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Als die Orster mit munterer Begrüßung in ten Holtens Atelier erschien, erwiderte dieser ihren Gruß sehr trocken und begann dann: »Ich halte eine offene Aussprache über unsere gegenseitige Stellung für nötig, und da ich jetzt in meiner Kunst doch an einem sicheren Punkt angelangt bin, möchte ich daran denken, in meine ganze Lebensordnung Planmäßigkeit zu bringen. Das klingt ja sehr philisterhaft, aber ich habe mich niemals zu der Ansicht bekennen können, daß ein Künstler notwendigerweise ungeregelt leben müsse. Mein Bauernblut ist es wahrscheinlich, das mich zu geordneter Wirtschaft drängt.«
Es klang beinahe wie auswendig gelernt. Die Orster hatte mit verwunderter Spannung zugehört, jetzt sagte sie mit einem unfreien Lachen: »Worauf soll denn das hinaus?«
ten Holten fuhr fort, als hätte er die Zwischenrede gar nicht gehört: »Du hast wohl selbst nie daran gedacht, daß unsere Beziehungen von Dauer sein sollen. Da ist es besser, man spricht sich einmal klar aus, als daß man so etwas bis zu einem ärgerlichen Schluß künstlich weiterschleppt.«
Jetzt erblaßte die Orster, und mit gehemmtem Atem sagte sie: »Das also bringst du von deinen Düsseldorfer Freunden mit? Man hat dir, scheint es, Lehren über moralisches Verhalten nach ehrsamem Fabrikantenstil gegeben, und du fürchtest, in Ungnade zu fallen, wenn du nicht gehorchst. Bist du denn abhängig von diesen Leuten?«
191 »Keine Lehren,« antwortete ten Holten, »aber Eindrücke habe ich mitbekommen, die mich zu dem Entschluß bestimmten, offen und ehrlich auszusprechen, daß ich unsere Beziehungen nicht mehr weiter fortsetzen möchte.«
»Du bist ein Narr!« rief die Orster jetzt, »und ein recht unverschämter dazu. Für wen hältst du mich denn? Die Leute haben dir Heiratsgedanken in den Kopf gesetzt. Das ist es. Aber deshalb schickt man doch meinesgleichen nicht fort, wie das nächste beste Malerdirnchen. Meinetwegen, heiraten wir uns. Herr Peter ten Holten hat sich meiner als Frau doch wahrhaftig nicht zu schämen, als verständnisvolle Kameradin kennst du mich auch, und im übrigen habe ich dir doch bisher nicht mißfallen. Ich habe derartige Gedanken schon gehabt, obwohl, mein Lieber, Bedenken eher von mir als von dir gemacht werden könnten.«
ten Holten antwortete: »Ich habe dort neben dem schönsten Glück auch das bittere Leid kennen gelernt, das eine falsche Ehe schaffen kann. Unser Verhältnis gibt nicht die Grundlage zu einer richtigen Ehe. Wir haben miteinander gespielt, wie es nun einmal vorkommt zwischen jungen Menschen, aber daraus macht man keine Ehe.«
»Wie er sich groß machen will!« rief die Orster jetzt wütend. »Weil ich dich als Künstler schätzte, weil ich dich gern hatte in deiner naiven Art, habe ich damals deine kecke Annäherung geduldet, trotz deiner unansehnlichen Persönlichkeit. Eine Gunst habe ich dir erwiesen, aber zu deinem Spielzeug habe ich mich nicht hergegeben. So weit bist du noch nicht, kleines Peterchen!«
Mit stechenden Augen und verzerrten Zügen stand sie vor ihm da.
192 ten Holten war auch blaß geworden.
»Ich glaubte doch etwas von einer Übersiedlung nach Hannover gehört zu haben,« warf er bissig hin. »Das wäre die beste Lösung des Verhältnisses gewesen. Oder galt es nur eine Komödie zu bestimmten Zwecken?«
Die Orster faßte eine Teetasse und warf sie zu Boden, daß sie in mehrere Scherben zerbrach.
