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Als das unwirtliche Wetter des Spätherbstes den Ausflügen ein Ende bereitete, hatte ten Holten eine reiche Ernte fertiger, in Freilicht gemalter Bilder und noch zu überarbeitende Studien eingebracht. Zwei größere Arbeiten hatte er nach Düsseldorf gesandt, für drei andere hatte er sich die Ausstellung im Kunstverein gesichert. Eines Tages tauchte der Maler Ruwer in seinem Atelier auf. »Da ist er ja, der Treulose!« rief er munter bei seinem Eintritt. »Gar nichts mehr von sich hören zu lassen, das ist doch nicht recht, Herr Landsmann!« ten Holten entschuldigte sich mit seinen Arbeiten, und Ruwer ging gleich mit eifriger Neugierde daran, zu prüfen, was ihm zur Ansicht 100 vorgeführt wurde. Nach einer Weile aufmerksamen, wortlosen Betrachtens reichte er ten Holten mit jäher Bewegung die Hand und sagte: »Freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, freut mich sehr! Sie haben was los! Meine Hochachtung! Famos, ganz famos haben Sie sich in unsere Landschaft hineingelebt. Also habe ich doch den richtigen Wink gegeben?« ten Holten bedankte sich herzlich für die erteilten Weisungen. Sie unterhielten sich noch über Einzelheiten der vorliegenden Arbeiten, dann sagte Ruwer:
»Jetzt könnten wir zum Riederauer fahren. 's ist nicht arg weit von hier. Dann führe ich Sie wohin, wo es einen guten Mosel gibt. Habe heute längeren Urlaub genommen.« Ein Lächeln kam auf seine Lippen.
Mitten zwischen Lagerschuppen von Spediteuren und Großhandlungsfirmen stand das teils aus Stein, teils aus Holz gefügte hallenartige Gebäude, das dem Bildhauer Josef Riederauer zur Herstellung seiner Architekturplastiken diente. Im größeren ersten Raum arbeiteten mehrere Steinmetzen an Figuren von Tieren und heroischen Männergestalten. Eine Tür in einem Bretterverschlag führte in einen kleineren Raum, in dem der Meister im weißen Kittel vor dem Tonmodell eines riesigen behelmten Hauptes stand, das Modellierholz in der Hand, das Gesicht den Eintretenden zugewendet. Er war ein schlanker, hochgewachsener Mann Mitte der Dreißig, kurzgeschorenes, schwarzes Haar umrahmte eine freie Stirn, unter der zwei dunkle Augen energisch strahlten, eine Adlernase und sinnlich geschwellte rote Lippen, die aus einem pechschwarzen, spitzgehaltenen Vollbart hervorbrachen, formten das Bild eines schönen Mannes, der jetzt mit klangvollem Bariton heiter rief:
101 »Jessas, der Ruwer! Siecht man Sie a mal wiada? Wie schaut's denn, was macht d' Frau?«
Als Ruwer ten Holten vorstellte, fügte er bei: »Ein ausgezeichneter Landschafter.«
Riederauer drückte ten Holten mit freundlichem Blick die Hand. Dann wendete er sich wieder an Ruwer mit den Worten: »Sie sind halt ein unpraktischer Mensch! Sie wissen doch, daß ich mich hier immer nur kurz aufhalte. Besuch führt man in mein Atelier in der Theresienstraße. Da kann ich auch was Besseres zeigen, als hier in der Steinmetzwerkstatt.«
Er wies nach dem Riesenkopf, den er eben bearbeitete, und sagte wegwerfend: »Ist eben Grobzeug auf Dachhöh' hinauf.«
»Aber Grobzeug besonderer Art, will mir scheinen,« versetzte ten Holten und besah das Tongebilde mit gefesselter Aufmerksamkeit. Dieser Krieger mit der niederen Stirn, der geraden, eigentümlich kantig geformten Nase, dem bartlosen, kurzen und auch kantig geschnittenen Kinn und den dicken Lippen, dem starken Hals und den muskulösen Schultern hatte eine wuchtige Monumentalkraft, und trotz der archaisch wirkenden Stilisierung sprach aus dem Werk, je länger man es betrachtete, desto mehr ein die Starrheit der Linien durchbrechendes Temperament.
