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Nachdem die Mahlzeit eingenommen war, erhob sich Vater Einhorn sofort, sagte kurz hingeworfen »Gute Nacht!« und begab sich nach dem Malkasten, dem berühmten Künstlerklub an der Jakobistraße. August folgte gleich darauf seinem Beispiel und machte sich auf den Weg nach seiner Kneipe. Die jüngere Künstlergesellschaft hatte zwar auch im Malkasten ihren offiziellen Sammelplatz, aber nebenher fand sie sich in verschiedenen Lokalen der Stadt zu freundschaftlichen Sondergruppen zusammen. Einen solchen engeren Freundschaftskreis traf heute, am Sonntag, August Einhorn in der Glocke, einer Brauerei in einer der Hauptstraßen der Altstadt, die wegen ihres vortrefflichen obergärigen Bieres bekannt war. In einem Hinterzimmer, das durch eine Tür mit der schmalen, langgestreckten Gaststube verbunden war, tagte ein Kreis von zwei Dutzend Malern und Bildhauern, der sich heute schon ziemlich vollzählig eingefunden hatte, so daß der kleine Raum gründlich von dem Qualm der Zigarren, Zigaretten und Pfeifen erfüllt war, als ihn Einhorn 16 betrat. An den Wänden hingen zwei Kupferstiche von Napoleon I. und Friedrich dem Großen, wie man sie bezeichnender Weise in den Altdüsseldorfer Bierstuben häufig als Gegenstücke sieht. In einer Ecke hing an einem Kleiderhaken eine Gitarre. Es fehlte jedoch jede besondere Charakteristik von der Art, wie man sie in anderen Künstlerkneipen in Karikaturen, Scherzzeichnungen und ulkigem Aufputz finden mochte. Die Gäste saßen an zwei, durch einen kleinen Zwischenraum voneinander getrennten, blank gescheuerten Tischen, teils auf einer die ganze Zimmerwand entlanglaufenden Holzbank, teils auf Stühlen. Ein dritter Tisch an der gegenüberliegenden Wandseite wurde gelegentlich gebraucht, wenn der eine oder der andere von den Gästen mit bequemer Raumfreiheit ein Abendbrot einnehmen wollte. Von Zeit zu Zeit erschien zur Bedienung ein kräftiger junger Bursche, mit einer blaugestrickten Jacke und einer kurzen, gleichfarbigen Hüftschürze, die auch noch das Hinterteil bedeckte. August Einhorn hatte einige Händedrücke gewechselt und sich dann in der Nähe ten Holtens niedergelassen, der mit einer kurzen braunen Pfeife im Munde am Ende der langen Bank in die Ecke geschmiegt saß. In die nicht überlaute, aber doch bunt durcheinander schwirrende Unterhaltung, in der einige Stimmen sich besondere Geltung verschafften, warf der junge Einhorn die an ten Holten gerichtete Nachricht über dessen Bild ein. Dieser nahm die Pfeife aus dem Munde, richtete sich etwas gerader und während sich sein Gesicht noch stärker rötete, als es schon von Natur gefärbt war, fragte er: »Woher weißt du das?« und die graublauen Augen richteten sich scharf mit einem stechenden Leuchten auf Einhorn.
17 Als dieser seine Nachricht noch ein wenig ergänzte, wurde ten Holtens Gesichtsausdruck wieder ruhig und er sagte, sich wieder in die Ecke drückend, in vollstem niederrheinischen Tonfall: »Soll er nur kaufen, der Herr Hagenbach. Vom Wollen kann ich mir nich'n Hosenknopf annähen lassen.«
Seine Umgebung äußerte sich dahin, daß dieser Kommerzienrat Hagenbach nicht der Mann sei, eine solche Äußerung ohne wirkliche ernste Absicht zu machen.
