeichelhaft.

Hier in der Fichte lebt der sogenannte Buchdrucker. Man nennt ihn auch Fichten-Borkenkäfer. Außerdem führt er noch einen vornehmen lateinischen Namen, nämlich Ips typographus. Die Buchdrucker nennen sich ja auch Typographen. Wenn man die Borke von der Rinde entfernt, dann liegen die Fraßgänge bloß und bieten einen eigenartigen Anblick: wie gedruckt. Aber die Buchdrucker bedanken sich für den Namensvetter. Sie nehmen ihn in ihre Fachschaft nicht auf, denn dieser Käfer ist ein arger Waldverwüster.

In der Borke der Fichte waren feine Löcher zu sehen. Dahinein wollte der Doktor mit den Kindern. Er hatte drei Paar winzige Steigeisen konstruiert, hatte wieder seine Bakterienlampe bei sich, und die Wunderflasche war auch da. Um einem Loche näher zu sein, setzten sich die drei Abenteurer auf einen Ast der Fichte, und dann wurde die Wunderflasche herumgereicht.

Wenn das Wunderwasser durch den Körper rieselt, dann fühlt sich der Körper so unsicher, daß man sich nur mit Mühe halten kann. Aber bald war ein Festhalten nicht mehr notwendig. Der Ast wurde so dick und gewaltig, daß man gar nicht mehr herunterfallen konnte. Als Zwerge schnallten sich die drei die Steigeisen an, denn die Borke war sehr glatt. Wie auf einem Parkettboden konnte man auf ihr ausrutschen. Das wissen auch die Käfer, werden sie doch schon mit winzigen Steigeisen an den Füßen geboren.

Die drei Abenteurer gingen vorsichtig den Ast entlang, bis sie den Stamm der Fichte erreicht hatten. Wo ist denn der Eingang zur Höhle des Buchdruckers? Da oben! Das wird ja eine schöne Kletterei geben. Der Doktor kletterte die Borke empor, angeseilt folgte ihm Traute, und den Schluß machte Dieter. Da fahren die Sportler nach den Alpen oder nach dem Himalaja, um phantastische Gebirgswände zu erklettern, und wir haben die tollste Kraxelei in allernächster Nähe, mitten in Doktor Kleinermachers Garten. Wenn der Doktor einen sicheren Stand erreicht hatte, dann sicherte er das Seil, und Traute folgte ihm, zwar etwas ängstlich, aber brav und tapfer. Dieter jedoch hatte beim Doktor alle Furcht überwunden. Wenn man so viel Abenteuer erlebt, dann erscheint eine Kletterei wie diese ja puppenleicht. Ob das in den Dolomiten ist oder auf der Fichte im Garten, es macht Spaß; Furcht und Schwindelgefühl hatte sich Dieter längst abgewöhnt.

Der Doktor rief von oben: »Dieter, wie steht es? Kommst du gut mit? Kann ich mich auf dich verlassen?«

Dieter rief von unten: »Doktor, bei mir Schiefertafel – auf mir kannst du rechnen!«

»Na, dann ist ja alles in Butter.«

Endlich langten die drei am Eingangsloch des Buchdruckers an. Das Seil wurde zusammengerollt, und der Doktor brachte seine Bakterienlampe in Ordnung.

Vom Buchdrucker war nichts zu sehen. Leer und ohne Leben lag der Tunneleingang vor den drei Abenteurern. Bald war auch der kurze Tunnel zu Ende, und der Gang erweiterte sich zu einer kleinen Höhle. Aber auch diese war leer. Wo ist nur der Buchdrucker? Streikt er etwa?

Aber das Tunnelsystem war noch lange nicht zu Ende. Von der Höhle ging senkrecht nach oben und nach unten ein Schacht, der viel länger zu sein schien als der kurze waagerechte Gang zur Höhle.