Riederauer nahm erst wieder das Wort, als der Gast durch eine Bewegung des Kopfes andeutete, daß er seine Betrachtung beendet habe, und sagte:
»Da draußen sind noch einige Sachen, die Sie vielleicht interessieren.« Dabei öffnete er die Tür. Die Gestalt eines großen, aufgerichteten Bären, ein Ritter in Kettenpanzer und Topfhelm, die Büste eines bärtigen Mannes, die ganze 102 Figur eines nackten Jünglings in der Stellung eines Speerwerfers, ein Wolf und eine Frauenbüste waren, teils in Sandstein, teils in Muschelkalk, eben in ersten Umrissen herausgearbeitet. Dieselbe archaische Stilisierung mit kantigen Umrissen und auch diese Überwindung der Starrheit durch beredsamen Ausdruck lebensvoller Kraft machten sich in jenen Arbeiten, an denen noch der Steinmetz hämmerte, und solchen, die schon weiter gediehen waren, erkennbar.
»'s ist auch Kunst,« sagte Riederauer. »Vor zwanzig Jahren hat noch kein Mensch daran gedacht, Architekturplastik so zu behandeln. Können hier genug von dem Puppenzeug sehen, das man früher an den Fronten aufgestellt hat. Aber jetzt müssen's schon auch zu mir in die Theresienstraß' kommen. Sonst kriegen's doch ein falsches Bild von meiner Arbeit.«
Nach einem kurzen Besinnen sagte er: »Wissen's was? Wir nehmen glei' am Bahnhofsplatz ein Auto und fahren hin!«
Die beiden Besucher zeigten sich einverstanden. Auf dem Wege zum Bahnhofsplatz kam in der Unterhaltung Riederauer darauf, zu erzählen, daß er der Sohn eines gräflichen Försters aus der Gegend des Chiemsees sei. ten Holten gab sich nun auch als Sohn einer ländlichen Heimat zu erkennen, und das berührte Riederauer offenbar sehr sympathisch.
»So, so!« sagte er. »Do is also bei Ihnen auch der Misthaufen net weit von der Schlafstell' gewesen. Das gibt g'sunde Leut' mit gute Fäust. Net wahr?«
Dabei glitt sein Blick über ten Holtens kleine, aber kräftige Gestalt. Im Atelier an der Theresienstraße gab 103 es kleinere und auch feiner ausgeführte Werke in Marmor und Bronze zu sehen, das kleinere Tonmodell eines Grabmals und eine Anzahl von Gipsabgüssen älterer Arbeiten. ten Holten machte eine Bemerkung über die rege Tätigkeit des Meisters, der darauf antwortete:
»Ja, ich hab' Glück gehabt. Is ja auch net nötig, daß jeder Künstler zehn Jahre durchhungert, bis er was is. 's kommt jetzt g'nug Geld nach München, daß die Münchner auch selber was für Kunst ausgeben könna und unsereins net auf die Fremden warten muß. 's gibt freili no g'nug Leut, die meinen, Kunst sei ganz nett zum Anschaun auf der Ausstellung und um darüber dummes Zeug z'reden, aber 's Geld sei zu schad dazu. An Auto muß aber jetzt jeder Protz haben.«
ten Holten besah sich auch die prächtige Junggesellenwohnung des Bildhauers, dem eine Wirtschafterin den Haushalt führte.
»Ich könnt' den Herren einen guten Tropfen Wein bieten,« sagte er. »Aber ich weiß, der Herr Ruwer, der will, wenn er in der Stadt is, sein Stammlokal aufsuchen, wo er seinen Mosel kriegt. Was anderes schmeckt ihm net.«
Ruwer lächelte dazu.
In der Folge fuhr Riederauer mit den beiden Herren auf der Elektrischen nach dem Marienplatz. In einer der alten Seitengassen befand sich die Weinstube, ein dämmeriger, gemütlicher Raum, der von Gästen ziemlich besetzt war. Als ten Holten seine Verwunderung darüber aussprach, entgegnete Riederauer:
»Sie meina wohl, in München trinkt man nur Bier? Da sind S' gewaltig im Irrtum. Mit dem Münchener Bier treibt ihr Norddeutschen überhaupt Unfug. I komm' 104 keine sechsmal im Jahr ins Hofbräuhaus und hab' dort auch noch nie an General mit an Dienstmann sitzen sehen, wie bei euch die Zeitungen schreiben. Ich trink' überhaupt wenig und dann entweder Rotwein oder Pilsener; Münchener Bier nur gelegentlich. Ähnlich machen es andere. Es sauft net jeder Münchner täglich zwölf Liter.«
Ruwer wurde sehr vergnügt, als er bei seiner Moselflasche saß. ten Holten gelangte dabei bald zu der Anschauung, daß Ruwer dem Bildhauer jedes Wort gespannt von den Lippen ablas, dieser ihn aber mit gutmütiger Überlegenheit behandelte, wie bei Knaben der stärkere Freund den schwächeren. Im Laufe der Unterhaltung erwähnte Ruwer ten Holtens Begehren nach geselligen Beziehungen.