»Und dich sollte ich heiraten?« spottete ten Holten, die Scherben mit dem Fuß beiseite schiebend. Jetzt begann die Orster zu schluchzen.
ten Holten ging unwirsch im Atelier hin und her.
Auf einmal sammelte sich die Orster, trocknete die Tränen, ging mit versöhnlicher Gebärde auf ten Holten zu und sagte in einem dringlich überredenden Ton: »Aber das ist ja doch alles Unsinn. Du redest nur aus einer Stimmung heraus, die dich da draußen bei den Leuten erfaßt hat. Du träumst von einem richtigen Heim, einer Häuslichkeit, und willst dir dazu irgendwo, irgendwie eine passende Frau suchen. Was hast du gegen mich, was kannst du gegen mich haben? Bilewirski? Ach, da war ich doch keine Schuldige, sondern mein Mitleid hat mich in die unglückliche Sache verwickelt. Das weißt du, sonst hättest du nicht weiter mit mir verkehrt. Meinetwegen, wir haben gespielt, es war nur eine ›Lustbarkeit‹, aber jetzt, da du den Ernst der Liebe suchst, können wir es ja versuchen, uns darauf einzurichten. Schick' mich doch nicht so wegwerfend fort. Mich zu beleidigen, gab ich dir keinen Grund.«
»Ich wollte verständig mit dir sprechen,« entgegnete ten Holten ungeduldig, »nicht dich beleidigen. Du hast aber dein böses Wesen gezeigt. Ich kann nicht anders, 193 jetzt erst recht nicht. Ich, die unansehnliche Persönlichkeit, das kleine Peterchen, sollte es wohl hinterher als Gnade ansehen, daß du mich geheiratet hast?«
»In gerechtem Zorn habe ich deine Eitelkeit verletzt. Und das soll entscheidend sein?« warf die Orster ein.
»Du hast mir eine Gunst erwiesen,« erwiderte ten Holten. »Nun also, ich danke für weitere Gunstbezeugungen.«
»Ein eitler Hanswurst, ein frech gewordener Bauernjunge bist du!« schrie jetzt die Orster mit erneuter Wut. »Geh' nach Hause in deines Vaters Kneipe und hole dir eine Trine, die deine Sprache spricht und dir ein Dutzend Trinchen und Pitterchen in die Stube setzt. Das paßt sich für dich; denn, merke dir das, wenn du heiraten willst, ich habe dich nicht lange genug in Erziehung gehabt, daß du reif wärest für eine Dame. Du riechst noch immer nach der Dorfschänke.«
Sie lachte bitter auf und entfernte sich mit hastigen Schritten.
Das Notwendige war geschehen. Die Tegernseer Eindrücke hatten sich bei ten Holten dahin verdichtet, daß er selber sich in Umständen sah, für die Frau Hedwig sowohl wie Benthoff nur Mißbilligung gehabt hätten. Was zwischen ihm und der Orster bestand, war schon lange etwas anderes geworden, als der Drang jugendlicher Sinne; es mußte mehr und mehr das Wesen einer Versumpfung bekommen, und die Orster war ohne Zweifel eine listig rechnende Person, die dann aus einem solchen Zustande irgendwie Nutzen zog. Er mußte wieder in reinliche Verhältnisse kommen, in denen er Herr seiner selbst war und sein Leben nach allen Richtungen frei bestimmen konnte. Aber jetzt, da die Entscheidung gefallen 194 war, blieb eine Bitterkeit besonderer Art zurück. Darauf war er ja