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ten Holten hatte sich ganz beliebt gemacht in jenen Kreisen tanzlustiger junger Damen. Er war ein guter Tänzer, und es ließ sich auch unterhaltend mit ihm schwatzen. Ihm gefiel das Spiel mit den harmlosen frischen Dingern, von denen wohl einmal die eine oder die andere ihre Gefallsucht deutlicher betonte, die meisten aber nur das warme, junge Blut im Tanze austoben wollten. Die Mütter dachten wohl mit beobachtendem, die Tänzer abschätzendem Blicke an andere Zwecke solcher Ballbesuche, die für sie gerade nicht übermäßig 222 unterhaltend waren. Die Väter standen ziemlich hilflos herum. Peter scherzte gern über diese Beobachtungen, und die Mädchen lachten belustigt dazu, wenn er ihren Eltern ein komisches Mitleid widmete. Als ein kleiner, etwas behäbiger Lebemann stolzierte er selbstbewußt im Saal herum, begrüßte fröhlich schmunzelnd ihm schon bekannte Damen und war immer gern bereit, sich neuen Tänzerinnen vorstellen zu lassen. Er gab dann auch geduldig immer Auskunft über die Natur seines »ausländischen« Namens und berichtigte immer wieder die Vorstellung der Damen, die das Wort Rhein mit einem gefühlvollen Schmelz aussprachen, daß in seiner Heimatgegend keine Loreley ihr Haar kämme und keine Burgruinen auf Felsenhöhen thronten. Es tauchten wohl noch einige junge Künstler in diesen Kreisen auf, aber groß war die Zahl, wie ten Holten nach einiger Zeit feststellen zu können glaubte, nicht. Zahlreich war das Offizierkorps, insbesondere Infanterie und Artillerie, vertreten, auch die Universität stellte viele Tänzer. Bei den alten Herren bildete die Beamtenschaft aller Rangstufen den Kern, daneben machten sich Geschäftsleute vornehmen Ranges geltend. Von älteren Malern fand ten Holten neben diesen nur den Professor Kindler. Das war nun allerdings eine auffallende Erscheinung, die den Künstlerberuf von weitem erkennbar machte. Ergrauendes, ehemals dunkles Haar krönte mit aschfarbenem, dichtem Gelock eine hohe Stirn, aus dem regelmäßig geschnittenen Kopf blitzten ein Paar lebensfrische, dunkle Augen, ein ebenfalls aschgrauer Rembrandtbart umspielte Oberlippe und Kinn. Der hochgewachsene, schlanke Herr trug an seinem Frack ein goldenes Kettchen mit drei verkleinerten Ordenskreuzen. Als »der schöne Vater der schönen Töchter« 223 war er bekannt, und man hielt ihn für eitel auf seine äußere Erscheinung, obwohl er schon in den ersten Fünfzigern stand. Er war aber dabei eine gemütlich liebenswürdige Persönlichkeit von echt bayerischem Schlag. ten Holten war er von Anfang an sehr herzlich entgegengekommen. Er begrüßte ihn immer mit einem kräftigen Händedruck und einem witzelnden Scherzwort. Einmal sagte er, an seinen Namen anknüpfend: »Da ist ja unser Niederländer!«, ein andermal: »Na, wie steht's, Sie echter Pitter ten Holten?« Die dritte Redensart hatte er von seiner jüngeren Tochter Julia entlehnt: »Guten Abend, Rheinländer ohne Ritterburg!«
Julia hatte an ten Holtens Erklärung über seine Heimat, wie er sie auch gelegentlich ihr gemacht hatte, anknüpfend, im häuslichen Kreise über ihn bemerkt: »Er ist ein Rheinländer, aber von da, wo es keine Ritterburgen gibt.«