ten Holten kannte den Kunstmäcen so weit, um derselben Meinung zu sein, und sein Gesicht zeigte denn jetzt auch die Beweglichkeit der Mund- und Wangenmuskeln, die bei ihm besonderes seelisches Behagen ausdrückte. Kaum mittelgroß, aber breitschultrig, wäre er trotz der klobig geformten Nase nicht gerade häßlich gewesen, das kecke dunkelblonde Schnurrbärtchen und die listig blitzenden Fuchsäuglein gaben den Zügen sogar einen sympathisch lebensfrischen Zug, aber jene Beweglichkeit der Gesichtsmuskeln im Verein mit dessen scharfer Röte und überdies noch ein Schopf, der widerspenstig auf der Scheitelhöhe des dichten und wirren Haares anfragte und manchmal seine Rede sonderbar beweglich begleitete, gaben der Erscheinung etwas Komisches, das gar nicht in der Absicht des allerdings mit derbem Mutterwitz begabten Malers gelegen war, denn ein eigentlicher Spaßmacher, wie es die eingeborenen Düsseldorfer und Kölner oft sind, war er gar nicht; das war nicht die Art da unten an der holländischen Grenze. Wenn Pitter ten Holten über die Straße ging, lächelten die Damen vielmehr über die Grandezza, mit der der kleine breitbrüstige Mann in 18 kerzengerader Haltung trotz seiner achtundzwanzig Jahre höchst bedächtig einherschritt.
Man sprach von Kommerzienrat Hagenbach, seiner Kennerschaft und seiner Geschmacksrichtung teils höchst anerkennend, teils mit jugendlicher Schroffheit auf diesen oder jenen Kitsch, den er bei irgendeiner Gelegenheit gekauft habe, hinweisend. Schließlich drangen aber Stimmen entscheidend durch, die rühmend hervorhoben, daß Hagenbach nicht nur, wie andere Millionäre, in gewissen Nachbarstädten zumal, berühmte Namen um teueres Geld kaufe, sondern vor allem für die jüngere Künstlerschaft Düsseldorfs reges Interesse habe und, von eigenen Ankäufen abgesehen, auch auf seinen großen Gesellschaftskreis nach dieser Richtung aneifernd wirke. Aus dieser Unterhaltung wuchs eine andere, umfassender und auch leidenschaftlicher betrieben, heraus, die sich über das ganze Gebiet der internationalen Kunst erstreckte. Man sprach von Paris und meinte, es könne einem jungen Künstler, gerade so wie Italien, mehr Verwirrung als Befruchtung seines Wesens bringen, und einige angesehene junge Maler, die sich in Belgien und Holland ihre Motive zu holen pflegten, traten dafür ein, daß Düsseldorf seinem ganzen Klima nach den Anschluß an diese Gebiete suchen müsse, seit die oberrheinische Romantik nun doch einmal erledigt sei.
Da warf ten Holten aus einer Ecke ein: »Muß denn immer einer dasselbe malen, wie der andere? Wir leiden schon genug an Einförmigkeit und gucken uns zu viel voneinander ab!«
»Das mag für die Landschafter gelten,« wurde ihm entgegengehalten.
19 »Im Figürlichen aber –« ten Holten schnitt eine grinsende Grimasse und fiel ein: »Da gucken sie sich einander an und weiß keiner, was er machen soll, wenn ihm die Akademie nicht irgendeine Aula oder einen Sitzungssaal zum Bepinseln zuschustert.«
»Sei nicht so bissig, Pitterchen,« wurde ihm zugerufen. »Du gehst doch nicht fort, und wenn du's tust, kommst du bald wieder.«
»Es lebt sich ganz gut hier! Mögen sie in Berlin uns kleinmachen wollen, wir wissen doch, was wir können. Hier verhungert kein Künstler, in München aber malen sie ein ganzes Familienporträt um ein warmes Mittagessen.« So tönte es durcheinander, als sich die vom Hofe her ins Zimmer führende Tür öffnete und ein eleganter junger Mann ein zögerndes Fräulein hereinschob. Mit lachendem Gesicht rief er:
»Guten Abend, meine Herrschaften! Fräulein Stichacker ist Ihnen wohl allen bekannt. Die holde Dame sucht Schutz bei Ihnen vor meinen unsittlichen Anträgen. Fassen Sie sie vorsichtig an, daß sie keine Flecken bekommt, sie ist frisch gewaschen.«
Mit spaßhaften Bewegungen der Schultern und Beine hatte er diese Rede begleitet und machte sich dann daran, dem jungen Mädchen, das mit lächelnder Miene die Gesellschaft überblickte, beim Ausziehen der kurzen, rehfarbenen Frühjahrsjacke behilflich zu sein.