gefaßt gewesen, daß die Orster nicht mit sanfter Entsagung von dannen ziehen würde, aber sie hatte Pfeile abgeschossen, die sein Selbstgefühl schmerzhaft trafen. Die wiederholte verächtliche Betonung seiner Herkunft konnte ja von einem Unbeteiligten als eine billige, echt weibliche Wendung des Zornes der gekränkten Liebhaberin aufgefaßt werden, ihm bedeutete sie aber die Erinnerung an fast vergessene Hemmungen seiner Lebenspläne. Da klang wieder die Erfahrung mit den Düsseldorfer Herrschaften herein, und die Bemerkung von der unansehnlichen Persönlichkeit steigerte noch das Gefühl unbehaglicher Zweifel an dem Gelingen solcher Zukunftswünsche. Er wollte sich nimmermehr seiner Herkunft schämen, aber die Erfolge seiner Künstlerschaft blieben eine Halbheit, wenn er darüber nicht erheblich in der gesellschaftlichen Rangstellung hinauskam, wenn sie etwa zum Hindernis einer zweckmäßigen Heirat werden sollte. Und der Tegernseer Aufenthalt hatte auch diesen Heiratsgedanken nähergerückt. Jetzt hatte die boshafte Orster ihm die zuversichtliche Denkart geraubt, die es ihm sonst erlaubt hatte, sich der bäuerlichen Abstammung sogar zu rühmen. Es mochte lange dauern, bis er das wieder verwunden hatte; ja, gerade in einer entscheidenden Stunde mochten ihre Worte ihm mutraubend wieder in Erinnerung treten. Mäxchen, Augusts spätere Frau, hatte sich auch einmal in solcher Weise gerächt, und in der Düsseldorfer Gesellschaft waren es auch wohl gelegentlich Damen gewesen, die in ihm den komischen Bauern gesehen hatten. So konnte es weiter gehen bei allen Annäherungsversuchen. Das hätte der Bauer allein nicht gemacht, wäre bei einem stattlichen 195 Bauern überhaupt nicht in Frage gekommen. Da trug die unansehnliche Persönlichkeit die Hauptschuld. Freilich, der Orster hatte auch diese eine Weile wohl genügt und hätte ihr sogar für eine Ehe genügt – aber da kam etwas sehr Häßliches heraus. Er hatte sich viel vergeben in diesem Liebeshandel. Derlei durfte nicht wieder vorkommen.
Als die Düsseldorfer nach der Heimkehr wieder einige Tage in München verbrachten, gab es erneute Hinweise auf das Ziel, das von nun an unentwegt, ohne jegliche Ablenkung, zu verfolgen war. Er war ein besserer Künstler als viele andere; aber was im kleineren Düsseldorf seine Meinung gewesen war, das hatte das große München ihm nur bestätigt. Das Zigeunertum in dieser oder jener Färbung, verlottert oder prunkvoll aufgeputzt, hat mit ernsthafter Kunst keinen notwendigen Zusammenhang. Die Lebensnot machte es zeitweilig entschuldbar, zum Makel wurde es für jeden, der frei war von solcher Not. Schlapphüte und Samtjacken waren lächerlich geworden, aber auch andere Künstlerromantik gehörte in die Rumpelkammer. Die Figurenmaler und Bildhauer mochten von den Weibsleuten verdorben werden, deren Eitelkeit es kitzelte, einem Sachverständigen der Schönheit zu gefallen. Was brauchte ein Landschaftsmaler den Tanz mitzumachen?