Die jungen Herren waren geteilter Meinung, ob sie die ältere der Kindler-Töchter Marie, die etwas kleiner und dabei voller als Julia war und große, etwas schmachtende Augen hatte, oder diese in ihrer sylphidenhaften Schlankheit und mit den lustig blitzenden, echt münchnerischen Braunaugen vorziehen sollten. Auch Marie war sehr lebhaft in der Unterhaltung und hatte ein wunderschönes Lächeln, bei dem sie ihre blendend weißen, schön gereihten Zähne wies, aber Julia war voll Übermut und Schelmerei und wußte sich schlagfertig mit den Verehrern zu necken. Beide Mädchen waren sehr gewandt im geselligen Verkehr, bewegten sich mit sicherer Freiheit, zeigten aber weder Koketterie noch freies Wesen. Glückliche, lebensfrohe Kinder, trugen sie die jungfräuliche 224 Unschuld und die gute häusliche Erziehung deutlich zur Schau. Unter Mariens Verehrern tat sich besonders ein Dr. Hinrichsen, Professor der Technischen Hochschule, hervor. Der aus Schleswig gebürtige stattliche Mann mit dem wohlgepflegten, hellblonden Vollbart und den durchgeistigten, sehr energischen Gesichtszügen, drängte, wie es ten Holten scheinen wollte, die anderen Herren durch das Gewicht seiner gereiften Persönlichkeit beiseite. Er mochte wohl Mitte der Dreißig sein, tanzte nicht sonderlich gut, unterhielt sich mit Marie sehr gelassen, ohne eigentlich den Hof zu machen, und wurde von ihr mit einer Liebenswürdigkeit behandelt, die sich wie bescheidene Unterordnung ausnahm. Sie ließ dabei jeden Herrn kühl beiseite, wenn er an sie herantrat. Julia bevorzugte offenbar keinen einzelnen, zeigte aber immerhin Vorliebe für solche Verehrer, die ihr mit lachender Miene entgegentraten und das Gespräch gleich in einen scherzhaften Ton überzuleiten verstanden. Das kam ten Holten gerade gelegen, und er war mit ihr bald zu einer gewissen Vertraulichkeit gekommen, deren Auftakt nicht er, sondern sie zu geben pflegte. Gelegentlich sagte sie einmal: »Ich weiß nicht, wie das kommt, aber ich tu' mir so leicht mit Ihnen, obwohl wir uns nur von einigen Bällen her kennen. Sie nehmen es mir doch nicht übel? Ich möcht' nämlich nicht, daß Sie mich für frech halten.«
ten Holten wehrte lebhaft ab und sagte dann: »Ich weiß sehr gut, Fräulein Kindler, wofür ich Sie zu halten habe und danke Ihnen für die frische Unbefangenheit, die Sie mir entgegenbringen. Das ist eine Auszeichnung für mich.«
225 »Schön gesagt!« scherzte sie darauf. »Ich mein' nur, ihr Preußen habt sonst eine etwas penible Art und mißversteht eine solche Zwanglosigkeit am Ende.«
Er antwortete: »Ich bin nur so ein Malersmann und schlichter Leute Kind. Mir ist die steife Art, die sie preußisch zu nennen belieben, auch nicht behaglich.«
»Die gute Form muß man ja wahren,« sagte sie darauf mit schlichtem Ernst, »und ausgelassen darf eine Dame nicht sein. Das gefällt mir auch nicht. Wir verstehen uns also? Das freut mich. Die Schmeicheleien und schönen Redensarten, mit denen sich die Herren auf den Bällen so oft behelfen, weil ihnen nichts Besonderes einfällt, kann ich gar nicht vertragen. Von Kunst verstehe ich zu wenig, um klug zu reden, wenn auch mein Vater Maler ist. Manche meinen, sie müßten das Thema anschlagen. Tanzen und lustig sein, das ist der richtige Karneval!«
»Ganz meine Ansicht!« antwortete ten Holten und trat mit ihr zum Tanze an. Nichts deutete indessen in seinem Benehmen auf verliebte Umwerbung hin. Auch andere hübsche Mädchen wußte er zu fröhlicher Kurzweil herauszufinden im Gewoge des Saales. Aber mochte es aus der Berufsgemeinschaft mit dem Vater oder aus anderen Gründen kommen, auf die er sich nicht besann, er kam mit der ganzen Familie in ein freundschaftliches Verhältnis, denn auch die Mutter, eine redelustige, liebenswürdige Dame, zog ihn wiederholt in längere Unterhaltung. Da erfuhr er auch, daß es der wohlbedachte Wille der Eltern war, die Mädchen ihre Jugend in einem gediegenen bürgerlichen Stil genießen zu lassen, da sie die Lebensart der glänzenden Künstlerkreise nicht angemessen für sie fanden.