Ein Teil der Künstler antwortete mit heiteren Zurufen, die nicht nur dem jungen Mann, sondern auch dem jungen Mädchen galten. Ein anderer aber sah mit nicht gerade freundlichen Mienen auf die Ankömmlinge. ten Holten kaute grimmig am Mundstück seiner Pfeife. 20 Fräulein Stichacker fand sogleich Aufnahme auf der langen Bank zwischen zwei Malern, die sich beeilten, ihr Platz zu machen. Ihr Begleiter setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl. Das »Mäxchen«, wie sie allgemein genannt wurde, war ein schlankes, allerliebstes Mädchen von achtzehn Jahren, mit blendend weißer Haut und prächtig blauen Augen im Puppengesicht, aus deren dreistem Blick man aber Schlüsse ziehen konnte. Unter dem mit schwarzem Samtband garnierten weißen Strohhütchen in Dreispitzform wurden hellblonde Haare sichtbar. Das dünne Kleidchen mit Blumenmuster sah schon ein bißchen verwaschen aus. Ihr Begleiter, der Maler Herstall, ein beinahe schöner, brünetter Mann mit kleinem Schnurrbart und Wangenstreifen, war der Sohn einer reichen Aachener Kaufmannsfamilie und erst vor kurzem nach zweijährigem Aufenthalt von Paris nach Düsseldorf zurückgekehrt, wo er studiert hatte.
Mäxchen kam schnell in munteres Gespräch mit ihrer Umgebung.
»Wenn aber der alte Herr kommt?« fragte sie einer der Künstler.
»Der kommt nicht,« antwortete sie. »Er hat sich vor einigen Tagen arg mit dem Wirt verkracht. Und wenn auch? Ich bin doch in anständiger Gesellschaft? Und schließlich lasse ich mir auch gar nichts von ihm sagen.«
Dabei sah sie sich mit verwegenem Blick im Kreise um und zuckte dazu die Achseln.
Mäxchen Stichacker war die Stieftochter des Malers Bornbeck. Schon öfter hatte sie sich bald mit diesem, bald mit jenem der Künstler in der Stammkneipe eingestellt. Vor einiger Zeit war sie dabei mit dem 21 Stiefvater zusammengestoßen und es hatte eine heftige Auseinandersetzung gegeben. Seitdem war sie nicht mehr gekommen. Mit den meisten jungen Künstlern war sie befreundet. Einmal schien sie diesen, einmal jenen zu bevorzugen, ohne daß dabei von einem Verhältnis hätte gesprochen werden können. Man durfte mit ihr ein freies Wort wagen, sie hatte aber im allgemeinen ein anmutiges Benehmen, so daß nur ihr gelegentlicher Blick sie verdächtig machte. Es wußte jeder, woran er mit ihr war, und daß es nur von ihrer Laune abhing, wie weit man mit ihr in der Freundschaft gehen durfte. Mancher hatte es nicht gern, wenn sie in die Kneipe kam. Man wollte keine Weiberwirtschaft einführen, wie es an anderen Orten wohl vorkam. Andere aber spielten gelegentlich ganz gern mit ihr. Dabei war es stillschweigendes Übereinkommen, daß keiner über das schwatzte, was er etwa wußte. Sie war doch nun einmal die Stieftochter eines Kunstgenossen, wenn auch eines herabgekommenen, und man sah in ihr etwas anderes, als etwa in den Modellmädchen. Herstall hatte ihr einen Anisette bringen lassen, an dem sie nippte und dann mit der roten Zungenspitze die Lippen beleckte. August Einhorn, der ihr aus einige Entfernung schräg gegenübersaß, grüßte sie mit dem Bierglas. Sie antwortete mit einem lebhaften Kopfnicken.