In solchen Gedankengängen lebte ten Holten, als eines Morgens Ruwer in das Atelier kam, mit dem Zeichen der höchsten Erregung in den sonst freundlich sanften Zügen, und hastig fragte: »Wissen Sie etwas vom Verbleib meiner Frau? Ich war schon bei Riederauer, der konnte mir keine Auskunft geben. Sie ist gestern früh nach der Stadt gefahren und noch nicht zurückgekehrt.«
196 ten Holten war tief erschrocken, und der Name Riederauers erweckte unheimliche Empfindungen in ihm, die zwar zu keiner klaren Gestaltung führten, statt dessen aber dem Gedanken zwingende Kraft verliehen: ›Riederauer hat gelogen‹. Zu Ruwer wendete er sich mit den beschwichtigenden Worten: »Sie wird wohl aus irgendeinem Grunde bei Bekannten zur Nacht geblieben sein.«
Darauf antwortete Ruwer: »Ich war ja schon, ehe ich zu Riederauer ging, bei zwei Familien. Wir haben aber nicht viele Bekannte, und wie käme sie dazu, in einem fremden Hause zu übernachten, da es sich doch nur um Besorgungen handelte, von denen sie zu Mittag schon wieder daheim sein wollte.«
»Dann wäre nur irgendein Straßenunfall zu denken,« sagte ten Holten, ohne selbst Derartiges zu glauben. »Da müßten Sie sich sofort an die Polizei wenden.«
»Ja, ja! Daran habe ich auch schon gedacht, wollte aber doch vorher zusehen, ob es keine andere Erklärung gibt,« versetzte Ruwer, zu Boden starrend. »Es könnte ja mit der Elektrischen etwas geschehen sein. Das wäre schrecklich. Meine armen Kinder! Ich darf gar nicht daran denken.«
Nun versuchte ten Holten ihn zu beschwichtigen: »Es können ja Zufälligkeiten vorkommen, an die man gar nicht denkt. Wenn Sie nach Hause kommen, wird sie da sein oder irgendeine Nachricht von ihr.«
»Nachricht hätte sie doch schon gestern abend geben können,« meinte Ruwer darauf. Dann machte er sich gesenkten Kopfes wieder auf den Weg, von ten Holtens Angebot geleitet, ihm sofort zu Dienst zu stehen, wenn er irgendeiner Beihilfe bedürfen sollte. Er lehnte dies 197 zunächst ab mit der Bemerkung: »Vielen Dank! Wenn's zum Schlimmsten kommen sollte, muß ich doch mein Kreuz allein tragen. Dann kann mir niemand helfen.«
ten Holten erwog, von bösem Verdacht gegen Riederauer gequält, daß keine Freundschaft mit diesem mehr möglich wäre, wenn ein schuldbarer Zusammenhang mit dem unheimlichen Verschwinden der Frau Ruwers zutage kommen sollte, als dieser selbst, in nicht geringerer Aufregung wie vorher Ruwer, eintrat und atemlos rief: »War Ruwer bei dir?«
»Vor einer halben Stunde etwa,« lautete die Antwort. »Und du – – du hast ihm gesagt, du wüßtest nichts von seiner Frau?« Etwas Drohendes klang aus dem letzten Satze ten Holtens, und in dem Blick, den er auf den Freund richtete, keimte eine zornige Regung.
»Ich hab' Ruwer nicht gleich die Wahrheit sagen können, habe g'fürcht', daß was Schlimmes geschehen ist,« entgegnete Riederauer.
»Ah!« rief ten Holten im Tone entrüsteten Schreckens aus.
»So hör' mich doch erst an!« stieß Riederauer hervor. »Ich hab' keine Schuld dran, bei Gott nicht. Ein schreckliches Verhängnis ist's!