226 »Die Mädchen stehen dort ohnehin beiseite,« sagte Frau Kindler, »sofern sich eine nicht irgendwie auffällig macht, und sich als Schönheit feiern zu lassen, das ist einem jungen Ding doch wahrhaftig nicht gesund. Unsere Mädel können sich sehen lassen, aber ich möchte nicht, daß sie sich in allen möglichen Kostümen zur Schau stellen. Mein Mann denkt Gott Lob ebenso. Zu ihrem Vergnügen sind sie jung, sagt er, nicht zum Vergnügen anderer Leute.«
Es konnte bei diesen freundlichen Beziehungen im Ballsaale gar nicht mißdeutet werden, als Frau Kindler auf einem der letzten Bälle zu ten Holten sagte: »Kommen Sie doch am Fastnachtssonntagabend zu uns. Wir haben einen kleinen Maskenscherz unter einigen Bekannten. Kein Kostümfest, ganz einfach, aber lustig. Die Mädchen machen sich natürlich mit allerlei Trachten hübsch, die jungen Herren aber sollen in spaßhaften Verkleidungen kommen. Erst geht es münchnerisch zu mit Bier, Brat- und Weißwürsten, und dann kommt ein guter Punsch, schließlich ein kräftiger Kaffee zum Heimgehen.«
ten Holten machte eine Redensart, daß er sich schon lange einen Besuch erlaubt hätte, aber nicht wußte, ob er angenehm sei.
Frau Kindler entgegnete: »So ist's besser, als eine steife Visite. Ein sogenanntes ›Haus‹ machen wir ja nicht. Denken Sie sich nur eine recht ulkige Maskerade aus. Ihr Rheinländer versteht euch ja auf den Karneval.«
Die beiden Töchter standen neben ihrer Mutter und freuten sich über die Einladung ten Holtens.
»Aber was furchtbar Komisches müssen Sie machen!« forderte ihn Julia auf. »Ich möcht' einmal recht lachen über Sie.«
227 »Das bringt Herr ten Holten schon fertig,« meinte Marie.
»Ich habe mich also möglichst lächerlich zu machen,« entgegnete ten Holten. »Ich glaube, es wird mir gelingen. Wie wär's mit einem römischen Krieger oder einem Lohengrin?«
Als die beiden Mädchen kicherten, sagte er: »Erlauben Sie, ich habe auch eine Tenorstimme, und die Lohengringeschichte spielt so ungefähr in meiner Gegend. Also hätte das einen tieferen Sinn. Römer hat's auch bei mir daheim gegeben.«
In der vornehmen Arcisstraße besaßen die Kindler ein das Vermögen der Mutter bildendes großes Mietshaus, dessen geräumiges erstes Stockwerk sie selbst bewohnten. ten Holten fand sich in einer vornehmen, beinahe prunkvollen Wohnung mit wertvollen altertümlichen. Möbelstücken. Der geräumige Empfangsraum war gedrängt voll von jugendlichen Gästen in bunter Maskenkleidung, wie's Frau Kindler gesagt: die Mädchen in hübschen, aber einfach geschmackvollen Trachten, die jungen Herren in possenhaften Verkleidungen. Nur Dr. Hinrichsen ragte dazwischen als feierlicher Türke auf. ten Holten selber war als Gebirgsdirndel in absichtsvoll kitschigem Gewande gekommen. Auf einer flachsblonden Perücke, von der zwei lange Zöpfe niederhingen, schwebte ein winzig kleines, grasgrünes Hütchen mit einer gelben Hahnenfeder. Den Schnurrbart hatte er mit Heftpflaster überklebt und dieses grellrot gefärbt, so daß eine wulstig dicke Oberlippe entstand. Ein weißes Hemdchen mit bis zum Ellbogen reichenden Ärmeln und gesticktem Mieder mit Goldlitzen und künstlichem Rosenstrauß, endlich ein 228 hellgrünes Röckchen mit Goldborden und ein rosenfarbenes Seidenschürzchen vollendeten die Tracht, in der der gedrungene Mann mit den kräftigen Händen, als er in die Stube hereintänzelte und vor Frau Kindler mit sanftem Augenverdrehen knixte, jubelnden Empfang fand. Es gab an der langen Tafel im Eßzimmer und an kleinen Tischchen, die auf dem Vorflur aufgestellt waren, Brat- und Weißwürste mit Bier in Maßkrügen, aber später wurde auch Roastbeef mit Makkaroni und Kalbsbraten gereicht. Die beiden Haustöchter, die als Schwäbinnen gekleidet waren und zwei junge Verwandte, die aus Nürnberg herübergekommen waren und Rokokozöfchen spielten, halfen den Dienstmädchen bei der Bedienung, der Sohn, ein Gymnasiast der höheren Klassen, stand als dummer Seppl am Bierfaß. Professor