»Kennst du sie denn so gut? Das habe ich gar nicht gewußt,« bemerkte ten Holten aus seiner Ecke heraus.
»Wir kennen doch alle das Mäxchen,« entgegnete August und errötete leicht.
»Ich kenne sie auch, fällt mir aber nicht ein, ihr zuzuprosten,« sagte ten Holten wiederum, der wohl 22 beobachtet hatte, daß Augusts Blicke, seit das Mädchen gekommen war, kaum mehr von ihr ließen.
»Da ist doch nichts dabei,« meinte jetzt dieser wie eingeschüchtert.
ten Holten antwortete trocken: »Ich dachte auch nur, es sei nicht nötig, es ihr gar zu gemütlich hier zu machen.«
»Sei nicht öde, Pitterchen,« mahnte August den Freund. Herstall kümmerte sich nicht weiter um das Mädchen, das er eingeführt hatte, sondern schwadronierte, wie er das bei jeder Gelegenheit zu tun pflegte, mit lebhaften Gebärden und lauter Stimme über das unvergleichliche Paris. Seine Art war nicht ohne Geist, aber mit einem Ton prahlerischer Leichtfertigkeit untermischt. Man hörte ihm aufmerksam zu, stellte manche Frage, und auch ten Holten, der ihn eigentlich nicht recht leiden mochte, fragte auf einmal: »Was macht man denn in Paris, wenn man nicht Französisch kann?«
Herstall erbot sich darauf sofort, ihm eine Empfehlung an einen deutschen Künstler zu geben, der ihn leiten würde.
»Ja, willst du denn nach Paris?« fragte man erstaunt.
»Ich möchte mich vielleicht einmal dort ein bißchen umsehen,« antwortete ten Holten mit einer gewissen Befangenheit.
»Aha, er rechnet schon mit den Moneten, die Hagenbach fürs Bild berappen soll,« scherzte man.
Er wurde noch damit geneckt, daß er als ziemlich unbeholfen dem weiblichen Geschlecht gegenüber galt. Das veranlaßte Herstall, mit Pariser Weibergeschichten aufzuwarten, wobei er gelegentlich zu Mäxchen hinüberlächelte, das zunächst eine blasierte Miene aufsetzte und 23 erst nach einer Weile sagte: »Jetzt wird es aber Zeit, daß ich gehe!«
Man hielt sie fest, ein übermütiger Ton begann anzuklingen, der Bildhauer Kampes, ein Kölner Kind, holte die Gitarre vom Haken und begann ein Kölner Karnevalslied, in das die meisten sofort einstimmten.
»Jetzt ist der Fastelovend da,« murrte ten Holten. »So'n kölscher Jung kann's nicht lassen.«
Mäxchen hatte erst nur halblaut mitgesungen; dann kam sie in Stimmung, denn diese kölnischen Lieder waren in Düsseldorf gerade so populär, wie drüben in der Domstadt. Ihr heller Sopran klang deutlich aus dem Männerchor heraus.
Da öffnete sich die Tür des Wirtszimmers, ein Kopf wurde sichtbar, dem alsbald eine lange Gestalt, mit einem über die Brust wallenden grauen Vollbart und wirren, grauen Künstlerlocken folgte. Mit raschen Schritten trat Maler Bornbeck der Stieftochter gegenüber. Die glasigen blauen Augen weit geöffnet, rief er mit heiserer Stimme aus speichelndem Mund:
»Hab' ich dir's nicht verboten, hierherzukommen, du liederlicher Lappen? Willst durchaus eine Atelierwanze werden?«
»Mach keinen solchen Radau,« antwortete Mäxchen zornig frech. »Ich bleibe hier, so lange es mir gefällt. Geh nur wieder dahinein, hier hast du nichts zu suchen.«
Bornbeck ließ jetzt mit einem grinsenden Lachen seinen trunkenen Blick über die Versammlung gleiten und sagte dann: »Kann ich mir das gefallen lassen, meine Herren? So'n freches Aas!«