« Er setzte sich atemlos auf einen Stuhl und erzählte in hastiger Rede: »Die Frau Ruwer ist gestern zu mir in das kleine Atelier bei meiner Wohnung gekommen und hat mich um ein kleines Darlehen gebeten, da sie ihr Geldtäschchen verloren hätt' und so keine Einkäufe machen könnt'. Ich hab's ihr am Gesicht ablesen können, daß das eine Lüg' war, und gerade so deutlich hab' ich aus ihrer Miene erraten, was sie eigentlich zu mir führt. Du hast's wohl bemerkt, daß 198 ich seit geraumer Zeit mich immer gesträubt hab', nach der Prinz-Ludwigs-Höhe hinauszufahren. Ich wollt' mich selten machen bei der Frau, denn ich hab' aus ihren Blicken gewußt, was mit ihr los war. Ich bin ein sündhafter Bursch', aber den Ruwer hab' ich lieb, ihm wollt' ich keinen Schaden ins Haus bringen. Vor der Sünd' hab' ich mich gefürchtet. Mir hat's vor den Augen geflimmert, wie das saubere Weib vor mir gestanden is und ihre schönen Feueraugen zu mir gesagt haben: ›Versteh' mich doch recht. Was anderes such' ich bei dir als Geld‹. 's ist manche gerade so zu mir gekommen, auch mit der Redensart vom verlorenen Geld. Bei ihr aber hat's mir einen Ruck gegeben, so was wie einen warnenden Stoß hab' ich gespürt. Da hab' ich nur gefragt: ›Wieviel brauchen Sie, Frau Ruwer?‹ Sie ist jetzt noch röter im Gesicht worden, hat ein bissel mit den Mundwinkeln gelacht und nach Worten gesucht. Ich hab' meine Brieftasch' vorgeholt und einen Hundertmarkschein ihr hingehalten. ›Hier sind hundert Mark‹, hab' ich gesagt, ›das dürft' vielleicht genügen.‹ ›Aber –‹ sagt' sie darauf, und es war, als wollt' sie gleich laut auflachen. Ich aber hab' jetzt gesagt: ›Sie haben doch Geld verloren, Frau Ruwer. Also hier ist Geld. Nehmen Sie doch!‹ Ich weiß nicht, was für ein Gesicht ich dabei gemacht hab', wie meine Stimm' geklungen hat. Mir war nur alles Blut in den Kopf gestiegen. Da hat sie einen Schrei ausgestoßen, das Gesicht mit beiden Händen bedeckt und is davong'laufen. So ist's gewesen, so wahr mir Gott helf'. Noch nie hab' ich derlei erlebt. Ich hab' mit dem Teufel gerungen, und ich hab' wahrscheinlich eine schreckliche Dummheit gemacht. Wirst sehen, sie hat 199 sich ein Leid angetan aus Scham oder aus toller Verliebtheit. Sie können so rabiat sein, unsere Weiber hier.« Er stützte die Arme auf die Schenkel und barg seine Stirne in die Hände.
ten Holten sagte dumpf: »Sie wird sich ums Leben gebracht haben. Das glaube ich jetzt auch.«
»Bin ich schuld daran?« schrie Riederauer auf und streckte die Arme mit hastiger Bewegung von sich, in den verzerrten Zügen den Ausdruck vollster Verzweiflung.
»Gewiß nicht,« antwortete ten Holten. »Sie wird ja auch vielleicht ein schriftliches Geständnis hinterlassen haben.«
»So, wie's wirklich war, wird sie's nicht gestanden haben,« versetzte Riederauer. »Höchstens hat sie Redensarten von großer Leidenschaft und dergleichen gemacht, bei denen doch alles an mir hängen bleibt. Glaub' auch nicht, daß sie so was hinterlassen hat. Schnurstracks ist sie nach der Isar gelaufen oder auch in die Würm. Die Wasser gehen jetzt alle hoch, weil starke Gewitter im Gebirge waren. Ich bin kein Schuft, ich will net als ein schlechter Kerl vor dem Ruwer dastehen,« brach er dann mit einem schluchzenden Laut los. »Was ich Unrechtes getan hab', verantwort' ich, aber daß ich gegen ihn eine Schlechtigkeit begangen hätt', das kann ich mir net nachsagen lassen. Ich hab' mich gewehrt gegen mein Gelüst, so viel ich gekonnt hab'. Ang'schaut hab' ich sie ein paarmal, und da hat sie glei' Feuer g'fangen. Sonst hab' ich nix getan, gar nix.« Die letzten Worte wurden stockend, in einem weinerlichen Ton gesprochen, und dann weinte er in die vor die Augen gelegten Hände wie ein Knabe.
200 ten Holten trat an ihn heran, klopfte ihm auf die Schulter und meinte, es könne sich vielleicht doch noch eine andere Lösung ergeben, und man müsse einen weiteren Bescheid Ruwers abwarten. Aber Riederauer wehrte diesen Trostversuch ab und hatte nur den Gedanken, Ruwer müsse die Wahrheit erfahren.