Riederauer sagte darauf: »Das kann man schon machen. 's handelt sich nur darum, wollen Sie hauptsächlich Herrenverkehr oder möchten Sie mehr an nette Weiberle kommen? Die giebt's nämlich hier, mei Liabar! Das Dreckzeug von der Straß' und in den Nachtkaffees, mit dem die Berliner groß tun – i bin mehrmals in Berlin g'wesen – versteh' i darunter net. Aber auch net die braven Mäderln, die geheirat' sein wollen. Familienverkehr hab' i gar keinen. Auf den sind aber die Norddeutschen oft versessen. Nachher bleiben's auch irgendwo hängen.«
ten Holten schüttelte lachend den Kopf.
»Nur net einsaugen lassen!« fuhr Riederauer fort. »Aber sonst, mein' Arbeit und die Weiber! Geht nix darüber! Das heißt, in der Kunst mag ich's gar net so arg, arbeit' gar net gern mit weiblichem Modell. Die badenden Jungfrauen, Quellnymphen und das Zeug liegen mir net, mir is so was fad. Aber im Leben – schad' um jede, 105 die einem auskommt.« Seine Augen leuchteten, und sein Oberkörper dehnte sich, heißes Leben ausatmend. Es war etwas von brutaler Schönheit in ihm, das ten Holten fesselte.
Ruwer lächelte sanft dazu und sagte: »Auch Sie werden einmal ausgetobt haben und dann eine reiche Münchner Bürgerstochter heiraten.«
»So gut will i 's net haben,« scherzte Riederauer und fügte hinzu: »I tät mi schlecht ausnehmen in so einer ganzen Verwandtschaft drinnen, wie das in solchen Bürgerfamilien ineinanderhängt. Dös hat ja auch gar nix miteinander zu tun. Wenn i gern auf d'Jagd geh', setz' i mi net in an Hühnerstall.«
Als nun Ruwer etwas über geniale Lebensführung bemerkte, wurde Riederauer fast heftig.
»Damit lassen S' mi nur aus!« rief er barsch. »I weiß, was i will und bin kein Schlawiner.«
ten Holten fragte nach der Bedeutung des ihm unbekannten Ausdrucks und erhielt von Riederauer den Bescheid, daß darunter wohl ursprünglich »Slawen« gemeint gewesen seien, wandernde Mausefallenhändler und ähnliches slawisches Volk, das viel auf den bayerischen Landstraßen verkehrt. Jetzt wende man den Ausdruck auf die aus Polen, Serben, Rumänen sich zusammensetzende künstlerische Bohème an, die hauptsächlich im Vororte Schwabing wohne.
»Norddeutsche sind auch genug dabei,« schloß der Bildhauer.
ten Holten begehrte neugierig Näheres über dieses Schwabing zu erfahren, von dem er schon in Düsseldorf gehört hatte.
106 »An Affentheater is 's,« sagte der Bildhauer darauf. »Verrückte Weiber, die sich net waschen, und ausgemergelte Lasterbuben mit verlaustem Haar. Münchnerisch is gar nix daran, nur internationales Ungeziefer, das sich hier eingenistet hat.«
»Sie sind ja sehr übel gestimmt gegen diese Leute,« bemerkte ten Holten.
»Die Bagasch frißt sich bei uns ein und verdirbt unser Münchner Leben,« antwortete Riederauer.