24 Die Künstler saßen in stummer Verstimmung da. Der Gesang war mitten im Text abgebrochen worden.
Herstall erhob sich und sagte mit einer höflichen Verneigung: »Ich bin dem Fräulein begegnet und habe es veranlaßt, mit mir hierherzukommen.«
»Sie? Wer sind Sie? Kenne Sie nicht,« antwortete Bornbeck darauf, mit der Alkoholikern gelegentlich anhaftenden Gebärde des Größenwahns sich in die Brust werfend.
»Herstall ist mein Name.«
»Gänzlich unbekannter Künstler! Bleiben Sie in Ihrem Stall, Herr, und die da verhaue ich ganz gründlich, wenn sie sich nicht sogleich auf die Strümpfe macht. Ja, so ist das, meine Herren! Stimmt jemand dagegen?«
Wieder sah er herausfordernd umher.
Dem in Zorn und Scham zu Boden blickenden Mädchen flüsterten ihre Nachbarn zu:
»Gehen Sie jetzt. 's ist besser. Es geht jemand mit Ihnen.«
»Das ist meine Sache!« sagte Herstall aufspringend.
Mäxchen gehorchte dem Wink und erhob sich. Ihr trunkener Stiefvater aber wendete sich an Herstall: »Sie möchten wohl mit? Daraus wird nichts!« Dann zwinkerte er den Nächstsitzenden mit den Augen zu und sagte: »Schlau, was, schlau?«
Sich Herstall zuwendend, fuhr er fort: »Setzen Sie sich, junger Mann. Es ist kein Bedarf nach Ihnen.«
»Sie sind ja betrunken,« versetzte Herstall ärgerlich.
»Betrunken sagt er,« entgegnete Bornbeck. »Feines Bürschchen das – betrunken. Besoffen heißt es,« brüllte er dann Herstall an.
25 Sein Blick fiel jetzt auf August Einhorn. Er trat dicht an ihn heran, schlug ihm derb auf die Schultern und sagte:
»Das ist mein Mann. Gemalt hat er mich, ausgezeichnet gemalt. Talentvoller, höchst talentvoller Mensch. Bin noch nicht auf der Ausstellung gewesen, aber das Bild ist gut, ausgezeichnet, sage ich, talentvoller Mensch – –. Sie dürfen die Kleine da heimbegleiten. Macht Ihnen Spaß, was?«
Mäxchen war schon mit Hilfe eines der Künstler in das Jäckchen geschlüpft. Einhorn sprang hastig auf und ging mit ihr, die sich bitter schämte, der Tür zu. Bornbeck rief noch nach:
»Aber nur bis an die Haustür und – und Anstand, bitte, immer Anstand.«
»Immer Anstand,« wendete er sich der Gesellschaft zu, »nicht wahr? Düsseldorfer Künstler sind immer anständig. Es lebe Düsseldorf, Prost!«
Eine scharfe Stimme rief: »Die Sache ist erledigt, Herr Bornbeck, nicht wahr?«
»Erledigt, erledigt!« klangen mehrere Stimmen. Bornbeck sah einen Augenblick starr auf die Rufer. Dann sagte er mit einer tiefen Verbeugung: »Guten Abend, meine Herren!«
An der Tür blieb er nochmals stehen und lallte: »Es ist ja gar nicht meine Tochter – aber ich kenne euch – ihr seid eine Schweinebande! Eine Schweinebande seid ihr, und wenn sie auch nicht meine Tochter ist – –!«
»Raus!« riefen wieder etliche Stimmen.