Ehe aber die neue Kraxelei begann, erzählte der Doktor, warum der Buchdrucker nicht zu sehen war. Der dicke, walzenförmige Geselle mit dem harten Schädel und den kurzen, keulenartigen Fühlern hatte hier im Frühling seine Wohnung. Im Frühling erwachte die Buchdruckerin, bohrte sich die Höhle im Holz und feierte darin Hochzeit mit einem Gemahl. Von der Hochzeitshöhle fraß sie sich einen Schacht nach oben und unten, einen sogenannten Muttergang, legte an die Wände des Schachtes viele Eier, und dann fühlte sie sich sehr schwach. Mühselig und krank verließ sie die Buchdruckerei, und draußen starb sie. Die kleinen Buchdrucker in der Höhle werden die Arbeit schon fortsetzen.

Hough! Der Doktor hatte gesprochen, und nun konnte die Kletterei beginnen. Die drei stiegen den Schacht empor, mit Seil und Steigeisen, und wie erstaunte Dieter, als er beobachtete, daß waagerecht vom Schacht kleine Stollen abgingen.

»Doktor, wollen wir nicht in einen Stollen hineingehen?«

»Gemacht«, antwortete der Doktor. Am nächsten Stollen machten sie halt, rollten das Seil wieder zusammen und gingen in den waagerechten Tunnel hinein. Anfangs konnten sie gerade noch aufrecht gehen, aber je weiter sie kamen, desto größer und geräumiger wurde der Stollen.

An den Wänden des Mutterschachtes hatte Frau Buchdruckerin ihre Eier abgelegt. Als die jungen Buchdrucker ausschlüpften, fraßen sie sich ihre Stollen. Da sie beim Fressen aber immer größer wurden, wurden auch die Gänge immer geräumiger. Zum Schlusse fertigten sie sich eine kleine Höhle an, um sich in der Höhle zu verpuppen. Noch in diesem Jahre sollen die kleinen Käfer entstehen. Wenn es aber zu spät zur Hochzeit werden sollte, dann verschläft man eben den Winter und feiert die Hochzeit im nächsten Jahr.

Jetzt sahen die drei auch das Buchdruckerkind im Gange. Eine Made ohne Füße, so fraß sich der kleine Buchdrucker durch das Holz. Schade, daß man ihn nicht von vorn sehen konnte. Nach einiger Betrachtung forderte der Doktor zur Umkehr auf. Schon auf dem Hinweg hatte er beobachtet, daß ein fremder Gang in den Stollen einmündete, er schien von einem fremden Tier gebaut zu sein. Der Doktor wollte sich die Sache näher ansehen und ging hinein. Die Kinder folgten ihm. Als er aber umkehren wollte, fand er in dem Gewirr der Gänge nicht mehr zurecht, auch schien die Bakterienlampe schlechter zu brennen. Der Doktor suchte und tastete, und schließlich mußte er eingestehen: »Verirrt!« In den Gräben, Gängen und Stollen der Fichte verirrt! »Das kann ja gut werden. Wenn wir hier wachsen, dann zersprengen wir ja den Baum! Ob unsere Körper den Druck aushalten? Aber noch ist unsere Zwergenzeit nicht abgelaufen, noch haben wir Hoffnung. Laßt uns also den Rückweg suchen. Wenn nur die Bakterienlampe besser brennen wollte. Kinder, so ein Pech!«

Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Die drei Abenteurer tasteten sich durch die schwarzen Tunnelgänge. Da meldete sich Traute:

»Doktor, gibt es einen Käfer, der sich seine Holzwohnung mit Teppichen auslegt? Mir ist so, als ob ich über einen weichen Teppich gehe.«

»Das wird ja immer verrückter. Auch mir ist, als ob ich über einen Teppich gehe.« Der Doktor bastelte so lange an seiner Bakterienlampe herum, bis sie endlich aufleuchtete. Ein feiner weißer Rasen bedeckte den Gang, er bestand aus kleinen Pilzen, die dicht beieinander wuchsen. Der Doktor wußte sofort Bescheid. Unter den Borkenkäfern gibt es sogenannte Ambrosiakäfer. Auch die graben sich ihre Gänge im Holz. Wie die Buchdrucker halten sie ihren Winterschlaf und feiern im Frühling auf dem Holzkorridor Hochzeit. Der arme Bräutigam kann nicht fliegen, und er stirbt bald nach der Hochzeit. Die Käferwitwe geht allein auf die Hochzeitsreise und sucht sich einen passenden Baum. Dort gräbt sie sich ihre Gänge und legt ihre Eier. Aber die Käferkinder können kein Holz verdauen, obgleich sie mitten im Holz leben. Das weiß die Käfermutter. Sie bringt in ihrem Magen Pilzsporen mit, die im Holzgang ausgesät werden. Ein feiner weißer Pilzrasen bedeckt bald alle Tunnelwände. Und von diesem Pilzrasen ernähren sich die Käferkinder. Sie grasen die Pilze ab und leben davon.

