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Die Aufgabe, als Frau und Jüdin an einem Kongreß zur Bekämpfung des Mädchenhandels teilzunehmen, ist eine doppelt schwere.
Die Geschlechtsklaverei, die käufliche Hingabe des Weibes solidarisch als eine Entehrung der ganzen Frauenwelt aufzufassen, alles, was diese Sklaverei herbeiführt und erleichtert, fördert oder gutheißt, zu verdammen, ist eine ethische Forderung, die sich in den Kreisen der zum Selbstbewußtsein erwachenden Frauenwelt immer kräftiger Bahn bricht.
Diese Forderung gewinnt an praktischer Bedeutung angesichts des Überhandnehmens der Zerstörungserscheinungen an Werten des Volkswohles und der Volksgesundheit durch die freie Willkür polygamen Geschlechtsverkehrs und die Sanktionierung der doppelten Moral durch die unaufgeklärte öffentliche Meinung.
Aber die Natur anerkennt nicht die Ungerechtigkeit der doppelten Moral: der männliche Prostituierte ist moralisch und physisch ebenso ein Krankheitsträger wie die weibliche Prostituierte, nur noch gefährlicher als diese, weil er gesellschaftlich noch so wohlgelitten ist und weil er unwissende, ahnungslose Frauen und unschuldige Kinder frei verderben kann.
Diese Erwägungen bilden mit vielen anderen innerhalb der Bekämpfung des Mädchenhandels einen Gedankenkomplex von erhabener Wichtigkeit, in dessen Auffassung und Beurteilung sich tatsächlich die Frauen aller Nationen und Konfessionen verstehen und im Kampfe für die gleichen Ideale treffen.
Kein Unterschied ist im Empfinden der Jüdin und der Christin, wenn auf Kongressen Fragen solcher Allgemeingültigkeit das Verhandlungsthema bilden. Ein Wort, ein Blick und das Gefühl der Solidarität stärkt und verbindet die Reihen der Frauen.
Anders wird es, wenn die Frage der Teilnahme der Juden am Mädchenhandel laut oder leise, deutlich ausgesprochen oder nur im Unterton berührt, aus den Reden klingt.
In solchen Momenten steigt mir die Schamröte ins Gesicht, und es ist, als öffne sich eine Kluft zwischen mir und den Frauen der beiden christlichen Bekenntnisse, denn wie soll ich es ihnen und den christlichen Männern, wie soll man es überhaupt Freunden, Gegnern, Feinden erklären, daß bei uns Juden – deren Gesetz höchste individuelle und soziale Moral heischt – Mädchen die Ware des Weltmarktes bilden und eine ungeheuer große Zahl der Händler und Händlerinnen, Zwischenhändler und Agenten Juden und Jüdinnen sind!?
Wer kann die osteuropäische Golus-VerelendungGolus: Exil, Vertreibung und ihre sittliche Verwahrlosung erklären? Wer kann sie verstehen, der sie nicht kennt und fühlt in ihrer jammervollen Vielfältigkeit?
Wie ist es aber auch andererseits zu erklären und zu begreifen, daß die westeuropäischen und die amerikanischen Juden, die seit einem Jahrzehnt wissen, welche Schmach unserem Volk anhaftet, Juden, die sich so gerne Kulturjuden nennen, gebildete Menschen, deren sittliches Empfinden nicht durch Hunger verroht ist, – deren Selbstachtung nicht unter Ausnahmegesetzen geschwunden ist, – deren moralische Kraft nicht von der Knute zerschlagen ist, – daß diese Juden fast ausnahmslos indolent sind bei der Bekämpfung des Mädchenhandels.
Auch dieses Bewußtsein muß uns den Kongreßteilnehmern gegenüber mit Beschämung erfüllen.
»Schöne Reden« und »gute Berichte« zählen nicht, wo es der Anspannung ethischen Wollens, praktischer Energie und vor allem der Bereitstellung großer Geldmittel bedürfte. Und so habe ich denn wieder mit schwerem Herzen die Fahrt nach London zum V. Internationalen Kongreß zur Bekämpfung des Mädchenhandels angetreten.