Er starrte umher, fuhr mit den Fingern durch den Bart und verschwand. Mäuschenstill war es im Kreise. Einem Künstler hatten sie, die Künstler, die Türe 26 gewiesen. ten Holten schlug mit der Faust auf den Tisch und rief:
»Gottverdammich, wenn dat noch mal vorkommt, verkehre ich hier nicht mehr!«
Es entstand nun eine Erörterung über den Vorfall, bei der verschiedene Stimmen sich dahin äußerten, daß man diesen Herrn Bornbeck samt seiner Stieftochter ein für alle Mal mit höchster Vorsicht genießen müsse, während andere burschikos meinten, man solle den Zwischenfall doch nicht tragisch nehmen. Die Unterhaltung nahm mehr und mehr einen gereizten Ton infolge davon an, daß Herstall die strengere Meinung als unkünstlerisches Philistertum lächerlich zu machen bestrebt war und durch seinen übermütigen Spott Anhänger gewann, während von der anderen Seite sehr nachdrücklich betont wurde, daß man aus den Akademiejahren heraus sei und das Verhältnis zu dem unglücklichen Bornbeck und dem leichtfertigen Mädchen aus anderen Gesichtspunkten angesehen werden müsse, als dem unreifer Burschen, die mit dem Mädel poussierten und den Alten verulkten. Man war schon auf dem Standpunkt des »ich verbitte mir« angelangt, als August Einhorn mit fröhlicher Miene zurückkehrte. Man neckte ihn, daß er lange ausgeblieben sei und machte anzügliche Bemerkungen. Dadurch kam wieder eine heitere Stimmung auf, die ernsteren Genossen zogen sich zurück, und allmählich kam man wieder in das ruhige Geleise kameradschaftlicher Unterhaltung.
August Einhorn und ten Holten wohnten in gleicher Richtung und traten auch heute, wie gewöhnlich, den Heimweg gemeinsam an. Die Innigkeit ihrer Freundschaft rührte wesentlich von Einhorns Bedürfnis her, sein 27 zerfahrenes, bedrücktes Wesen an den immer ruhig verständigen, urteilssicheren Genossen anzuklammern, der wiederum seine Begabung sehr hoch schätzte und mit gutmütiger Teilnahme ihn vor Fährnissen, die seinem Wesen entspringen konnten, bewahren wollte. Ihre Unterhaltungen auf einem solchen nächtlichen Heimwege waren mit der Zeit auf beiden Seiten Bekenntnisse geworden, bei denen allerdings ten Holten immerhin mit einer gewissen zurückhaltenden Auswahl verfuhr, während Einhorn, oft von dringendster Seelennot getrieben, sich dem Freunde rückhaltlos erschloß.
Heute fing er, kaum daß sie einige Schritte auf der Straße zurückgelegt hatten, an: »Der Herstall hätte das Mäxchen nicht in die Kneipe hereinbringen sollen, das war ein häßlicher Handel.«
ten Holten antwortete darauf trocken: »Er wird's wohl auch künftig unterlassen. Die Meinung ist ihm deutlich genug gesagt worden.«
»Ich hab's auch ihr gesagt,« bemerkte Einhorn darauf. »Sie ist leichtsinnig, aber ein gutes Ding. Den Herstall kennt sie, wie sie mir sagte, nur ganz oberflächlich. Er hat sie auf der Straße angesprochen, und sie ist plaudernd mitgegangen, weil sie sich eben gern mit Künstlern unterhält. Ich hab's ihr aber klar gesagt, was sie zu erwarten hat, wenn sie sich mit ihm weiter einläßt. Das ist ein ganz rücksichtsloser Wüstling, der sie vollends verdirbt.«
»So? Du hast ihr also eine Moralpredigt gehalten?« versetzte ten Holten leicht humoristisch.
»Nur vor Herstall habe ich sie gewarnt.«
»Nur vor ihm?«
28 Jetzt ließ August ein kurzes Lachen hören und sagte dazu: »Daß ich mich selber schlecht mache, kann man nicht verlangen. Der Abschied unter der Haustür war ganz nett.«
»Hast ja schon den ganzen Abend mit ihr geliebäugelt. Meinetwegen. Von deinen ewigen Weibergeschichten bist du ja doch nicht abzubringen,« sagte jetzt ten Holten.
