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Nach dem Gewitter, das in der Nacht über Frankfurt niederging, weht frische Morgenluft. Wie rasch ist man aus der Stadt mitten im Wald! Man braucht nur bei der Sachsenhäuser Warte abzubiegen, das gelbe Wegschild spricht schon von Babenhausen. Babenhausen, im nördlichen Anstieg des Odenwalds gelegen, ist von hier einen kleinen Tagmarsch entfernt. Sonnenflecken spielen auf der Waldstraße, die um den eilenden Wagen ganz geschlossen erscheint. Ein paar wuchtige, viereckige Lastwagen, die uns entgegenkommen, tauchen aus Lichtern und Schatten auf und sausen mit flatternden Planen vorüber. Eine Zeitlang ist die Straße leer. Dann kommt eine Horde junger Radfahrer, halbnackt, mit gebräunten athletischen Körpern, geräuschlos am Wegrand vorbeigefahren. Sie verschwinden auf ihren Rädern wie eine Erscheinung, die halb dem Wald, halb einer blitzenden Stahlwelt angehört.
Trotz unseres Tempos hat diese Fahrt etwas Beschauliches. Es ist, als seien nicht Jahrzehnte vergangen, seit diese schöne Waldstraße noch von den Kutschen befahren wurde, in denen sich Bürgerfamilien zuweilen aufmachten, einen beschaulichen Sommernachmittag in Gravenbruch zu verbringen. Die Eltern und die Tanten saßen behaglich am Kaffeetisch unter schattigen Bäumen. Die Braunen des Kutschers ließen sich aus der Krippe das Korn schmecken, die Mädchen pflückten Wiesensträuße, die Knaben machten allerhand Unfug im Gebüsch, in der Nähe des Teiches gab es Frösche und Salamander genug. Das Gehöft in den grünen Feldern und Wiesen lag vom Wald umgeben, wie ein Tal im Gebirge.
Der Wald schließt sich wieder um den Weg und öffnet sich dann. Die Wasserpfützen dampfen in der Sonne. Wir sind schon auf der ersten Stufe des Odenwalds. Auf der Hochfläche zeigt sich ein Dorf von einer Kolonie nagelneuer Häuschen mit scharfkantigen, hohen Ziegeldächern. In den Feldern steht üppig das schwärzliche Kraut der Kartoffeln, um die Stangen rankt sich, schon ein wenig welk, das Laub mit hängenden Bohnen. Bald zeigt sich hinter locker verteilten Apfelbäumen und Gruppen von Nußbäumen ein spitzer Kirchturm. Eine Schulklasse junger Mädchen, alle auf Rädern, in hellen Kleidchen, biegt aus einem Feldweg, voran der Lehrer. Die Dorfstraße, die wir nun durchfahren, ist mit ihrer doppelten Reihe einstöckiger Häuser, die fast alle mit dem Giebel zur Straße stehen, schon ganz auf den Durchlaß der Autos eingerichtet. Diese Straße enthält eine Abwechslung von Scheunen, alten Hoftoren und kleinen Lädchen; hinter den Glasscheiben sind allerlei modische Dinge. Das waren die Dörfer Dietzenbach und Oberroden. Weite Stoppelfelder dehnen sich. Noch steht in grün-glänzenden, dichten, heckenförmigen Anschnitten, mit wehenden braunen Rispen der Mais. Die Holzstapel vor den Häusern der Bauern verraten schon das Waldland. Zwischen neuen, sauber verputzten Häusern stehen wohlerhaltene Fachwerkhäuser. Fast jedesmal findet sich auch der schattig umsäumte Wirtsgarten am Dorfrand.
Das alles gehört noch ganz in den heimatlichen Frankfurter Umkreis. Auf »Rod« und »Hausen« enden die Namen vieler Dörfer in dieser Gegend. Sie verraten die alte fränkische Landnahme. Es ist derselbe Boden hier wie drüben am Main, wie am Rhein, wie an der Mosel.
In Münster, dem großen Dorf, baut sich im Augenblick, da wir einfahren, an der Straßenkreuzung eine ländliche Blechmusik auf, es schmettern die ersten Trompetenstöße des Frühkonzerts. Das sieht nicht aus wie Wochenende, eher wie Montagmorgen, wie Nachwirkung einer der Kirmessen, die im Spätsommer die Reihe machen. Oder ist es Kirmesvorbereitung? Was doch diese Trompeten können! Eine Menge junger Mädchen auf Fahrrädern begegnet uns, an der Straßenseite wimmelt es von Bauernbuben. Den Rand des Dorfes bildet eine fast städtische Richard-Wagner-Straße. An ihr steht der langgezogene Ziegelbau einer Lederfabrik mit indigoblauen Fensterscheiben. Maisfelder glänzen wieder. In der Ferne stellt sich schon der gezackte Umriß von Dieburg in die Quere. Wir fahren durch die Ortschaft, nicht ohne den Duftschwall der Linden zu verspüren, die um den Marktplatz herum das grüne Herz dieses Städtchens bilden.