Die Tagesordnung bot von vornherein wenig Interessantes und nichts Neues, und bis auf einen Punkt (question 4 and 5) keine Veranlassung, für uns Juden eine besondere Stellungnahme vorzusehen.
Um so beunruhigender wirkte es, als der Chief-Rabbi in seiner Begrüßungsansprache, die er auf Einladung des Internationalen Bureaus gleich den Geistlichen der anderen Bekenntnisse halten sollte, hart zugespitzt den Russen die allbekannte Tatsache vorhielt, daß »der gelbe Zettel« der Jüdin in Rußland ein Wohnrecht verschafft, das sie als Frau von ehrbarem Lebenswandel außerhalb des Ansiedlungsrayons nicht erwerben kann.
Ich bedauerte es nicht, daß diese russische Ungeheuerlichkeit auf dem Kongresse wieder ausgesprochen wurde. Es hätte aber in der Diskussion geschehen müssen; an unrechter Stelle schadete die Äußerung mindestens so viel wie sie nützte – vor allem demjenigen, der sie getan.
Die wichtigen Fragen 4 und 5, die seitens des Antragstellers bewußt die vielbetonte interkonfessionelle Gerechtigkeit der Kongresse verletzten, lauteten:
»Welche Maßnahmen können ergriffen werden, um – eventuell mit Hilfe der Regierungen – für Ausländerinnen schlechten Charakters die Rücksendung nach der Heimat (repatriation) herbeizuführen und zu erleichtern?« und »eine Methode zu finden, die Prozedur der Rücksendung zu erleichtern.«
Diesen Antrag hatte das Internationale Bureau schon auf der Brüsseler Vorkonferenz (1912 )zur Besprechung gebracht, und ich mußte mich dort schon gegen ihn wenden.
Er ist als eine Folge der großen Anzahl von »Ausländerinnen schlechten Charakters« (zum großen Teil Jüdinnen) anzusehen, die die Straßen Londons durchziehen und die der Nachfrage der Millionenstadt nach Prostitutionsmaterial ein entsprechend großes Kontingent von Angebot entgegenbringen.
Wenn die Angelegenheit nicht so ernst und traurig wäre, könnte man Alexander Cootes schutzzöllnerische Anstrengungen belächeln, denn die Londoner Männerwelt würde durch die Ausführung der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen nicht »sittlicher« werden, es würden nur andere Rekruten vorrücken. Es ist auch nicht anzunehmen, daß Mr. Coote so naiv ist, mit einer Polizeimaßregel die Frage des »social evil« für London lösen zu wollen; er will sicher nur einen Teil der Ausländerfrage fassen, und zwar unter dem kleidsamen Mäntelchen christlicher Humanität.
Der in Frage stehende Antrag ist von zwei Seiten anzugreifen. Zuerst von der allgemeinen, die es als eine Härte empfinden läßt, irgendeine des unsittlichen Lebenswandels überführte, oder auch nur verdächtige weibliche Person mit dem Stigma der Prostitution an die Grenze ihres Heimatlandes abzuschieben. Abgesehen davon, daß mit solchen Gummiparagraphen die Denunziation förmlich aufgerufen wird, ist es für die der Heimat entfremdeten, der dortigen Sprache oft nicht mehr kundigen Mädchen und Frauen fast unmöglich, sich »zu Hause« wieder aufzurichten, wenn sie einmal auswärts den Boden unter den Füßen verloren haben.
Es wären ideale Zustände, die es aber nirgends gibt, wenn man generell auf die Bereitwilligkeit der Familien und Gemeinden rechnen könnte, verlorene Töchter, deren Rehabilitierung auch meist noch Geld kostet, einfach mit offenen Armen aufzunehmen.
Für die jüdischen Mädchen, bei denen es sich vorwiegend um polnische, russische und rumänische handelt, liegt es so, daß die russische und rumänische Jüdin nie »repatriiert« werden kann, denn sie kann nach den bekannten politischen und Paßverhältnissen nie die Grenze ihres Geburtslandes überschreiten.
Cootes Antrag, auf die jüdischen »Ausländerinnen schlechten Charakters« angewendet, würde also nicht nur bedeuten, daß sie aus dem Lande, das sie los sein will, ausgewiesen werden (Ausweisung wäre in diesem Fall noch die humanere Maßregel), sondern daß sie polizeilich an die russische oder rumänische Grenze gebracht, dort Freiwild würden.