»Nein!« antwortete August leidenschaftlich. »Wenn ich das nicht einmal hätte, dann pfiffe ich auf den ganzen Kram, und der Herstall kriegt das Mädchen nicht, mag er es andrehen, wie er will.«
»Sie wird dir's auf die Nase binden!« versetzte ten Holten. »Du solltest einmal raus aus Düsseldorf,« fügte er dann hinzu, »andere Luft schnappen.«
»Ich mag aber nicht,« antwortete August. »Ich bin ein echtes Düsseldorfer Kind und will nicht weg von hier, trotz allem. Meinem Alten tät ich einen Gefallen, glaub ich, wenn ich ginge. Ich kann ihm zuviel. Er mag mich vielleicht einmal aus dem Hause schmeißen, aber von hier laß ich mich nicht verdrängen.«
»Weißt du was, fahre mit mir wenigstens auf einige Wochen nach Paris, wenn ich das Bild wirklich verkaufen sollte,« sagte jetzt ten Holten plötzlich, den Schritt einhaltend. »Ich nehm's auf mich, daß dir dein Vater das Geld dazu gibt, wenn du's brauchst. Aber du kannst doch schon einen ordentlichen Brocken für dein Bild von deinen Auftraggebern abheben. Ich möchte nämlich gerne hinfahren, aber da ich kein Französisch kann, bin ich dort ganz abhängig von irgendeinem fremden Menschen, an den ich mich empfehlen lasse. Du warst auf dem Gymnasium da kannst du doch Französisch? Auf der 29 Realschule in Wesel haben wir es zwar auch gehabt. aber ich bin nicht weit damit gekommen.«
»Später einmal vielleicht, aber jetzt nicht,« antwortete August hastig.
»Warum später? Was hast du denn jetzt so Wichtiges zu tun?«
»Jetzt gleich geht es eben nicht – so plötzlich entschließe ich mich nicht gern zu derlei.«
»Es muß ja nicht gleich morgen sein, ich kann auch noch einige Wochen warten.«
»Im Sommer geht man nicht nach Paris.«
»Warum denn nicht? Gottverdammich, Junge, da wird doch nicht am Ende das lausige Ding da, dieses Mäxchen, dahinterstecken?«
»Es liegt mir eben gerade nicht, lieber Pitter. Von dir ist's ja auch nur ein plötzlicher Einfall. Da kannst du doch nicht verlangen, daß man gleich darauf eingeht.«
Das Gespräch stockte und setzte sich nach einer kleinen Weile mühsam fort, indem bald der eine, bald der andere irgendein gleichgültiges Thema einschlug, bei dem dann die Gegenreden immer sehr kurz ausfielen, oft nur aus: »Ich weiß nicht«, »Vielleicht«, »Ich glaube« und dergleichen bestanden. Als die Freunde dann mit einem sehr oberflächlichen Händedruck und einem trockenen »Gute Nacht« geschieden waren, kam über den allein durch die Stille dahinwandernden ten Holten mit einem Ruck eine ganz andere Stimmung. Was in dem Augenblick, als er von dem wahrscheinlichen Verkauf des Bildes gehört hatte, in ihm geweckt worden war und dann, während er unter den Genossen saß und dahin und dorthin seine Worte richtete, in einem regen Spiele heimlicher Gedanken das Gehirn 30 durchwogte, bekam jetzt freie Bahn. Die Pariser Reise trat jetzt ganz in den Hintergrund. Das war ja doch nur eine mögliche Episode der nächsten Zeit. Jetzt eröffneten sich aber viel weitere Fernsichten in ein künftiges Leben, denn gewisse Träume gewannen eine ganz andere Grundlage ihrer Verwirklichung, als sie ihm bisher gegeben war. Der Vater war ein ländlicher Kaufmann in wohlhabender Gegend, und mit dem gutgehenden Geschäft verband sich eine ansehnliche Ackerwirtschaft. Die Familie ten Holten galt etwas im Heimatbezirk. So war Peter während der Studienzeit auf der Akademie in einer Weise unterstützt worden, daß