Und jetzt zum ersten Male werden als Horizontkulissen die sanft wogenden, eigenwillig geformten Berge sichtbar, hingewellt in der ruhigen großen Dünung, die für den Odenwald charakteristisch ist. Dieser gebirgige Teil ist am dichtesten mit Wäldern bedeckt. Aus den Schatten einer Allee leuchtet das Grün der Wiesen wie zwischen Säulen auf. Dann wieder fließt die freie Landstraße durch die Felder in Säumen von rostbraunem Wegerichgestrüpp, und zwischen den Dolden der Schafgarbe glänzen die himmelblauen Tupfen der Zichorie. Pappeln auf einer fernen Anhöhe erinnern an Zypressen. Blaue Berge zaubern uns ein ländliches Italien vor, und doch: welch ein echtes Stück Heimat ist das hier! Bald haben wir Groß-Umstadt (51,8 km), die belebte Landstadt, durchfahren. Seitenstraßen weisen zum Main hinüber, andere zu den waldigen Schluchten der Bergstraße und zum Rhein. Wir streben zur Höhe, eine Lichtung steht offen, das Brettchen an einem Baum zeigt einen Pfeil mit der Aufschrift: »Herrliche Aussicht«! Man lächelt, aber schon liegt die Überraschung da, ein Tal von einer grünen Weite, einer lieblichen Größe unter weitem Himmel, die unbeschreiblich ist. Fast zu leicht haben wir diese Höhe erworben. Die Schutzhütte hier am Waldrand hält ihren Eingang fast wie eine Augenhöhlung in die Ferne gerichtet. Junge Leute haben es sich da bequem gemacht. Sie kochten ab, sie haben ein Stativ aufgestellt und photographieren.
Immer mehr tritt die eigentliche Odenwaldlandschaft hervor mit ihren breiten, oft gerodeten, immer von Wäldern eingeschlossenen Kuppen. Im Wiesental schimmert der blaue Strich des Baches. Vereinzelte Dächer leuchten rot. In Schlangenwindungen geht die Landstraße aufwärts, eine Kurzweil für die Radfahrer, die ihre Räder drücken, um dann mühelos wieder abwärts zu sausen. Sensen klingen. Es weht ein säuerlicher Duft von den Wiesen. An den Bäumen reifen die Äpfel. Dann säumen kugelig geschnittene Akazienbäume die Gassen des Dorfes Höchst. Den Marktbrunnen beschatten Linden, verlockend steht ein stattliches Gasthaus an der Seite. Aber schon sind wir in einem von grauschimmernden Weidenbüschen besetzten Tal. An einem Feldweg rasten Zigeuner. Die mageren Klepper grasen, Frauen und Kinder hocken um das Feuer, auf der Wagendeichsel sitzen die Männer, beschäftigt, Töpfe oder Sattelzeug zu flicken.
Mit der freundlichen Warnung: »Bitte ruhig fahren« empfängt uns der weit in sein Tal gebettete Kurort Bad König. An Kleinheit ein Dorf, an Sauberkeit ein Städtchen, so zeigt sich der Ort mit Schloß und Park, mit kiesbestreuten Wirtsgärten und buntgedeckten Tischen. Die Sandsteinsäule des Brunnens ist mit weißen und violetten Petunien geschmückt. Akazienbäume säumen die Hauptstraße, die mit ihren Kaffees und Pensionen, mit ihren Läden für photographische Artikel, mit Bankfiliale und Autovermietung den Ferienbedürfnissen der Großstädter entgegenkommt. Vom Kurgarten führen Pfade in die Wälder. Sommerlich gekleidete Leute kommen daher, das Trinkglas in der Hand. Ein Lädchen zeigt seine ganze Auswahl der berühmten Elfenbeinschnitzereien, die im Arbeitsfleiß dieser Gegend ihren Ursprung haben.
Schon blüht an allen Hängen das fliederfarbene Heidekraut. Kräftiger Holzgeruch kommt von den Sagemühlen und Bretterstapeln am Bahngeleise. Das hochgelegene Dörfchen Zell erinnert fast an ein Dorf im Erzgebirge. Manche Häuser haben ein schönes Fachwerk. Aber die meisten sind mit Schindeln verkleidet. Die wetterfesten Wände zeigen zuweilen noch die graue naturfarbene Verwitterung. Doch immer mehr liebt man den farbigen Anstrich: orange, butterfarben, grünlichweiß – oder auch dunkelbraun wie Teer.