Ruwer hatte mehrmals auf die Uhr gesehen. Nachdem er es wieder getan hatte, sprang er hastig mit den Worten auf: »Ich kann mich nicht länger aufhalten.«
Riederauer sagte lachend: »Aha, die Frau Gemahlin ruft. 's Essen darf net anbrennen. Empfehlen Sie mich bestens.«
Sich von ten Holten verabschiedend, lud Ruwer diesen dann mit herzlicher Dringlichkeit auf Sonntag zum Mittagessen ein und fügte bei: »Meine Frau wird sich sehr freuen. Das soll ich Ihnen noch besonders ausrichten.«
Als er sich entfernt hatte, fragte Riederauer: »Kennen Sie seine Frau schon?«
ten Holten verneinte, und der andere fuhr fort: »Schönes Weib, Schulmeisterstochter da irgendwo aus der Gegend von Erding. Früher, als er noch in meinem Viertel gewohnt hat, haben wir uns ja öfter getroffen. Ich kann ihn gut leiden. 's ist ein feiner Künstler. Aber bei so an Manderl muß ja ein strammes, schneidiges Weib sich als Frau zum Hausdrachen auswachsen. Er is ja doch 's leibhaftige Heiligenbild'l. Gibt's viele solche bei Ihnen am Rhein?«
ten Holten erwiderte: »Im allgemeinen ist man bei uns sehr zielbewußt veranlagt und nicht von gar so sanfter 107 Gemütsart. Aber es herrscht auch viele Frömmigkeit. Herr Ruwer scheint sehr fromm zu sein, und daraus kommt wohl zuweilen eine Art Verträumtheit. Auf der Akademie habe ich schon derlei beobachtet. Er hat doch zugleich rheinischen Frohsinn, ist kein Duckmäuser und freut sich in seiner Art des Lebens, wie es scheint.«
»Fromm is er,« sagte darauf Riederauer, »das weiß i, und kreuzfidel kann er auch sein.«
Nach einer kleinen Pause fuhr er, ten Holten gespannt ansehend, fort: »Bei Ihnen – die große Industrie – die Rheinschiffahrt – läßt sich denken, daß da die Menschen rührig sind und 's Leben fest anpacken. Das is eben auch meine Meinung. Man darf nicht abwarten, daß das Glück auf einen zukommt, man muß es abfangen und mit beide Fäust' festhalten.«
Nun kamen sie in ein lebhaftes Gespräch über die Lebensklugheit, die auch dem Künstler nötig sei, und erkannten, daß sich ihre Anschauungen sehr nahe berührten. Riederauer zeigte sich darüber höchst erfreut. »Wir haben uns nicht das letztemal gesehen,« sagte er schließlich beim Auseinandergehen und nach einem kleinen Zaudern fügte er hinzu: »Wenn's Ihnen paßt, nachher kommen S' heut' abend so gegen neun in die Pilsener Bierstube an der Frauenkirch'. Da hab' ich einen Stammtisch, nichts Besonderes, aber ganz nette Gesellschaft.«
ten Holten sagte zu.
Die Pilsener Bierstube lag an der Südseite der Frauenkirche, am Eingang eines engen, finsteren Gäßchens und sah, von außen gesehen, wie eine Kneipe niederen Ranges aus, so daß sich ten Holten erst zweifelnd umsah, ehe er die Tür öffnete. Dann bot sich ihm ein nicht sehr 108 großer Raum mit zwei großen schmiedeeisernen Beleuchtungskörpern, die Wände waren zur Hälfte weiß und mit Farbendrucken aus der Jugend geschmückt, zur anderen mit in Mahagonileisten gespannten Matten bedeckt. Den längsten Tisch an der Hinterwand nahm Riederauer mit seiner Gesellschaft ein. Es saßen da ein Graf und Oberleutnant im Leibregiment, ein älterer Herr, den man Hofrat nannte, ein noch junger Rechtsanwalt, ein Gymnasiallehrer, ein Architekt und endlich als einziger Norddeutscher ein Dr. Kellendorf. Wie ten Holten alsbald erfuhr, war letzterer ein Privatgelehrter, der aus Stargard stammte und an der Staatsbibliothek besondere Studien trieb.
