Bertha Pappenheim
Sisyphus: Gegen den Mädchenhandel
Bertha Pappenheim

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Hoher Besuch der Prinzessin von Hessen in der Volkskinderkrippe des Frankfurter Bahnhofsviertels 1905. Um diese Zeit werden »Hurenkinder« bei solchen Visiten aus der Gruppe der Kinder entfernt, damit ihr Anblick nicht beflecke.

Schutz der Frauen und Mädchen. Das Problem in allen Zeiten und Ländern

1923

Das Programm, das wir in die Hand bekommen haben, hat mir in Bezug auf die Tagesordnung eine kleine Ueberraschung bereitet, da ich bei Vorbereitung des Programmes gebeten habe, über den Mädchenhandel sprechen zu dürfen. Dieses einfache Wort, das so schrecklich ist, hat sich durch die liebenswürdige Form, in die man es gekleidet hat, in das Thema »Schutz der Frauen und Mädchen, das Problem aller Zeiten und Länder« verwandelt. Wohl war es ein Problem aller Zeiten. Eine Konferenz wie die, an der wir teilnehmen, kann an diesem Problem nicht vorbeigehen. Ich möchte gleich betonen, dass wir, die wir die Frage auf dieser jüdischen Konferenz mit Ernst behandeln wollen, sie nicht erschöpfen können. Wir können keineswegs sagen, daß es sich um ein nur jüdisches Problem handelt. Wir müssen es ablehnen, es als ein speziell jüdisches anzusehen, aber bei geschlossenen Türen sage ich, daß es auch ein jüdisches ist. Zugleich möchte ich sagen, dass wir bis jetzt viel zu wenig getan haben, um diesem Problem in die Augen zu sehen. Ich möchte auch bitten, dass wir das Wort »Mädchenhandel« anders auffassen als gewöhnlich, als im polizeitechnischen Sinne.

Sie werden durch Zeitungen erfahren, dass es keinen Mädchenhandel gibt, andererseits hört man, dass wir ihm alle Tage begegnen können, nur ist er nicht direkt nachweisbar. Der Mädchenhandel ist eine so komplizierte Form der Unterstützung unmoralischer Taten, unmoralischer Gesinnung, ja sogar der Unterstützung von Verbrechen, er ist eine solche Komplikation von Dingen in den einzelnen Menschen, dass wir gar keine absolut richtige Bezeichnung dafür finden können.

Es gibt keine Frau auf der Erde, die es nicht als eine ihrer wichtigsten Aufgaben empfinden wird, zu erreichen, dass die Hingabe des Körpers einer Frau aufhöre, als etwas Selbstverständliches zu gelten, und die nicht alles tun würde, um diese Hingabe eines Menschen für Geld zu verhindern oder zu vermindern. Wir können in die Materie nur dann eindringen, wenn wir außer dem Begriff des Mädchenhandels auch noch den Begriff hinzufügen, der uns Frauen immer entgegengehalten wird, wenn es sich um Prostitution handelt, den Begriff der freiwilligen Hingabe; die Opfer, die wir als Opfer bezeichnen, seien freiwillig. Ich bitte Sie, diesen Begriff der Freiwilligkeit zu kontrollieren – ob diejenigen, die man der Freiwilligkeit auf diesem Wege zeiht, wissen, was das Ende ist, der Abschluß, die Folge ihrer Handlung. Wenn wir ihren Lebenslauf kennen, ihre Jugend, ihre Psyche, dann werden wir verstehen, was sie so weit brachte, Prostituierte zu werden, dann werden wir in vielen Fällen zugeben müssen, dass von einer Freiwilligkeit im Sinne eines freien Entschlusses nicht die Rede sein kann.

Die Mädchen sind leichtsinnig, arm, oft nicht imstande, irgend einen Beruf auszuüben, von zu Haus aus nicht dazu angehalten, sich in einen bestimmten Kreis hineinzufinden: sie haben nur das Streben, herauszukommen, vielleicht auch einen natürlichen Trieb, irgend jemandem anzugehören. Den ganzen Lebenslauf eines solchen unerfahrenen Mädchens können wir nicht übersehen. Und deswegen bitte ich Sie, sich klar zu machen, dass das Wort »Mädchenhandel« eigentlich nicht richtig ist. Handeln kann man mit einem Huhn oder mit Stiefeln. Es ist eben nicht ein Verkauf in dieser Form. Wir müssen uns fragen, welches sind die entsetzlichen Möglichkeiten, die junge Mädchen dem Dirnentum zuführen?

Ich möchte Sie bitten, sich darüber klar zu werden. Ohne Bordelle keine Prostituierten, ohne Bordell kein Mädchenhandel. Ohne die Bekämpfung der Prostitution keine Bekämpfung des Mädchenhandels. Ich bitte Sie, mir nicht zu sagen, Prostitution gab es immer, und sie daher nicht bekämpfen zu wollen. Warum sagen Sie nicht dasselbe, wenn Ihnen eine Uhr gestohlen wurde, dass es ja auch Diebe immer gegeben hat: warum sie also verurteilen? Weshalb sagt man dann, Prostitution hätte es immer gegeben?