Früher glaubte man, auch diese Käfer ernährten sich wie die anderen Borkenkäfer nur vom Holz. Man hielt die Pilze für Holzausschwitzungen. Als man dann endlich die Pilze als solche erkannte, glaubte man immer noch an zufällige Erscheinungen. Man traute dem Käfer nicht zu, daß er sich als Gärtner betätige. Termiten und Ameisen, ja – die Tiere legen sich unterirdische Pilzgärten an, das wußte man schon – aber soll ein simpler Käfer das nachmachen können? Man glaubte nicht daran, bis man sich zuletzt doch davon überzeugen mußte.

Der Doktor hatte viel zu erklären, und als er fertig war, stellte Traute die Frage:

»Warum heißen denn nun die Tiere Ambrosiakäfer?«

»Das führt sehr weit zurück. Traute. Die Gelehrten haben fleißig griechische und römische Geschichte gelesen. Wenn sie nun Tiere oder Pflanzen benannten, dann wurden die Namen oft aus dem Altertum geholt. Nach der griechischen Sage aßen die Götter Ambrosia und tranken Nektar. Das war die Götterspeise, die nicht nur herrlich schmeckte, sondern auch ewige Jugend und Schönheit verlieh. Als einmal den Göttern alle Ambrosia- und Nektarvorräte fortgenommen wurden, da alterten sie schnell und wurden Greise. Aber dem Himmel sei Dank, die Götter kamen wieder zu ihrer Ambrosiaspeise und dem Nektargetränk.

Und nun kommt wieder mein berühmter Gedankensprung. Den Pilzrasen hier im Tunnel verglichen die Gelehrten mit Ambrosia und nannten die Käfer Ambrosiakäfer. Ihr seht, auch Gelehrte haben poetische Neigungen.«

Als Traute hörte, daß ihr Teppich eigentlich Speise, Ambrosia sei, trat sie viel behutsamer auf. Man geht ja auch nicht in den Menschenwohnungen auf Schrippen und Pfannkuchen spazieren. Aber wo steckt denn das Ambrosiakind? Vielleicht haben wir das Glück, das Käferbaby zu sehen?

Die drei Abenteurer gingen vorsichtig auf dem Pilzteppich entlang und gelangten schließlich in einen Hauptgang, der bedeutend geräumiger war. Aber hier hörte auch der Pilzbelag auf. Schon wollte der Doktor umkehren, da sah er in der Ferne eine Insektenlarve, die durch das Holz kroch. Immer nur konnten die Abenteurer die Tiere von hinten sehen, denn mit dem Kopfe wandten sie sich dem Holz zu, um fressend die Grabarbeit fortzusetzen. Die Larve des Ambrosiakäfers konnte der Bursche da vorn nicht sein, dazu war er viel zu groß. Aber die genaue Bestimmung gelang dem Doktor nicht, so dicht er auch an das Tier herantrat. Von vorn wäre die Bestimmung viel leichter gewesen. Aber die Larve tat dem Doktor nicht den Gefallen, sich umzudrehen. Er tippte auf eine Käferlarve, vielleicht war es auch die Larve der großen Holzwespe. Traute meinte, das Tier sehe wie eine Schmetterlingsraupe aus. Darüber lachte der Doktor nur. Schmetterlingsraupen fressen meist Blätter und kein Holz.

Noch waren die drei im Betrachten, als ein Geräusch ertönte. Es war, als ob ein feiner Bohrer draußen im Holz angesetzt würde. Wer will sich denn da ein Loch bohren? Armes Holz, armer Baum, von allen Seiten wirst du angeknabbert und angebohrt! Es ist ein Wunder, daß die Bäume überhaupt noch wachsen, so zahlreich sind die Baumschädlinge.