Im Laufe des Abends ergab sich eine sehr mannigfaltige, die verschiedensten Gebiete berührende Unterhaltung. Man sprach behaglich, ruhig, in kurzen Bemerkungen, manchmal klang es beinahe träge. Zuweilen fiel ein schlicht hingeworfenes Scherzwort. Namentlich der gräfliche Oberleutnant war ein sehr spaßhafter Herr. ten Holten bemerkte bald, daß der norddeutsche Doktor von der allgemeinen Art abwich. Er sprach laut, mit sehr heller Stimme, in einer betonten Weise, die auch der unbedeutendsten kurzen Bemerkung Gewicht beizumessen schien, und mehrmals kam er zu längeren Ausführungen, die rechthaberisch lehrhaft klangen. Man widersprach ihm wohl gelegentlich, aber es kam nicht zu lebhafteren Debatten.
ten Holten unterhielt sich sehr gut. Die Herren waren mit der Zeit auf einen ganz gemütlichen Fuß mit ihm gekommen, und er hatte Gelegenheit gefunden, mit seinem eigenen Humor zur heiteren Stimmung beizutragen. Er beschloß, diesen Kreis noch häufiger aufzusuchen.
109 Am Sonntag fuhr er nach der Prinz-Ludwigs-Höhe hinaus, nicht ohne einige Neugier auf die Bekanntschaft mit Ruwers Gattin. Er lernte eine schlanke, große Frau von außerordentlicher, wenn auch leises Welken andeutender Schönheit kennen. Mit ihrem rabenschwarzen Haar, dem rotwangigen, vollen Gesicht, aus dem große braune Augen leuchteten, und dem reizvollen Mund war sie der echte Typus jener ländlichen Schönen der bayerischen Bauernmalerei, den man gern für süßliche Mache hält. Allerdings war der Ausdruck der Augen durchaus nicht süßlich, deutete vielmehr auf eine leidenschaftliche Natur hin. Mit ihrer klangvollen Altstimme sagte die schöne Frau, ihm die Hand reichend: »Müssen schon entschuldigen, daß wir Sie damals bei Ihrem Besuch net haben zum Essen hier behalten können. Auf plötzliche Gäste sind wir eben gar net eingerichtet. Mein Mann kennt das natürlich net,« fügte sie mit einem spöttischen Blick auf den Gatten hinzu.
Es gab echt-bayerische Speisenfolge: Leberknödelsuppe, ein Stückchen Rindfleisch mit Gemüse, Gansbraten mit Nudeln, dazu erst ein großes Glas Bier, dann Ruwers geliebten Moselwein.
Als Ruwer das Bier sah, erklärte er in einem harmlos spöttelnden Ton ten Holten, daß es hierzulande nun einmal ohne Bier bei Tisch nicht gehe und man die Regel nicht kenne, daß Bier vielleicht nach, aber nie vor dem Wein zu trinken sei.
Seine Gattin versetzte darauf mit deutlicher Gereiztheit: »Wir sind halt einmal in Bayern. Wenn's am Rhein anders der Brauch ist, kann der Herr ja das Bier stehen lassen. Aber hingestellt muß es werden.«
ten Holten erklärte, er genieße sehr gern einen Schluck Bier.
110 Ruwer rechtfertigte sich, auf die auf dem Tische stehende Weinflasche weisend: »Das ist eben ein besseres Gewächs, und der Geschmack leidet doch darunter, wenn man vorher Bier genossen hat.«
Er bekam einen scharfen Blick, zugleich knüpfte seine Frau aber recht geschickt daran Fragen nach ten Holtens Heimat, ob sie auch an der Mosel liege, wo sie einmal mit ihrem Mann gewesen sei. Mit einem deutlichen Klang von neckendem Trotz fügte sie bei: »Gerad' an den Wein hab' ich mich gar nicht gewöhnen können. Der gewöhnliche war mir zu sauer, und der feinere ist mir zu Kopf gestiegen.«
ten Holten kam auf das Münchner Bier zu sprechen und im weiteren Zusammenhang auf das Pilsener, und dabei erzählte er, daß er jetzt Riederauer häufig in der Pilsener Bierstube treffe.