Kindler selbst und die Hausfrau saßen am oberen und unteren Ende des großen Tisches, er als Fuhrmann in blauer Bluse, sie als Tiroler Bäuerin. Nach dem Essen wurde im Empfangsraum getanzt. Zwischen den Tänzen gab es allerlei komische Vorträge und Scherzkünste von dafür beanlagten Herren. ten Holten fand köstliches Behagen an dieser Art Münchener Familienlustbarkeit, die in ihrer schlichten, aber keineswegs unzulänglichen Bürgerlichkeit etwas ganz anderes war, als eine Düsseldorfer Abendgesellschaft oder eine Geselligkeit bei Herstall in Berlin. Und doch waltete auch hier bei Maßkrug und Wurst deutlich der Geist feiner Gesittung, die sichere Beherrschung des Ziemlichen, trotz ausgelassener Fastnachtsstimmung junger Menschen, ließ nicht die geringste Fragwürdigkeit aufkommen, nichts trat in Erscheinung, was der Entschuldigung mit freier Lebensanschauung bedurft hätte. Ein starker Duft von 229 Arrak und Apfelsinen verbreitete sich, als der Punsch in mächtigen Bowlengefäßen herangetragen wurde. Daneben kamen reichliche Vorräte an Kuchen und Nürnberger Leckereien, die der Fabrik Kindler, dem Familienhause des Professors, entstammten. Dieser erzählte denn auch ten Holten mit Behagen, wie sein Großvater nach alter Art das Lebzeltergewerbe mit dem des Wachsziehers verbunden gehabt und zugleich mit Wachsstöcken für die Kirchgänger mit schönen Bildchen darauf und mit reichverzierten Altar- und Weihekerzen gehandelt habe.
»Ich habe ihn noch immer in der Nase,« sagte er, »diesen Duft von Wachs und Honig, der in der ganzen Kindheit meine Nase gekitzelt hat, und das bunte Zierwerk der Wachsstöcke und Kerzen hat mich vielleicht mehr zum Maler gemacht, als die in Nürnberg noch immer lebendige Kunde von Dürer, dem großen Meister, über den dort jeder kleine Gassenjunge Bescheid weiß.«
Sie plauderten noch mehreres zusammen, ten Holten und der Professor. Dieser scherzte darüber, daß man von ihm sage, er sei ein ganz tüchtiger Darsteller charakteristischer Männerköpfe, aber der Frauenschönheit verstünde er weniger nahezukommen.
»Ich habe immer ein ganz leidliches Verständnis für schöne Frauen gehabt,« sagte er lächelnd. »Sie können sich daraufhin einmal die Bilder meiner Frau und Töchter hier nebenan im Empfangszimmer besehen. Aber, wissen Sie, es hat nie von mir Romane zu erzählen gegeben, und das verlangt man eigentlich von einem Damenmaler. Ich hab' als junger Mensch auch nicht wie ein Mönch gelebt, ganz und gar nicht, aber das Bürgerliche saß mir von Haus aus fest im Blut, so daß ich, einmal verheiratet, 230 von selbst in das ruhige Geleise des Familienlebens kam. Das mögen manche Leute als Zeichen minderer Begabung deuten; ich finde, daß geordnete Lebensverhältnisse gerade für einen Künstler sehr förderlich sind. Er kann dann seinen Zielen sicheren Schrittes entgegengehen. Die großen Genies sind trotz der Lebensunruhe in die Höhe gekommen, aber nicht durch diese. Sie haben darunter schwer gelitten, die falschen Genies spielen damit eine Komödie und wollen der Liederlichkeit einen interessanten Anstrich geben.«
ten Holten bekannte sich zu den gleichen Anschauungen und kam dabei zu einem plötzlichen Entschluß, über dessen Beweggrund er weiter gar nicht nachdachte. Julie hatte aus seinen Reden entnehmen können, daß er vom Lande stamme, aber Näheres über seine Herkunft hatte er zu ihr nie erwähnt. Jetzt sagte er zum Professor: »Bei mir kommt es auch vom Elternhaus. Mein Vater ist Gastwirt auf einem Dorfe, nicht ganz dasselbe zwar, wie die Bauernwirte hierzulande,« schaltete er mit leisem Lächeln ein, »aber ich spüre auch an mir den Einfluß eines festgefügten Familienlebens.«
»Wir haben hier auch Gastwirte verschiedener Art auf dem Lande,« bemerkte der Professor darauf. »Ich habe es Ihnen übrigens angesehen, daß Sie vom Dorfe oder vom kleinstädtischen Handwerk stammen, gesunde, ungeschwächte Rasse.«
»Ein bißchen klein geraten,« versetzte ten Holten.