»Du mußt es ihm sagen,« rief er, »wie ich es dir erzählt habe und wie's auch gewesen is. Deswegen bin ich gekommen.«
ten Holten überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Nur wenn die Frau Andeutungen hinterlassen hat, die mißverstanden werden können, wird das notwendig sein. Im anderen Fall wäre es doch eine unnötige Grausamkeit, ihm die Schuld der Toten zu verraten. Mag's ihm ein Rätsel bleiben, aus welcher Ursache sie umkam; solche Ungewißheit, die mit manchem Unglücksfall verbunden ist, bleibt besser, als die bittere Erkenntnis der Wahrheit, wobei es auch immer noch möglich ist, daß er sie anzweifelt und doch einen Verdacht gegen dich hegt, als hättest du anderen Anteil an dem Geschehnis.«
»Herr des Himmels,« schrie jetzt Riederauer, »das darf doch nicht geschehen! Ich schwöre dir ja, also kannst du es ihm auch beschwören, daß es nicht anders war, als ich sag'. Er muß dann glauben.«
Zögernd sagte jetzt ten Holten: »Ich glaube dir ja, weil ich dich so vor mir sehe in deinem Jammer. Aber – es ist kein Zeuge da und – wie du nun einmal den Ruf hast – er ist zwar eine arglose Seele – aber ehe er dieses Verhalten seiner Frau glaubt, glaubt er doch eher an Verführung durch dich.«
»Mensch!« schrie Riederauer. »Da würde ich ja zum doppelten und dreifachen Schurken gemacht. Und wenn 201 ich selber zu ihm hingehe – aber ich kann ihm doch nicht die Frau ins Gesicht schlecht machen – das tu' ich nicht.«
»Keiner kann das tun. Ich auch nicht,« sagte jetzt ten Holten. »Es gibt nichts anderes als Schweigen.«
»Du hast recht,« erwiderte nach einer Pause Riederauer. »Es tät' ihm gar zu weh, und sie war seine Frau. Hast recht. Kommt was auf mich, so muß ich's tragen fürs andere.«
Eine erhebliche Strecke unterhalb Münchens wurde Frau Ruwers Leichnam von der jagenden Strömung der hochgeschwollenen Isar an das Ufer geworfen und zwei Tage später von Landleuten aufgefunden. Das ergab für die Kundigen, daß sie jenseits der Bogenhauser-Brücke, mutmaßlich vom Englischen Garten aus, in den Fluß gekommen war. Spuren, die auf ein Verbrechen gedeutet hätten, wurden an ihr nicht entdeckt. Ausweise ihrer Person waren zunächst nicht bei ihr gefunden worden. Da aber Ruwer Anzeige von ihrem Verschwinden gemacht hatte, wurde er sofort von dem Leichenfunde in Kenntnis gesetzt und erkannte sie. Die Polizei kam zu dem Ergebnis, daß ein schwer erklärbarer Unglücksfall oder aber Selbstmord vorliegen müsse. Gegen letztere Annahme sträubte sich Ruwer, der sofort von der Polizei zu ten Holten geeilt war, mit Entrüstung, obwohl es, wie er selbst zugeben mußte, unerklärlich war, weshalb die Tote, die Besorgungen in der Stadt machen wollte, in die Gegend von Bogenhausen gelangt sein sollte. Zu ten Holten war er nach der schmerzvollen Besichtigung im Leichenhause, Aussprache suchend, gekommen, weil dessen Atelier näher lag, als eine der beiden Werkstätten Riederauers, und auch, weil, wie er im Gespräche andeutete, dieser ihm nicht die richtige Vertrauensperson schien.
202 »Er ist so ganz anders gerichtet, als daß er recht mitfühlen könnte, wie schwer das Leid ist, das mir widerfuhr,« sagte der bleiche, auf seinem Sitze ganz zusammensinkende Mann.