Da sagte Frau Ruwer: »So, den Riederauer kennen Sie auch?«
Als sie erfuhr, daß ihr Gatte die Bekanntschaft vermittelt habe, sagte sie zu diesem: »Da hättest auch was Gescheiteres tun können.«
Und zu ten Holten gewendet: »Das ist ein wüster Mensch, von dem lernt man nichts Gutes.«
ten Holten deutete lächelnd an, daß er sich über die Jahre der Verführungsgefahr hinausgewachsen fühle; Ruwer sprach davon, daß es ihm eben von den Weibern leicht gemacht werde, die dem schönen Manne nachliefen, und äußerte:
»Wenn ein Mann vom weiblichen Geschlecht immer so verwöhnt worden ist wie Riederauer, dann muß man fragen, ob nicht er ursprünglich der Verführte war!«
111 »Ja, ja,« sagte darauf die schöne Frau, »ihr Männer steckt alle unter einer Decke, was das angeht.«
Da wurde Ruwer sehr ernst und sagte: »Davon kann bei mir keine Rede sein. Das weißt du. Was ich an Riederauer schätze, hat mit seinen Liebesgeschichten nichts zu tun.«
Frau Ruwer lenkte jetzt ein: »Er ist ein schöner, ein lustiger Mann, ein großer Künstler. Das will ich schon zugeben. Aber eine ehrbare Frau muß sich fern von ihm halten. Ich bin froh, daß er nicht oft zu uns herauskommt.«
ten Holten erkannte, daß es nicht leicht war, hier auf ein Gespräch zu kommen, das nicht unbehagliche Wendungen annahm. Es gelang aber doch, daß man das Ende der Mahlzeit ohne weitere Reizbarkeit erreichte. Zur süßen Speise, dem Strudel, erschienen die drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, prächtige, rotwangige Sprößlinge von fünf, drei und zwei Jahren. Beide Eltern wetteiferten in Zärtlichkeit mit ihnen, und es bot sich ten Holten ein Bild des innigsten Familienglückes, wie es nach dem Vorhergehenden nicht zu erwarten gewesen war. Er sagte Frau Ruwer eine Artigkeit über die Kinder, und sie antwortete mit einem Lachen, das sie noch verschönte:
»Net wahr, 's ist keine schlechte Rass'?«
Dabei warf sie dem Gatten einen kokett vertraulichen Blick zu.
Nach Tisch schlug sie einen Spaziergang gegen Großhesselohe vor und machte eine sehr vergnügte Miene, als sie zwischen dem Gatten und ten Holten dahinschritt. Es war ein kalter, aber sonnenheller Tag. Als man die 112 Häuser hinter sich hatte, sah man auf die Isar hinab, die lief unten im Tal, weiße Kiesbänke umwirbelnd, vom anderen Ufer grüßte der rostbraune und dunkelgrüne Wald, die Eisenbahnbrücke schwang sich von Höhe zu Höhe über das Tal, und dahinter ragte das Wunder der Berge. Schnee war dort in den letzten Tagen gefallen. Blendend weiß grüßten die vielgezackten Gipfel ins Land, und tief herab erstreckten sich die Streifen und runden Flecke des die Schluchten und Mulden des azurblauen Gebirgsstockes füllenden Schnees. Ganz nahe waren die Berge gerückt, deutlich unterschied man an der Zugspitze und am Karwendel die Felsgebilde in ihrer Gliederung.
Ruwer sagte zu ten Holten: »Das müssen Sie wohl auch gestehen, eine solche Herrlichkeit kennen wir doch nicht bei uns am Rhein und an der Mosel.«
ten Holten sah den stolzen Heimatstrom vor sich und wollte Ruwers Wort abwehren, aber er fand das rechte, das zwingende Wort nicht, das den Zauber dieses blauweißen, zum Himmel ragenden Gebildes, wie es sich den ganzen Horizont entlang in märchenhaften Formenspielen hinstreckte, gebrochen hätte.
Trocken, ein wenig verstimmt über den unnötigen Vergleich, sagte er: »Die Natur redet in allerlei Sprachen, und jede will verstanden sein.«
»Und immer kommt es darauf hinaus, daß der Mensch nicht das Höchste auf Erden ist,« sagte Ruwer darauf.