Da erschallte aus nächster Nähe lautes Mädchengelächter. Beide Herren sahen auf. Julie, die in einer Gruppe von Mädchen stand, rief, noch immer ein schmetterndes Lachen ausstoßend: »Das war ja zum 231 Totlachen, wie Herr ten Holten eben beim Sprechen mit der Schürze getändelt hat! Ganz kokett, wie es die Naiven auf dem Theater machen.«
Das gab den Anlaß, daß ten Holten aus dem ernsten Gespräch mit dem Professor wieder in die allgemeine Strömung zurückkehrte. Er war kein Vortragsmeister und hatte keine Kunststückchen oder witzige Veranstaltungen, wie einige andere Herren, zur Verfügung, aber seine Gespräche waren voll schnurriger Einfälle, so daß sich die männliche und weibliche Jugend um ihn drängte. Insbesondere war Julie bemüht, seinen Humor anzustacheln, indessen ihre Schwester Marie die stille Zwiesprache mit dem gravitätischen Türken Dr. Hinrichsen bevorzugte. Nachdem noch durch einen kräftigen Kaffee für innere Erwärmung gesorgt war, nahm in der zweiten Stunde des neuen Tages das frohe Karnevalsspiel unter letzten Scherzen sein Ende. Frau Professor Kindler lud ten Holten ein, von nun ab sich auch gelegentlich an einem Sonntagnachmittag einzustellen, an dem immer eine kleine Gesellschaft junger Leute im Hause zu finden sei.
Er gab auch schon gleich am nächsten Sonntag der Einladung Folge. Es waren ein paar lustige Offiziere, Dr. Hinrichsen, ein Student und ein halbes Dutzend junger Fräulein anwesend. Die Karnevalsstimmung war vorbei, aber lustig war man doch. Dr. Hinrichsen ging mit entschiedenen Schritten auf die Verlobung zu, die nicht mehr lange ausbleiben konnte. ten Holten hatte ihn allmählich als einen gänzlich humorlosen, aber liebenswürdigen Herrn von großer Bildung kennen gelernt, der ganz Deutschland und einen großen Teil des europäischen Auslandes bei seinen Studien als Ackerbauchemiker bereist 232 hatte und sehr gut über sein Fach hinaus von Land und Leuten sprechen konnte. Dabei war er musikalisch und sprach fremde Sprachen. Er stammte, wie gelegentlich erwähnt wurde, aus einer Familie von Großgrundbesitzern. ten Holten fühlte an ihm eine gewisse Überlegenheit in dem Sinne heraus, daß dieser Hochschuldozent und Großgrundbesitzerssohn es wohl wagen durfte, um ein Fräulein Kindler sich zu bewerben, während er selber gegebenenfalls vor einem Korbe von väterlicher Seite nicht sicher gewesen wäre, wenn vielleicht auch Julie etwas über die fröhliche Kameradschaft Hinausgehendes für ihn empfunden hätte. Dieser der Eigenliebe nicht günstigen Erwägung setzte er eine andere entgegen, die dahin ging, daß diesem Reiz des familienhaften Frohlebens, wie er ihm bei Kindler entgegentrat, doch eine gewisse Gefahr innewohne. Man konnte da doch von einer Atmosphäre eingelullt und in der zielbewußten Kraft des Lebenswillens geschwächt werden und auf diese Weise in ein allerdings verfeinertes Philistertum geraten, das keineswegs zu verwechseln war mit jenen Bestrebungen nach gesellschaftlicher Stellung, die er noch immer fest im Auge hatte. Das ließ sich in München, so schien es ihm fast, überhaupt nicht durchführen. Vorsicht war also am Platze, daß man nicht, während man sich den Verwicklungen der Leidenschaft klug entzogen hatte, in die Fesseln einer höchst ehrbaren Bürgerlichkeit geriet, die auf anderem Wege vom gefaßten Lebensplan ablenkte.