Jetzt wurde auch die dicke Larve unruhig. Ahnte sie einen Feind, wußte sie, daß ihr Gefahr drohe? Sie wollte rückwärts enteilen, aber da geriet das Holz über ihr schon in Bewegung. Ein feiner Bohrer stieß hindurch und bohrte sich in das Raupenfleisch hinein. Wer da draußen will denn die Larve festnageln und aufspießen? Nur kurze Zeit war der Bohrer im Larvenfleisch, dann zog er sich wieder zurück und ward nicht mehr gesehen.

Ist die Larve tot? Davon kann keine Rede sein! Sie ist nur etwas gepiekt worden, es war eine lächerliche Verwundung, und die Larve war so munter wie vorher. Wer erlaubt sich denn so böse Scherze von außen mit seinem Dolch? Will da jemand die Tiere im Holz ärgern? Oder ist mit dem Bohrer etwa Gift hineingeträufelt worden?

Dann ist es bestimmt nicht von schneller Wirkung, denn noch sind keine Anzeichen einer Vergiftung zu bemerken. Und wenn es Gift wäre, die Vergiftung wäre sinnlos, denn der Giftmischer da draußen kann ja seine Beute nicht fressen, die so tief im Holze verborgen lebt und langsam abstirbt. Die Kinder hatten ihre Mutmaßungen, konnten aber keine Lösung finden. Der Doktor erst klärte das Rätsel auf! Draußen sitzt eine Schlupfwespe in bunten Farben und mit langen, empfindlichen Fühlern. Mit den Fühlern zittert sie das Holz ab und wittert durch das dicke Holz hindurch die Larven im Baum. So fein ist die Nase, oder vielmehr der Fühler, daß er nicht nur die Larve wittert, sondern auch genau feststellt, wo sich die Larve aufhält und wie tief sie im Holze sitzt. Dann richtet die Schlupfwespe ihren Hinterkörper so steil nach oben, daß sie beinahe Kopf zu stehen scheint. Aus ihrem Hinterleib läßt sie einen Bohrer hervortreten, den sie tief in das Holz hineindrückt. Dabei kommt ihr Hinterleib immer mehr in seine gewöhnliche Lage. Bis sechs Zentimeter tief kann die Schlupfwespe ihren Stachel in das Holz senden. Hat der Bohrer die Larve erreicht und gestochen, dann schickt die Wespe durch ihren haardünnen Bohrer ein Ei hinab, das in die Larvenwunde hineinkullert. Das Schlupfwespenei entwickelt sich in der Larve zu einer kleinen, fußlosen Made, und diese frißt die lebende Larve von innen auf. Dabei handelt die Wespenmade so klug, als hätte sie Anatomie studiert. Sie frißt nicht die edlen Organe der Larve, sondern benagt nur die Fettvorräte, damit die Larve nicht vorzeitig stirbt. Aus der Käferlarve krabbelt zum Schluß eine fertige Schlupfwespe hervor.

»Als ich die Tierwelt studierte, mußte ich immer wieder staunen, was es alles für Arten von Wespen gibt. Als Kind glaubte ich, es gäbe nur eine Wespe. Später mußte ich erkennen, daß es Tausende und aber Tausende von verschiedenen Wespenarten gibt, von verschiedenen Farben und verschiedenen Lebensweisen. Und eine ist immer interessanter als die andere. Über die Wespen könnte man dicke Bücher schreiben.

Aber nun genug, wir müssen heraus aus dem Tunnel! Lange genug waren wir auf dem Holzweg. Zwar scheint mir, daß wir noch genug Zeit zur Verfügung haben, aber sicher ist sicher, hier drinnen dürfen wir auf keinen Fall vom Wachstum überrascht werden. Ich schlage vor, wir suchen den Ausgang.«