Michelstadt (76,9 km), das wir nun erreichen, bildet nicht nur für die benachbarten Erholungsorte das schönste Ausflugsziel. Auch für dieses Städtchen im Herzen des Odenwaldes sind die Stapel von Baumstämmen und Brettern charakteristisch, die am Bahnhof lagern. Die Parkmauer, die das gipfelreiche Gebiet des Fürstenauer Schlosses umzieht, führt fast auf diesen Bahnhof zu. »Nach dem Stadion« heißt die erste Aufschrift, die man in den altertümlichen Straßen zu lesen bekommt. Auch dieser Ort hat seine alte Geschichte. Seine Mitte bildet einer der schönsten Marktplätze Deutschlands. Der nicht sehr breite, doch geräumige Platz ist ganz von dem dreitürmigen, auf einen hölzernen Unterbau fast stelzenhaft gestützten Rathaus beherrscht. An der Seite steht eine breite Hausfassade mit barock gedrehten Torsäulen, im Giebel ein goldleuchtender, kühn verschnörkelter Namenszug. Hinter den Schiefertürmchen des Rathauses ragen die höheren Türme der Pfarrkirche. An der Gasse hängt über der blauen geschmückten Toreinfahrt eines Gasthofes das Wirtshausschild mit drei sich umeinander drehenden, mit den Ohrspitzen einander berührenden Hasen, sicherlich ein uraltes, aus dem Symbolischen ins Spaßige umgewandeltes Motiv, das wir auch in den Handzeichnungen des Meisters Hans Thoma wiederfinden.
Die offene Vorhalle des Rathauses hat ihre abgeschliffenen steinernen Kanten, die gewiß schon vielen Menschen im Ernst oder Spiel zum Sitzen dienten. Von der Decke hängt eine eiserne Waage. Eine außer Dienst gestellte Kelter steht an der Wand. Grabsteine sind in die Wand gemauert. Rührend ist die Grabplatte einer Frau, die ein Kind im Arm trägt. Die Inschrift ist bald verwischt, sie ist der Nachruf des Gatten auf seine liebe fleißige Hausfrau, deren Seele Gott erfreue, gestorben in ihrem vierten Kindbett im sechsunddreißigsten Lebensjahr.
Vom Turm der Kirche klingt das Glockenspiel. In der bunten Auslage der Drogerie an der Ecke lädt der Verkehrsverein die Fremden zum Verweilen. Am Obststand vor dem Marktbrunnen mit den kunstvoll geschmiedeten Stützen und dem steinernen Engel gibt es honigduftende Birnen. Trauben und Reineklauden und viele Ansichtskarten. In das friedliche Mittagsleben des Städtchens mischen sich ohne Hast die durchfahrenden Autos. Zwei Zeitalter klingen zusammen, die Zeit der noch von den Urvätern ersonnenen, vom gediegenen Handwerk aufgebauten Kleinstadt und die Zeit der glatten, lackierten, stolzen, alle Entfernungen raffenden Maschinen.
Eine Allee verbindet die Stadt mit dem Schloß. Dort fließt mit blinkendem Wasserfall das Flüßchen. Eine steinerne Brücke führt hinüber. Ein Toreingang öffnet sich in den von Baumkulissen geschützten Schloßhof. Zunächst die Wirtschaftsgebäude, dann der Freiplatz mit den Wohngebäuden der drei gräflichen Familien Erbach, auf der anderen Seite das ältere Schloß mit dem hochgeschwungenen, in der Kunstgeschichte bekannten Mauerbogen, mit Wehrtürmen an der Flanke, an die sich steile Giebel lehnen, gegenüber der erst um 1800 im klassizistischen Stil erbaute Palast, der nur noch an seiner nach außen gewendeten Seite die altertümliche Bauart zeigt. Eine Silberpappel beschattet ihr Dach.
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Doch das berühmteste Bauwerk der Landschaft, das älteste, ist nicht hier. Es ist die von Einhard, dem Freund und Schreiber Karls des Großen, erbaute Basilika. Sie steht in den Wiesen am anderen Ende des Dorfes Steinbach, das gleich neben dem Erbach-Fürstenauer Schloß seinen Anfang nimmt.