Mit Riederauer war er in ein etwas gespanntes Verhältnis geraten, nachdem er von seinem Erlebnis mit Ruwer Mitteilung gemacht hatte. Der Bildhauer wollte sich zunächst nicht davon überzeugen lassen, daß ten Holten 233 sich in einer Zwangslage befunden habe. Diese Verstimmung des Freundes schien nach einigen Wochen gewichen, wenn er auch bitter darüber klagte, daß ihm weitere Beziehungen zu Ruwer unmöglich gemacht worden seien. Da sagte ihm Riederauer eines Abends, als sie zusammen die Pilsener Bierstube verließen, im Ton befangener Bescheidenheit: »Du tätest mir einen großen Gefallen, wenn du morgen bei mir zu Mittag essen wolltest. Lernst meine Frau kennen. Aber ich möchte mich nicht aufdrängen. Es ist nicht deshalb. Ich habe nämlich morgen auch den Kunstkeramiker Leistenberger eingeladen, mit dem ich vorher eine große Sache, einen Prachtkamin, den wir gemeinsam schaffen sollen, besprechen muß. Meine Frau ist aber noch ein bissel befangen und die alte Mutter, die ich auch bei mir hab', erst recht. Damit also die Sach' doch ein bissel Leben und Form kriegt, muß ich noch jemand zum Leistenberger dazu einladen. Er ist zwar auch ein Bayer, aber er gibt sich so einigermaßen als Mann der feinen Garnitur, weil sein verstorbener Vater Oberst war und seine Mutter eine geborene Adelige ist. Tu' mir den Gefallen! Meine Frau, das darf ich wohl sagen, ist auch so übel nicht.«
ten Holten sagte zu und folgte der Einladung am nächsten Tage nicht ohne ein Gefühl der Neugierde. Frau Riederauer war eine hochgewachsene, dunkelhaarige Erscheinung, etwas verblüht, mit farblosem, aber angenehme Züge zeigendem Gesicht und den typischen bayerischen Braunaugen, deren weicher Ausdruck, als er sie begrüßte, zugleich etwas verlegen Unruhiges zeigte. Sie war geschmackvoll elegant gekleidet, und als man sich zu Tisch setzte, nahm sie eine sehr gute hausfrauliche Haltung an. Herr Leistenberger, der 234 Kunstkeramiker, war ein noch ziemlich junger, brünetter Herr in sehr elegant geschnittenem schwarzen Gehrock und mit modischer Halsbinde, in der eine graue Perle steckte. Er sprach mit Bedacht ein nach dem Hochdeutschen strebendes Münchnerisch und bewegte während des Sprechens den schlanken Körper sehr gern in der Gebärde leiser Verneigungen. Riederauer selbst zeigte eine Wohlgelauntheit und Scherzhaftigkeit, aus der eine gewisse Nervosität herausklang.
Im Laufe der Unterhaltung kam Herr Leistenberger dazu, sich als Verlobter vorzustellen, wobei er gleich erwähnte, daß seine Braut aus Hannover stamme. ten Holten stutzte. Als Leistenberger weiter berichtete, seine Braut sei Kunstgewerblerin aus dem Gebiete der Textil- und Tapetenmusterung, war es ihm klar, daß er den Verlobten der Orster vor sich hatte. Er besann sich einen Augenblick und sagte dann: »Ich glaube Ihr Fräulein Braut zu kennen. Heißt sie nicht Orster?«
Als dies bejaht wurde, wendete er sich an Riederauer: »Du kennst sie ja auch von Baron Wehrenburg her.«
Riederauer sah ihn an und machte Miene, als besänne er sich erst.