Diesmal irrten die drei Abenteurer nicht lange umher. Bald sahen sie von ferne das Tageslicht schimmern, sie gingen tapfer auf den Lichtschein zu, und schon lag vor ihnen der Ausgang des Holztunnels. Nun konnte ihnen nichts mehr geschehen. Die Gefahr war vorüber, mitten im Holz zu wachsen und dabei zu Tode gepreßt zu werden. An der Borke des Baumes entlang kraxelten sie wieder, bis sie einen Ast erreicht hatten. Auf dem Ast gingen sie entlang, um sich ein Plätzchen auszusuchen. Hier wollten sie ruhen, bis das Zwergendasein ein Ende hatte. Da sah der Doktor auf dem Ast ein Laubblättchen liegen. Vom Winde verweht, war es hier gelandet und ruhte sich auf dem Fichtenast aus. Ist das nicht eine geeignete Unterlage für die drei Abenteurer? Sie überlegten nicht lange, machten es sich auf dem Laubblatt bequem und schauten durch die Zweige der Fichte hindurch bis in den blauen Himmel. Schön ist die Welt, auch wenn man sie sich als Zwerg anschaut. Sie ist dann sogar noch schöner und eigenartiger. Süß ist auch das Nichtstun. Nach all den Abenteuern ist eine Pause ein Genuß! Die drei lagen auf dem Laubblatt, sprachen kein Wort und waren selig, sich aalen zu können. Wir sind etwas abenteuermüde. Bitte, nicht stören. Wir haben Zeit und wollen nichts mehr von Gefahren, von Kletterei und Mühsalen hören.

Pustekuchen! Ein frischer Windstoß hob das Blatt, wirbelte es in der Luft umher, und die drei, die sich krampfhaft am Blattrande festhielten, mußten die Luftreise mitmachen. Da haben wir die Bescherung. Man soll nicht an Ausruhen denken, wenn man sich mit Doktor Kleinermacher auf einer Abenteuerfahrt befindet. Wohin soll die Reise nun gehen? Hoffentlich landet das Blatt nicht auf dem Wasser. Das wäre peinlich. Hat das Herumwirbeln in der Luft noch kein Ende? Vielleicht landen wir in Nachbars Garten. Wenn wir da wachsen und größer werden, befinden wir uns auf fremdem Grund und Boden und werden als Einbrecher angesehen. Das kann ja schön werden. Oder wir landen auf irgendeinem Hause. Wer soll uns glauben, daß uns der Wind da hinaufgewirbelt hat. Schöne Sachen stehen uns bevor.

Klatsch! Da hatte die Luftreise schon ein Ende. Es ging noch alles gut. In einem Baum blieb das Blatt hängen, diesmal in den Zweigen eines Laubbaumes! Ob der Baum noch zu Doktor Kleinermachers Garten gehörte, konnte man als Zwerg nicht feststellen. Schnell das Blatt verlassen, ehe die Reise weitergeht.

Der Doktor suchte diesmal einen Platz aus, der nicht so leicht fortgewirbelt werden konnte. Man lernt doch nie aus. Aber hier kann uns nichts geschehen. Hoffentlich werden wir nicht noch einmal gestört.

»Doktor, was ist denn das?«

Dieter hatte etwas entdeckt und rief den Doktor herbei. Der hatte kaum die Erscheinung gesehen, als er schon erklärte:

»Kinder, der Baum ist voller Schildläuse.«

»Pfui, Läuse! Wenn ich das nur höre, dann juckt es mich schon an allen Hautstellen.«

»Keine Angst, Kinder! Zwar sind die Läuse schädlich, denn sie vermehren sich sehr stark und saugen den Pflanzen die Säfte aus, aber die Schildläuse haben auch ihre guten Seiten. Laßt mich erzählen. So eine weibliche Schildlaus sucht die Pflanzen ab, bis sie einen geeigneten Futterplatz gefunden hat. Dann sticht sie mit ihrem Schnabel in die Pflanze hinein und saugt und saugt und verläßt nie ihren Platz. Hier ernährt sie sich, hier feiert sie Hochzeit, hier wird sie Mutter, und hier stirbt sie. Sie wächst und wächst, wird immer größer, verliert ihre Beine und schwitzt Wachs aus, um einen größeren Schild über ihre Jungen auszubreiten, die sich ständig unter der Mutter aufhalten. Selbst wenn die Mutter tot ist, bedeckt der schildförmige Körper der Schildlaus mit der Wachsvergrößerung noch die Kinder. Eine tote Mutter beschützt ihre Kinder weiter, gibt mit ihrem Körper den Kindern ein Dach über dem Kopf. Die Mutterliebe der Schildlaus geht über den Tod hinaus.