er bei schlichter Lebenshaltung doch nicht zu jenen armen Burschen gehörte, die sich die Bissen in den Mund zählen und wohl auch einmal Not leiden mußten. Aber es waren noch mehr Geschwister zu Hause. Der Älteste führte die Ackerwirtschaft, während Vater und Mutter das Kaufmannsgeschäft betrieben, ein Bruder war Hilfslehrer an der Volksschule in einem Eifelstädtchen, er selber war der dritte, ein vierter besuchte das Gymnasium in Cleve und wollte katholischer Geistlicher werden, dazu kam eine bereits verheiratete Schwester und eine, die zu Hause emsig mithalf. Da verstand es sich von selber, daß er den Vater, als er die Akademie hinter sich hatte, nicht mehr viel in Anspruch nehmen konnte, und ihn peinigte es selbst, wenn der wackere, alte Herr gelegentlich fragte, ob er etwas nötig habe. Er war nun ganz leidlich in die Laufbahn des freien Künstlers hineingekommen. Aber ein junger Maler muß billig arbeiten, und einem Landschafter besorgte die Akademie keine Aufträge wie einem Historienmaler. Da kamen doch manchmal knappe Tage, und gepumpt hätte ein ten Holten um keinen Preis. Er nannte sich selber 31 unter den Freunden mit einiger Koketterie einen »Bauernjungen«, aber er hatte auch Bauernstolz im Elternhaus gelernt. So brachte er sich denn mehr als einmal mit heimlicher Entbehrung durch, und das flotte Leben, das manche junge Künstler führten, und damit das gesellschaftliche Getriebe in Düsseldorf, besah er sich nur von fern. Am großen Maskenfest des Malkasten war er alljährlich gewesen, Bekanntschaften in den »feinen Kreisen« hatte er dabei jedoch nicht gemacht. Das große Festessen, das gestern in der Tonhalle zur Eröffnung der Ausstellung stattgefunden hatte, war wieder eine Gelegenheit gewesen, wo er mit den Spitzen der Gesellschaft in einem Raume gesessen und sich eine Flasche Sekt gegönnt hatte. Aber in einem Winkel des Saales hatte er mit einigen Freunden gesessen. Er war seines Könnens sich bewußt und rechnete auf eine gute Zukunft. Diese gute Zukunft schwebte ihm nicht nur als phantastischer Traum von Künstlerruhm, sondern als greifbareres Bild vor. Der Bauernjunge rechnete mit praktischem Verstand, und Lebenswirklichkeiten nahm er zu Vorbildern seines Zukunftswillens. Jawohl, vom Bauerndorfe kam er, und daß in seiner Art noch viel Bäuerliches steckte, wußte er selbst am besten. Da war manches abzustreifen, aber durchaus nicht alles. Was die Freunde als seinen »Humor« fröhlich belachten, die Aufrichtigkeit des Urteils in Gestalt derben Witzes oder trockenen Spottes, würde er sich nicht nehmen lassen. Das war eine gute Schutz- und Trutzwaffe und gab ein geistiges Kraftbewußtsein, das er nicht hätte missen mögen. Das Ziel war, nicht mehr unten sitzen zu müssen an der Tafelrunde, sondern bei denen, die, wie er es gesehen, mit den Exzellenzen Händedrücke wechselten. Es wurde ihm warm ums Herz, 32 wenn er ans Vaterhaus und ans Heimatdorf dachte und an den Strom, der voll Majestät durch das fruchtbare Flachland zog; aber das konnte man ja alles lieb behalten und doch weit, weit über das hinauswachsen, was die anderen ten Holten waren und ein ten Holten werden, vor dem nicht bloß Bauern zuerst den Hut zogen. Aus der Niederung mußte er ins Hochland gehen, ins wirkliche, nicht bloß ins Traumland.
Fest hielt er die Pfeife zwischen den Zähnen und kräftig stieß er mit dem Stock auf das Pflaster.