Hügelig sind die Äcker, Gärten und Wiesen da draußen, als steckte in ihnen noch Mauerwerk aus Römerzeiten und noch von früher. Man stieß beim Graben auf alte Mauerbogen, auf römische Ziegel, noch vor kurzem hat man dort eine kleine Bildsäule des Merkur gefunden. Ohne allen äußeren Schmuck, doch mit noch derben, kräftigen Mauern und wohlerhaltenem Dach ragt die kleine, uralte Kirche, die einmal das Mittelschiff eines größeren Gotteshauses war und einem längst verschwundenen Kloster diente. Moosige Sandsteinplatten bilden die Umzäunung des benachbarten Gartens. Eine Grube an der äußeren Kirchenwand zeigt die Tiefe der Fundamente. Betritt man den Kirchenraum, so kann man noch die schattenhaften Spuren der Wandbemalung, die eingemauerten Bogen des Seitenschiffes erkennen. Ein reich gemusterter steinerner Balken schmückt die Pforte, die zur Sakristei und zu der düsteren Schatzkammer führte, die einmal dazu gedient haben mag, kostbare Reliquien aufzubewahren. Trümmer sind noch zu sehen; ein Säulenknoten, ein mit Figuren ausgefüllter Fries, ein paar Grabsteine. In einer nie gefegten, mit Steinbrocken und Staub gefüllten Kammer liegt Gerümpel, – sogar eine wirkliche, umgestürzte Kanonenlafette. Sie stammt noch aus dem Dreißigjährigen Krieg. Die Krypta unten ist beengend wie eine Katakombe. Ihr Kreuzgewölbe erhält sein Licht aus der Nische des Altars. Im Dunkeln liegen die Grabhöhlen der Kleriker, die einmal diesen hochgelegenen Punkt des Landes bewohnten. Wohl schon lange vor ihnen war dieser Ort eine Festung und ein Heiligtum zugleich. Einhard, der diese Kirche bauen ließ, gründete auch das Kloster Seligenstadt. Er gilt als der Stammvater der Erbacher Grafen.
Das alte Gemäuer steht im Mittagsschweigen einer satten, fruchtbaren Bauernlandschaft. Wie ein Gesicht mit blinden Augen und hochgezogenem Mund schaut die Schmalseite des gewesenen Gotteshauses unter ihrer schiefen Haube von Weinlaub über die Wildnis der Gräser.
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Die beiden sandsteinroten Türme von Eberbach (114,9 km) stehen hoch über grauen Dächern, fast wie die Frauentürme von München. Man sieht sie schon in dem Walde, aus dem ein Tal des Odenwaldes an den Neckar hinabführt. Die schmal an den Fluß gebaute Stadt beginnt, ähnlich wie Eltville am Rhein, mit freundlichen, jungen Landhäusern und Gärtchen. Aber sie versammelt sich noch immer um ihre großen und kleinen Plätze, die Kirche in der Mitte, die Gasthäuser am Markt und über dem Neckar. Die Front des einen ist ganz mit bunten Bildern bemalt, das andere lockt mit seiner großen Torfahrt. Das Wasser des Flusses rinnt zwischen dunkeln Bergwänden und grünen Böschungen in grauschimmernden Scheiben gen Heidelberg. Der Wind bläst in entgegengesetzter Richtung und treibt die Wellen gegen den Strom.
Jeder Fluß hat sein eigenes Leben. Wasser ist mit Schönheit und Seele verwandt. Auch der schmale dunkle See da oben in den Wäldern war solch ein überraschender Gruß nach der stundenlangen Fahrt. Die Landstraße machte eine ihrer großen Kehren an ihm vorbei. Die Umleitung führte uns durch ein unbekanntes Bergland, aber die Straßen und Sträßchen blieben gut. Sie führten an Wiesen und Waldabhängen vorüber und unter einer hohen, vielbogigen Eisenbahnbrücke hindurch. Die Dörfer in diesem Teil des Odenwaldes sind urwüchsiger als anderswo. Auch hier gibt es die Schindelwände, die Holzdächer, die Holzlager und Langholzfuhren. Die Bauernhöfe liegen offener zur Straße und haben mehr Mist vor den Ställen.
Von Michelstadt, dem einst stark befestigten Städtchen, sind wir abwärts über Stockheim durch eine lange, dunkle Allee gefahren, die vor einem Turnplatz endet, der gewissermaßen der Anfangsakkord des Städtchens Erbach ist. In der Mitte dieser kleinen Stadt steht majestätisch das Schloß mit seinem Turm, der sich hoch im Tale umschaut. Das Landstädtchen macht einen so modernen, frischen Eindruck. Nur die Hofapotheke und das noch ältere Fachwerkhaus der Brauerei am Platze vor der Schloßallee, der jetzt ein viel benutzter Parkplatz ist, verrät die kleine Residenz. Die Landstraße schneidet durch den Ort hindurch, durch Wälder und Mühlentäler und an dem auf kahler Höhe gelegenen Ort Beerfelden vorbei. Der Wald ist aus Buchen, Eichen und Fichten gemischt. Farnwedel stehen um schwärzlichrote Felsen. Endlich kommt der Einschnitt, hinter dem als mächtige, wogende Kulissen die Höhen des Katzenbuckels sichtbar sind. Diesen Bergstock umfließt der Neckar.