»Schon als ich zu ihm kam, um nachzufragen, und er doch meine Besorgnis sehen mußte, hatte er kein Wort der Beschwichtigung, sondern gab mir über seine Unkenntnis in einem Tone Bescheid, als sei ihm die Frage lästig. und als wollt' er sagen: ›Was geht mich denn deine Frau an!‹«
ten Holten fühlte nun allerdings auch wenig Beruf, in solchem Falle Trost zu spenden. Aber Ruwer schien damit zufrieden zu sein, daß er jemanden vor sich hatte, den er zum Zeugen des verzweifelten Ringens seines Gehirns nach irgendeiner Erklärung des rätselhaften Vorfalles machen konnte. Dazwischen stöhnte er: »Meine armen Kinder!«
Endlich raffte er sich auf und sagte mit der Ergebung des Erschöpften: »Ich finde keinen Faden, und es wird auch keiner gefunden werden – Selbstmord! Was hätte diese Frau veranlassen sollen, sich Gewalt anzutun? Ich habe ihr kein Leid bereitet, das kann ich wohl sagen, und an den Kindern hat sie Freude gehabt. Sie hat auch das Leben geliebt und ist eine warmblütige Frau gewesen, die nichts Krankes oder Überspanntes an sich hatte. Aus der vollsten Gesundheit heraus, so ganz ohne Abschied, heimlich, spurlos – – man könnte verrückt werden! Aber ich muß zu meinen Kinderchen heim, ihnen verständlich machen, daß die Mutter nie mehr wiederkehrt. Haben Sie Dank, Herr ten Holten, daß Sie mich angehört haben in meiner Not. Suchen Sie mich bald heim, wenn 203 Ihnen so ein trauriger Mann nicht zu lästig ist. Und von der Beerdigung bekommen Sie Nachricht.« Damit wankte er auf schleifenden Füßen langsam aus dem Atelier.
Es geleiteten nicht allzuviel Leute die schöne Frau Ruwer zu Grabe. Riederauer war ganz bleich, und als er dem Witwer die Hand zum Beileid gedrückt hatte, stürzte er mit den Bewegungen eines Trunkenen davon, statt, gleich ten Holten, diesem zur Seite zu bleiben.
Als dieser nach acht Tagen wieder den Landsmann aufsuchte, hatte eine Verwandte der verstorbenen Frau, die vom Lande kam, die Leitung des Haushaltes übernommen, eine Person von ziemlich plumpem Wesen. Ruwer klagte über die Schwierigkeiten seiner neuen Lage und sprach müden Tones die Absicht aus, sich in irgendeines der malerischen kleinen Landstädtchen in der Nähe Münchens, nach Wasserburg etwa, zurückzuziehen. »Das habe ich schon lange gewollt,« sagte er. »Es träumt sich schön in diesen alten Winkeln, und meine Kunst ist nun einmal ein Träumen. Sie hat München so gern gehabt. Darum wurde nichts daraus. Sie hatte einen starken Willen und hat mir's manchmal schwer damit gemacht. Aber was will das jetzt noch heißen? Sie hat es gut gemeint, und eine Ehe ist eben doch nun mal ein menschlich Ding, wenn man auch als Verliebter den Himmel davon erwartet.«
Er schwieg und starrte vor sich hin. Um die Stille zu unterbrechen, griff ten Holten die Frage auf, ob Einsamkeit an kunstfremdem Orte nicht Bedenken habe. Ruwer schien, in ganz andere Gedanken versunken, ihm kaum zuzuhören.