Die christliche Gesellschaft ist geneigt, zu sagen, dass der Mädchenhandel eine jüdische Erscheinung sei. Wir müssen das energisch zurückweisen. Wir hören die Westjuden oft sagen, dass der Mädchenhandel eine Sache des Ostens sei; bei uns gäbe es das nicht, es sei eben eine Sache des Ostens. Ich glaube, es gibt nichts, was nur einen Teil der Juden angeht und den anderen Teil nicht. Wir müssen die Dinge sehen, wie sie sind. Was ich heute sage, habe ich schon vor zwanzig Jahren gesagt. Nicht das ist traurig, dass ich es schon vor zwanzig Jahren gesagt habe, sondern dass ich es heute wieder sagen muss. Denn ein Mensch mag sagen, was er will; er mag es in die Welt hinausrufen, wenn es nicht gehört wird, wenn es niemand aufnimmt, dringt es trotzdem nicht weiter. Der Vorwurf, dass man ein und dasselbe immer wieder sagen muss, ist ein Vorwurf für die Westjuden, weil sie den Ostjuden nicht geholfen haben. Wenn wir nun das Wort »Mädchenhandel« beibehalten wollen, so möchte ich doch sagen, dass wir beim Mädchenhandel wie bei jedem anderen Handel drei Begriffe unterscheiden wollen: Händler, Ware und Konsumenten.

Wir Juden sollen, wo immer Juden beisammenwohnen, wo immer jüdische Menschen zusammentreten, den Wunsch haben, uns gegenseitig zu erziehen. Wir sollen aufpassen, ob nicht unerlaubte Dinge geschehen: die Schädlinge sollen vor das Forum der Gerechtigkeit gebracht werden, damit die Anständigen mit den Unanständigen nicht auf einen Haufen gekehrt werden. Wenn sich niemand findet, der es angiebt, so machen wir uns zu Mitwissern und Helfern. Die Frauen sollen nicht ängstlich sein und fürchten, Ungehörigkeit aufzudecken, und jeden, der sie begeht, der Gerechtigkeit auszuliefern. Leute innerhalb unserer Gemeinschaft, die sich ungehörig benehmen, sollten von uns an den Pranger gestellt werden. Ich möchte den Herren Rabbinern sagen, dass sie solche Menschen nicht zur Thora aufrufen: wir sollten unsere Kinder nicht in Familien heiraten lassen, die in dieser Richtung ungesund sind – das ist unsere Pflicht und Schuldigkeit.

Sprechen wir von der Ware. Ware sind die Mädchen, die jungen Dinger: dass sie alt werden, teilen sie mit allen anderen; zuerst sind sie hübsch, dann vielleicht sehr bald garstig. Ohne aufgeklärt zu sein, vielleicht ihre Kenntnis nur aus Romanen schöpfend, treiben sie Verlockungen aller Art hinaus ins Leben. Sie gehen zuerst mit einem, und wenn sie der eine sitzen lässt, schämen sie sich und gehen mit einem anderen. Sie bekommen vielleicht in Kind, und das sind noch die besseren unter ihnen. Ein Berg von Pflichten liegt vor uns; wir müssen unsere Augen und Ohren überall haben. Wir müssen aufpassen, wo die Schuld liegt. Wenn es junge Mädchen gibt, die für ein Paar Florstrümpfe oder für einen Kinobesuch ihr Leben verkaufen, so müssen wir anfangen, ihrem Leben neuen Inhalt zu geben. Wir müssen uns fragen: Ist es richtig, dass die Tochter der Besitzenden diese Dinge im Überfluß hat, sie zur Schau trägt und dadurch den Neid der Aermeren erregt? Kann das junge Mädchen nicht mit seinem Vater oder Schwager ins Kaffeehaus gehen, dann geht es eben mit einem anderen. Wir müssen es den Frauen der eigenen Familie erst klar machen, was Lebensfreude ist. Wir haben unser Leben so einzurichten, dass diejenigen, die nicht so gebildet sind und keine höheren Interessen haben, nicht auf Schritt und Tritt den Wunsch empfinden, es auch so zu haben wie wir. Wie wir für die eigene Tochter sorgen, wie wir sie selbst zu schützen suchen, so müssen wir die Töchter anderer schützen.

Der Konsument im Mädchenhandel ist natürlich der Mann. Wenn der Mann nicht da wäre, der den Konsum wünscht, der ihn zu brauchen angiebt, dann würde es sein wie mit aller anderen Ware auch; sie würde sitzen bleiben. Dasselbe Gesetz von Angebot und Nachfrage gilt auch hier wie auf allen anderen Gebieten des Handels.

Es ist unsere Pflicht, unseren Söhnen und Männern und allen Männern, mit denen wir zu tun haben, zu verstehen zu geben, dass sie vor jungen Menschen Respekt haben müssen und dass die Konsumenten zu boykottieren sind. Ich bin überzeugt, dass viele von Ihnen lachen werden; es sind diejenigen, die sich eine gewissermaßen gewohnheitsmäßige Frivolität der Auffassung über diese Dinge angeeignet haben. Sie müssen aber versuchen, sich von dieser Frivolität zu befreien. Wenn wir erst auf diesem Wege heruntergerutscht sind, herauf kommen wir nicht wieder so schnell.

Wir sind hier zur praktischen Arbeit. Wir kämpfen für die gleiche Moral von Mann und Frau. Wir haben für Aufklärung in sittlicher Hinsicht zu sorgen. Im Osten noch mehr als im Westen, wo dies durch die Zeitungen geschieht. Vor allem muss das erschlaffende Familienleben neu belebt werden.

Es gibt eine jüdische Sittlichkeit und diese haben die Juden zur Welt gebracht. Diese Mission haben wir zu erfüllen; wenn wir aufstehen und wenn wir uns niederlegen, müssen wir daran denken; wir wollen die Sprache der ganzen Welt sprechen, um allen Menschen diese Mission bringen zu können. Mit unserem ganzen Herzen, mit unserer ganzen Seele und mit unserem Vermögen. Wehe denen, deren Gewissen schläft!


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