Die Männchen der Schildlaus sind etwas kleiner, dafür aber bedeutend beweglicher. Ihnen wachsen ein Paar Flügel, mit denen sie die festgesaugte Mutter aufsuchen. Aber der Schnabel ist ihnen verkümmert, und sie müssen bald sterben. Unter den Schildläusen ist der Vater ein armseliger Bursche, obgleich er fliegen kann. Dazu sind die Väter so selten. Von vielen Schildlausarten hat man noch gar nicht die Männchen aufgefunden.

Es sind interessante Tiere, die Schildläuse. In Mexiko wird sogar eine bestimmte Art, Cochenille heißt sie, gezüchtet und gesammelt, denn die Tiere geben einen prächtigen roten Farbstoff ab. Mexiko hat viel damit verdient.

Kinder, jetzt ist es mit dem Ausruhen vorbei! Wenn wir alt und grau geworden sind, dann können wir uns noch genug ausruhen. Die Luftreise hat mich wieder lebendig gemacht. Auf, zu neuen Abenteuern!«

Die Kinder waren einverstanden, denn auch sie hatten vergessen, daß sie eigentlich abenteuermüde waren. So kletterten sie im Gezweig des Baumes umher und suchten nach Merkwürdigkeiten.

Jetzt hatte Traute etwas entdeckt. Knollenartige Anschwellungen an den Blättern erregten ihre Aufmerksamkeit.

»Das sind sicher Galläpfel. Ich weiß schon, Doktor, die Gallen werden von der Gallwespe erzeugt. Die sticht in die Blätter hinein, und dann wachsen solche dicken Galläpfel an den Blättern.«

»Das kann so sein, das muß aber nicht so sein. Es gibt nämlich Tausende von verschiedenen Gallen und Tausende von verschiedenen Tieren, die solche Gallen verursachen. Wenn ich euch die Tiere alle aufzählen wollte, ich würde kein Ende finden. Selbst Pflanzen erzeugen auf Pflanzen Gallen, nämlich die Pilze und Bakterien. Dann gibt es Würmer, die Gallen verursachen. Kennt ihr noch das komische Rädertierchen von unserer Fahrt unter der Erde? Auch das Rädertierchen erzeugt solche Gallen. Selbst eine Krebsart betätigt sich auf diese Art an einer Meeresalge. Kinder, ich finde gar kein Ende und habe noch gar nicht angefangen. Da gibt es Milben, Blattläuse, Blattflöhe, Gallmücken, Gallwespen, Schmetterlinge, Käfer, alle, alle betätigen sich als Gallenerzeuger.

Kennt ihr den krankhaften Wuchs an Bäumen, die man Hexenbesen nennt? Die Zweige wachsen so dicht und so verkrüppelt, daß die Hexenbesen jedem auffallen. In den Zweigen schmarotzt ein Pilz, der die Pflanze zu diesem Wuchs anregt. Auch die Hexenbesen rechnen die Naturforscher zu den Gallen. An Weiden wachsen Blätter so rosettenartig, so blütenähnlich, daß das Volk von Weidenröschen spricht. Es sind gar keine Blüten, eine Gallmücke hat den Baum gestochen, und darauf wuchs als Krankheit das Weidenröschen. An den Rosenblättern wachsen Gallen, die man Schlafäpfel nennt. Kinder, Kinder, es gibt so unheimlich viele Gallensorten. Schon an der Eiche kommen hundertfünfzig verschiedene vor. Und dabei geht meist jedes Tier nur an eine bestimmte Pflanzenart.

Wie kommt eigentlich eine solche Galle zustande?

Meist ist es so, daß, sagen wir mal, eine Gallwespe ein Blatt sticht und ihr Ei in die Blattwunde fallen läßt. Dabei wird ein bestimmter Stoff in die Wunde geträufelt, und die Galle fängt an zu wachsen. Der Gallapfel wird immer größer und größer, und das Wespenkind in der Mitte des Gallapfels in der Larvenkammer frißt und frißt und wird auch immer größer. Aber als ob die Pflanze das Wespenkind ernähren will, so führt sie der Galle immer mehr Nährstoffe zu.