204 Plötzlich warf er den Kopf in die Höhe, strich sich durch das Haar und sah ten Holten starr an. Dann drückte er die Hand einen Augenblick fest auf die Augen, neigte den Kopf vor, bohrte den Blick wiederum in ten Holtens Gesicht und sagte mit gedämpfter Stimme: »Da ist etwas, wovon ich doch einmal mit Ihnen reden muß. Es handelt sich um unseren Freund Riederauer. Es war doch recht sonderbar, wie er so weglief vom Begräbnis. Fanden Sie es nicht auch?«
Eilfertig antwortete ten Holten: »Er ist Ihnen sehr zugetan, und darum ist ihm das Unglück wirklich nahe gegangen. Daher war er sehr aufgeregt. Außerdem sind Leute seiner Art, mit solcher heißer Lebenslust, oft von merkwürdiger Empfindsamkeit allem Traurigen gegenüber. Sie haben ein tiefes Grauen davor.«
»So, haben Sie diese Beobachtung gemacht?« bemerkte Ruwer darauf, den scharf forschenden Blick beibehaltend. Dann senkte er die Augenlider und sagte, nervös am Kinnbart zupfend: »Es ist da etwas ganz Schreckliches – ein böser Traum, der mich quält.« Die Hand drückte er an die Stirn, und mit einem stöhnenden Beiklang fuhr er fort: »Eine Sünde gegen die arme Tote ist's – ich wehre mich dagegen – aber es kommt immer wieder.« Dann richtete er sich gerade, sah ten Holten wiederum scharf an und stieß mit bebender Stimme hervor: »Mir träumt immer wieder so etwas von einem Zusammenhang Riederauers mit – der Sache.« Wie erschöpft sank er an die Stuhllehne zurück und stammelte: »Unsinn – nicht wahr? – – Aber das Gehirn kommt darauf – seit dem Begräbnis – –. Sie war so befremdend, Riederauers Art. Sie haben mir das jetzt 205 erklärt – –. Das ist also Ihre Meinung? Aber er ist seitdem auch noch nicht gekommen, mich aufzusuchen – –.«
Tief erschrocken erwiderte ten Holten mit nachdrücklicher Betonung: »Ich kann Ihnen auf das bestimmteste versichern, daß Riederauer nicht der geringste Verdacht irgendeiner Unzulässigkeit in seinem Verhalten gegen Ihre Gattin treffen kann. Was auch sonst gegen ihn vorliegen mag, seine Gesinnungen der Freundschaft und Verehrung für Sie schließen jede derartige Möglichkeit aus.«
Noch einmal sah Ruwer ihm prüfend ins Auge. Dann sagte er matt: »Ich glaub's selber nicht und schäme mich des Gedankens, mit dem ich die Verstorbene verunglimpfe. Aber es kommt immer wieder. Jetzt wird es wohl nicht mehr kommen. Sie sprechen ja so überzeugt, daß ich nicht zweifeln darf. Haben Sie Dank dafür. Es wird mir eine Erleichterung sein. Eine solche Lösung des Rätsels wäre auch zu häßlich. Wir sind alle Sünder, aber derartiger Betrug einer arglosen Menschenseele wäre Teufelei. Ich will gar nicht mehr versuchen, das Geheimnis zu enthüllen.«
ten Holten beeilte sich, eine Zusammenkunft Riederauers mit Ruwer zustande zu bringen; diese nahm aber einen ziemlich peinlichen Verlauf. Ruwer konnte es nicht lassen, den Bildhauer immer wieder mit lauernden Blicken zu beobachten, und dieser wurde dadurch so beirrt, daß sein sonstiges sicheres Wesen, das jeder Lebenslage gewachsen schien, sich in eine tastende Unbeholfenheit verwandelte. Das fühlte er selbst sehr wohl und klagte hinterher bei ten Holten bitter darüber, daß über das Geschehene nicht hinwegzukommen und das Freundschaftsband mit Ruwer 206 unwiederbringlich zerrissen sei. Dabei deutete er neuerdings den Wunsch an, dieser solle die Wahrheit erfahren. ten Holten lehnte sich aber dagegen heftig auf mit dem Hinweis, daß dies von den unheilvollsten Wirkungen für Ruwers ganzes Innenleben, damit auch sicherlich für seine Kunst sein würde und die freundschaftlichen Beziehungen doch nicht weiter bestehen könnten.
»Das mußt du doch einsehen, daß auch dann der Geist der unseligen Frau euch trennen müßte,« schloß ten Holten, und Riederauer sah es ein. In der Folge hatte er Anlaß, manches ermunternde Wort an diesen zu richten, denn Riederauer war ein trüber Geselle geworden, dessen seelisches Feuer ganz erloschen schien.