ten Holten schielte von Zeit zu Zeit immer wieder heimlich den Bräutigam der Orster an. Dieser Zufall nahm ihn so in Anspruch, daß das Interesse an Frau Riederauer, die fleißig, aber nur mit Blick und Gebärde, zum Zugreifen ermunterte, bei ihm ganz in den Hintergrund trat. Als man sich nach dem sehr gediegenen Mahle zum Kaffee in einen Nebenraum begeben hatte und die beiden geladenen Herren die dort umherstehenden 235 Kunstgegenstände betrachteten, sagte Riederauer zu seiner Frau: »Jetzt muß der Franzl her!«
Die Frau sah ihn schüchtern zweifelnd an. Als er dann aber sagte: »Freili, hol ihn nur. Der ten Holten soll ihn sehen!« ging sie und kam gleich darauf mit einem bildhübschen Knaben zurück, der mit einem Wald von schwarzen Haaren und einem lebhaften dunklen Augenpaar wie ein kleiner Italiener aussah. Er machte vor den Herren einen sehr korrekten Kratzfuß und reichte das Händchen. Dann ging er mit lebhafter Bewegung auf seinen Vater zu und sagte laut: »Du, Vata, d' Großmutter hat an Rausch. Ganz rote Backen hat's und eing'schlafen is glei nach'm Essen.«
Frau Riederauers Gesicht bekam jetzt sehr lebhafte rote Farbe. Riederauer selbst lächelte, nicht ohne Verlegenheit, und erklärte seinem Sohn: »So was sagt man nicht von der Großmutter.«
Frau Riederauer fühlte sich zu der Bemerkung veranlaßt: »Sie hat nur ein Glas Rotwein getrunken.«
ten Holten besann sich jetzt erst darauf, daß Riederauer gestern auch von einer Mutter gesprochen hatte. Die alte Frau wurde also nicht gezeigt. Riederauer bemerkte, als hätte er ten Holtens Gedanken erraten: »Meine Schwiegermutter hat mit dem Buben allein gegessen. Die alte Frau macht sich's gern bequem.«
ten Holten nahm Gelegenheit, mit Frau Riederauer, während ihr Gatte Herrn Leistenberger ein Kunstgefäß in der anderen Zimmerecke erklärte, ein Gespräch anzuknüpfen. Eine kleine Weile sprach er mit ihr über jene Alltagsdinge von günstigen und ungünstigen Wohnungsanlagen, wärmerer und kälterer Zimmertemperatur, früherem oder 236 späterem Aufstehen, und ihre Redeweise war ganz gewandt, von gewissen Ungeschicklichkeiten abgesehen, die ihr Bemühen um »feinere« Ausdrucksform stellenweise herbeiführte. Endlich sagte er mit einem vertraulichen Klange: »Ich sehe schon, mein Freund Riederauer befindet sich ganz wohl bei der Veränderung seines Hauswesens.«
Da senkte sie den Blick und erwiderte: »'s ist ja des Buben wegen geschehen. Der macht ihm viel Freude.«
»'s ist auch ein prächtiger Bursche,« versetzte ten Holten und bekam dafür einen warmen dankenden Blick.
Aus einer wohlwollenden Regung heraus fuhr er fort: »Sie sollten sich aber nicht an diesen Gedanken klammern, sondern auch die eigene Persönlichkeit zur Geltung bringen.«
Sie zuckte die Achseln und meinte: »Was kann ich ihm denn viel bieten.«
»Ein trauliches Heim, das sein heißes Blut beruhigt,« antwortete er.
Sie sah ihn unsicher an und meinte dann: »Er ist ein guter Mensch, und ich geb' mir alle Mühe, es ihm recht zu machen.«
Was mochte bei dieser Ehe herauskommen? Der Sohn wurde des Vaters verwöhntes Spielzeug, die Mutter beider gefügige Magd. Die Frau tat ihm leid in der scheinbaren Glückswendung ihres Geschickes.
Mit Leistenberger fuhr er auf der Elektrischen in der Richtung der Altstadt. Nach verschiedenen Gesprächen fragte dieser ganz unvermittelt: »Wie hieß die Familie, in der Sie meine Braut kennen gelernt haben?«
Es kam ten Holten vor, als läge etwas von Mißtrauen in dem Blicke des Fragenden. Er antwortete in kühler Ruhe: »Baron Wehrenburg, ein sehr feines 237 norddeutsches Ehepaar, an dessen Teeabenden allerlei künstlerisch gerichtete Persönlichkeiten sich zusammenfinden. Es ist sehr nett dort, ich bin aber seit längerer Zeit nicht mehr hingekommen.«
»So,« bemerkte Leistenberger und streifte ten Holten wiederum mit einem prüfenden Blick.
Sollte der Herr Bräutigam gewisse Zweifel im Busen hegen? Von ihm hatte er auf keinen Fall Aufschluß zu erwarten. Sehe jeder, wo er bleibe. Er wußte nichts Näheres von diesem Herrn Leistenberger. Ein hübscher Mensch war es und gewiß auch kein ungeschickter Künstler, denn die Orster war zwar höchst männerfreundlich, aber klug zugleich.