ten Holten entgegnete mit leiser Ironie: »In der Bibel steht aber doch, er sei nach Gottes Ebenbild geschaffen.«
Ruwer besann sich einen Augenblick. Dann sagte er mit einem kleinen Lächeln: »Ich bin ein gläubiger 113 Katholik, aber alles in der Bibel braucht man, meine ich, nicht wörtlich zu nehmen.«
Wieder hielt er ein bißchen inne, ehe er fortfuhr: »Ich glaube, die Menschen sind sehr spät zu einer jenseits der praktischen Erwägungen gelegenen Naturanschauung gekommen. Die Naturreligionen waren ja auch nur etwas ganz Grobes, der sinnfälligen Erfahrung Entnommenes. Die über das Sinnliche hinausgehenden Empfindungen, Ahnungen, die die Natur in uns weckt, meine ich. Da sind mystische Zusammenhänge, geheimnisvolle Anziehungen vorhanden. Geheimnis, Mystik ist alles, was uns umgibt und womit wir irgendwie ganz anders in Beziehung stehen, als die Naturlehre weiß.«
»Das ist eben etwas, was nicht immer Natur ist, sondern was wir in sie hineinlegen,« meinte ten Holten. »Das kommt dann in dem zum Ausdruck, was wir landschaftliche Stimmung nennen.«
»'s ist noch etwas anderes, was sich nicht malen läßt,« sagte Ruwer. »Aber ich möchte zugestehen, daß in der guten Landschaftsmalerei ebenso viel Seelisches, ja vielleicht noch mehr zum Ausdruck kommt, als in der figürlichen.«
ten Holten äußerte darauf: »Da sprechen Sie eine Ansicht aus, die auf Akademien als arge Ketzerei gelten dürfte.«
»Deshalb braucht sie nicht falsch zu sein,« entgegnete Ruwer. »Ich bin kein moderner Gegner der Akademien, aber Schulen sind nicht die Stellen, an denen man sich seine Kunstanschauungen holt. Sie sollen uns das Handwerk lehren, das Weitere ist unsere Sache.«
Frau Ruwer fiel jetzt in das Gespräch der beiden Männer mit der Bemerkung ein: »Mir hat die Gegend 114 an der Mosel und am Rhein sehr gut gefallen. Schön ist's da und so lebendig. Von Mainz bis Koblenz sind wir mit dem Schiff gefahren, da waren so viel Menschen darauf. Ich habe immer denken müssen, wie schrecklich es wäre, wenn da ein Unglück geschähe.«
ten Holten war es unklar, ob die Frau, von der Unterhaltung der Männer gelangweilt, dieser eine andere Richtung geben wollte, oder ob es ihr darum zu tun sei, gegen die Äußerung des Gatten über die Landschaft einen Widerspruch nur um des Widerspruchs willen einzuschieben. Als geborene Bayerin hätte sie sich ja über seine Anschauung freuen müssen. Er ging auf ihre Worte ein, indem er sagte, sie hätte auch noch das Siebengebirge und Köln sehen sollen und sprach obenhin weiter, ärgerlich darüber, daß jetzt Ruwer schweigend nebenher ging und das Gespräch mit ihm, daß sehr anregend zu werden versprochen hatte, gestört war.
Man betrat schließlich eine Wirtschaft, die von besserem Bürgerpublikum gut besucht war, und trank Kaffee. Frau Ruwer schien sich hier sehr zu gefallen, betrachtete mit lebhaftem Eifer die Leute und machte humoristische Bemerkungen darüber. Ruwer selbst leistete sich auch einige Späßchen, und da ten Holten in den Ton einstimmte, ergab sich auf eine Weile die Lustigkeit eines spießbürgerlichen Sonntagsausfluges. Aber im Verlaufe des Beisammenseins kam es doch auch wieder zu einem gediegenen Gedankenaustausche der Männer, und als ten Holten in die Stadt zurückgekommen war, faßte er das Ergebnis des Tages dahin zusammen, daß ihm der weitere Umgang mit Ruwer gewinnreich erschien. Wie weit ihre künstlerischen Wege auch auseinandergehen 115 mochten, der Mann hatte ihm doch Gesichtspunkte eröffnet, die ihn ernstlich beschäftigten. Er fühlte jetzt einen Bildungsmangel, dessen er sich nie bewußt geworden war. Eine Durchgeistigung der Kunst kam da zum Vorschein, die ihm das Gewissen schärfte, als ob sein eigenes Denken doch zu sehr an der Oberfläche der Dinge hafte und dabei gerade das herauskommen könnte, was doch nicht sein bestes Ziel war, jene leere »Geschicklichkeit«, bei der ihm das Hagenbachsche Fest und Hedwig Einhorns jetziger Gatte einfielen. Einige Tage zogen quälende Stimmungen durch sein Gemüt, Angstgefühle, als ob seine