Wenn die Wespe sich gut entwickelt hat und die Galle verlassen will, dann knabbert sie sich entweder durch oder verpuppt sich in dem Gallapfel oder – auch das kommt bei verschiedenen Arten vor – die Galle öffnet sich von selbst. Bei einer Art öffnet sich die Galle sogar wie eine Weinflasche und stößt einen Pfropfen aus, der den Ausgang freigibt. Die Pflanze wurde gezwungen, gut für das Tier zu sorgen.

Aber auch hier gibt es betrogene Betrüger. Manche Tiere können keine Gallen erzeugen. Sie schmuggeln ihre Eier in fremde Gallen, und die Eindringlinge fressen dann die rechtmäßigen Mieter auf und lassen sich von der Pflanze weiter ernähren.

Die Wissenschaft hat schon oft versucht, herauszubekommen, woraus denn eigentlich der Stoff besteht, der die Pflanze zum Gallenwachstum anregt. Man hat es mit allen möglichen Chemikalien versucht. Alles umsonst. Die Natur hat sich das Geheimnis noch nicht entlocken lassen.«

Traute fragte: »Doktor, macht man die Eisengallustinte aus Galläpfeln?«

»Das hat man früher mal gemacht. Jetzt wird unsere Tinte anders bereitet. Nur die Urkundentinte wird heute noch aus Galläpfeln bereitet, weil sie nämlich kräftiger ist und so leicht nicht entfernt werden kann.«

Da wußte Dieter Bescheid: »Jetzt kann ich mir alles erklären. Einmal, als ich Schularbeiten machen mußte, kippte ich das Tintenfaß um. Hat Mutti da geschimpft! Aber mit viel Schweiß und Seife bekam sie die häßlichen Tintenflecke doch noch heraus. Darüber hat sich Mutti am meisten gewundert. Zu ihrer Zeit, sagte sie, bekam man keinen Tintenfleck mehr aus der Wäsche. Ein Glück, daß ich die Schularbeiten nicht mit Urkundentinte geschrieben habe.«

Jetzt wollte der Doktor den Gallapfel genauer untersuchen. Er wollte feststellen, welches Tier denn eigentlich hier in der Larvenkammer wohnte. Er beugte sich über den Gallapfel, da setzte bei allen dreien das Wachstum ein. Sie fielen von dem Blatt herunter, im Fallen wuchsen sie und wurden immer größer, und schließlich standen sie als große Menschen auf dem Erdboden. Wo sind wir denn eigentlich?

Dem Himmel sei Dank, die Luftreise hatte sie nicht nach dem Garten des Nachbarn entführt. Sie standen mitten im »deutschen Wald« des Doktor Kleinermacher. Na, das ging ja noch mal. Es wäre peinlich, wenn man in Nachbars Garten stände und den Nachbar bitten müßte, doch das Tor aufzuschließen. Der Wind hätte sie hinübergepustet. Der Nachbar hätte gelacht, vielleicht auch geschimpft und gefragt, ob denn das fremde Obst besser schmecke als das eigene. Vom Winde verweht. Wer soll denn so etwas glauben.

Als die drei ihre Sachen packten, um heimzufahren, stöhnte Traute laut auf.

»Was hast du denn. Traute?«

»Ach, Doktor, ich denke darüber nach. Es gibt doch so unheimlich viel Tiere. Wer soll sich denn all die Namen merken? Kennst du denn eigentlich alle Tiere nach Namen und Aussehen?«

»Ich? Nein, Traute, kein Mensch kennt alle Tiere, selbst die nicht, die in seiner Heimat vorkommen. Es sind noch nicht einmal alle entdeckt worden. Immer wieder werden neue Wespenarten gefunden. Nein, Traute, auch ich kenne nicht alle Tiere unserer Heimat.«

»Na, das ist ja beruhigend! Ich dachte schon, ich müßte alle Tiere auswendig kennen, die in unserer Heimat vorkommen.«

Da lachte der Doktor Kleinermacher. »Auch im großen Brehm stehen nicht alle Tiere unserer Heimat, und wer wollte den Brehm auswendig lernen?«


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