Daß ein solcher Vorschlag je internationales Gesetz oder Übereinkommen werde, dagegen mußte ich als Frau und Jüdin lebhaften Protest erheben; ich mußte der Versammlung klarmachen, welche Tragweite und Bedeutung die question 4 und 5 hatte, die der Antragsteller so weich, so milde, so human zu begründen wußte! Und ich wurde darin von Claude Montefiore aufs wärmste unterstützt.
Trotzdem gelangte der Antrag zur Abstimmung und zur Annahme, allerdings in der unten angeführten unklaren, verworrenen, unausführbaren Form, so daß er praktisch als wirkungslos zu bezeichnen ist.
Diese Tatsache, die zwar den Sieg einer gerechten Sache bedeutet, hatte einen eigentümlich nachteiligen Einfluß auf Mr. Alexander Cootes Gedächtnis. Ich hatte nämlich für die internationale Verständigung und um ein brauchbares Instrument für Propaganda und Aufklärungsarbeit zu schaffen, ein Flugblatt verfaßt, daß der Kongreß den verschiedenen Nationalkomitees je in ihrer Sprache zur Verbreitung empfehlen sollte. Da geschah es denn, daß Mr. Coote vergaß, daß ihm das Flugblatt vor dem Kongreß in 11 Sprachen vorgelegt worden war, – daß er vergaß, daß das Deutsche Nationalkomitee die Annahme des Flugblattes empfohlen hatte; und er vergaß, daß Geheimrat Maretzky der Versammlung ordnungsgemäß einen bezüglichen Antrag schriftlich vorgelegt hatte.
Das Schriftstück fehlte.
Question 16 »Propaganda und Flugblatt« wurde und war vergessen und kam nicht zur Abstimmung, also auch nicht zur Annahme, was natürlich die tatsächliche Verbreitung und vielsprachliche Benutzung des Flugblattes als internationales Instrument nicht zu verhindern braucht.
Das dritte und letzte Moment, in dem auf dem Kongreß offiziell jüdische Interessen zur Sprache kamen, war, als Claude G. Montefiore als »Speaker« Veranlassung nahm, seiner religiösen Überzeugung Ausdruck zu geben und in vornehmster Form unsere jüdische Aufgabe unter den Völkern hervorzuheben.
Es war wohltuend und erhebend, was er sagte und wie er sprach. – –
Der nächste Kongreß zur Bekämpfung des Mädchenhandels soll in Petersburg stattfinden.
Unoffiziell bot der Kongreß noch manche Gelegenheit, in diesem kleinen Ausschnitt und Spiegelbild der Welt über unsere Stellung in derselben Studien und Betrachtungen zu machen. Bei allen Nationen war das Vorhandensein eines gewissen latenten Antisemitismus zu verspüren.
Das Verhalten einzelner Personen, die den Mut hatten, der unbeliebten Minorität ihre Menschenrechte uneingeschränkt zuzugestehen, wirkte um so erfreulicher, und manches herzliche Wort in einer Privatunterhaltung klang wie eine Entschuldigung für gehässige Gesinnung, die andernorts verhohlen und unverhohlen zutage getreten war.
Aber der Kongreß bot auch Gelegenheit zum Zusammenrücken und zur Verständigung der wenigen jüdischen Delegierten und Teilnehmer, und wieder ist Mr. Montefiore zu nennen, dessen Gastlichkeit die Möglichkeit freier Aussprache bereitete.
In einer besonders zusammenberufenen kleinen Versammlung wurde von mancher Lokal- und Detailarbeit gesprochen. Einig waren wir uns in der Erkenntnis der absoluten Notwendigkeit ernster planmäßiger, großzügiger Bekämpfung des Mädchenhandels von jüdischer Seite.
Als Vorsitzende des deutschen Jüdischen Frauenhundes unterbreitete ich der Versammlung fünf Vorschläge für praktisches Vorgehen, das uns nach meiner Meinung allein noch das Recht gibt, an künftigen internationalen und interkonfessionellen Beratungen freimütig teilzunehmen.
Es ist eine Geldfrage.