Kräfte am Ende nicht zureichten. Dann kam die Ausstellung seiner Bilder im Kunstverein. Die Zeitungen sprachen sich anerkennend aus, und ein junger Kunstschriftsteller kam in sein Atelier, um für einen Artikel in einer Zeitschrift Informationen über seine Herkunft und seinen Bildungsgang einzuholen. Den größten Erfolg sah er aber in einem Brief, in dem ihm Professor Wieland schrieb: »Sie haben mir seinerzeit den Wunsch mitgeteilt, der Münchener Sezession beizutreten. Ich möchte sehr gern mit ihnen Rücksprache über diese Angelegenheit nehmen. Vielleicht könnten wir uns morgen in der Allotria treffen, wo Sie sich leider gar nicht mehr haben sehen lassen.«
Er fand jetzt eine ganz andere Aufnahme in dem Künstlerklub, als bei seinem ersten Erscheinen, was den bezeichnenden Ausdruck in der gemütlich freundlichen Bemerkung fand: »Sie haben ja im Kunstverein eine famose Visitenkarte abgegeben.«
Daß die Bilder, die er nach Düsseldorf geschickt hatte, dort sehr bald verkauft waren, die im Kunstverein ausgestellten aber wieder in sein Atelier zurückkehrten, beirrte 116 ihn nicht in seiner freudigen Zuversicht. War doch nach jener Unterhaltung mit Professor Wieland auch seine Aufnahme in der Sezession zustande gekommen, und hatten die vornehmsten Kunsthändler ihn aufgefordert, künftig in ihren Salons auszustellen. Gleich erfaßte ihn aber jetzt der Eifer, endlich in Münchener Gesellschaftskreise Eingang zu finden; Riederauer, den er mit diesem Wunsche drängte, meinte, vor Karneval sei da nicht viel zu machen, bot ihm aber doch die Einführung bei der Baronin Wehrenburg an. Er erklärte dabei: »Die Baronin ist eine Norddeutsche, hat aber ihre Kindheit in München verbracht und lebt seit ein paar Jahren mit dem Herrn Gemahl wieder hier. Das ist ein mecklenburgischer Adeliger, der Musik treibt und eine Oper komponiert hat, die er immer am Hoftheater unterzubringen sucht. Es verkehren daher auch viele Musiker im Hause, daneben aber auch noch anderes Kunstvolk, wie ich. Nette Mädels sind auch vorhanden.«
Das freiherrliche Ehepaar empfing jeden Sonntag. ten Holten fand vornehm-freundliche Aufnahme. Es waren noch ein paar norddeutsche Gräfinnen und Baroninnen anwesend und etliche junge und halbjunge Fräuleins, auch aus Norddeutschland, deren jede irgend etwas in München studierte, einige Musiker und zwei Universitätsprofessoren mit ihren Damen. Man trank Tee, auch Wein stand bereit. ten Holten hatte bald herausgefunden, daß trotz der norddeutschen Mehrheit die bayerischen Künstler den gesellschaftlichen Mittelpunkt bildeten. Namentlich war Riederauer Hahn im Korbe. Er gab sich gar nicht so derb, wie ihn ten Holten bisher kennen gelernt hatte, sondern sehr geschmeidig, spielerisch. Die jungen Damen, mit denen er sich unterhielt, hingen mit verzückt freudigen 117 Blicken an ihm, bei einzelnen schien es geradezu, als spräche eine heiße Begierde aus ihren Augen. Auch die Baronin zeigte sich gegen ihn sehr huldreich. Zu ten Holten sagte sie im Verlaufe eines Gespräches: »Man muß viel Nachsicht haben mit diesen Bayern. Sie werden leicht zu gemütlich. Aber sie haben Persönlichkeit, sind keine Schablone.«
Zwischen sechs und acht Uhr wechselte immer wieder das Bild der Besucher, behielt aber seinen künstlerischen Grundcharakter bei. Der Ton war vornehm korrekt, hatte gar nichts Bohèmehaftes, wenn auch einzelne der kunstbeflissenen Damen, wenigstens in Toilette und Frisur, ein bißchen genialische Gebärde versuchten.
Als ten Holten mit Riederauer zur Pilsener Bierstube ging, sagte dieser: »Was diese jungen Kunstdamen angeht, so ist's eben doch ein verfeinertes oder heimliches Schwabing. Die Mädel kommen ja schon mit der vorgefaßten Meinung her, dieses München müßte voll Abenteuer stecken, und lauern vom ersten Tage an auf das Erlebnis, das sie net erwarten können.«
ten Holten hatte nicht das gefunden, was ihm vorschwebte; aber er war entschlossen, auch hier Fuß zu fassen, in der Erwartung, daß sich daraus weitere Gelegenheiten entwickeln konnten.