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– Die Tragödie des Orest in einem kleinen Marionettentheater! kündigte mir Herr Anselmo Paleari an. Automatische Marionetten, eine neue Erfindung. Heute abend um halb neun in der Via dei Prefetti, Nummer vierundfünfzig. Da müßte man hingehen, Herr Meis.
– Die Tragödie des Orest?
– Ja! D'après Sophocle, sagt der Theaterzettel. Es wird Elektra sein. Hören Sie, was für ein bizarrer Gedanke mir gerade kommt. Wenn auf dem Höhepunkt, also gerade wenn die Marionette, die Orest darstellt, im Begriff ist, den Tod des Vaters an Aegisth und der Mutter zu rächen, plötzlich ein Riß in dem papiernen Himmel des kleinen Theaters entstünde, was würde dann geschehen?
– Ich weiß nicht, – antwortete ich, mit den Achseln zuckend.
– Aber es ist sehr leicht, Herr Meis! Orest würde furchtbar aus der Fassung gebracht werden durch jenes Loch im Himmel.
– Und weshalb?
– Lassen Sie es mich erklären. Orest würde noch den Impuls der Rache fühlen, würde mit rasender Leidenschaft ihm folgen, aber die Augen würden sofort zu jenem Risse gehen, von dem nun jede Art böser Einflüsse in die Szene dringen würde, und er würde fühlen, wie ihm die Arme sinken. Kurz, Orest würde Hamlet werden. Der ganze Unterschied, Herr Meis, zwischen der antiken und modernen Tragödie, glauben Sie mir, besteht darin; in einem Loch im papiernen Himmel.
Und er ging schlurfend fort.
Von den nebelhaften Gipfeln seiner Abstraktionen ließ Herr Anselmo oft solche Gedanken gleich wie Lawinen herabstürzen. Der Grund, der Zusammenhang, ihre Notwendigkeit blieb dort oben zwischen den Wolken, sodaß es dem, der ihm zuhörte, schwierig war, etwas davon zu begreifen.
Das Bild der Marionette des aus der Fassung gebrachten Orest blieb mir jedoch eine zeitlang im Sinn.
Das Urbild der Marionetten, lieber Herr Anselmo, dachte ich habt Ihr in Eurem Hause; es ist Euer unwürdiger Schwiegersohn Papiano. Wer ist zufriedener als er mit dem Himmel aus Papiermaché, der so niedrig über ihm hängt, der bequeme und ruhige Aufenthalt jenes sprichwörtlichen Gottes mit langen Ärmeln, immer bereit die Augen zu schließen und zur Verzeihung die Hand zu erheben; jenes Gottes, der schlaftrunken auf jede Schwindelei wiederholt: » Hilf dir, damit ich dir helfe?« – Und unser Papiano hilft sich in jeder Weise. Für ihn ist das Leben gleichsam ein Spiel der Geschicklichkeit. Und wie freut er sich, in jede Intrige sich zu drängen: ein eifriger, unternehmender Schwätzer!
Papiano war ungefähr vierzig Jahre alt, hoch von Statur und von robustem Körperbau: ein wenig kahlköpfig, mit einem dichten Bart, der unter der Nase etwas ergraut war, unter einer schönen großen Nase mit bebenden Flügeln. Die Augen waren grau, scharf und ruhelos wie die Hände. Er sah alles und berührte alles. Während er zum Beispiel mit mir sprach, bemerkte er – ich weiß nicht wie –, daß Adriana hinter ihm, sich abmühte, irgendeinen Gegenstand im Zimmer zu putzen und ihn auf seinen Platz zu stellen.
Er lief hin zu ihr, nahm ihr den Gegenstand aus den Händen:
– Nein, meine Tochter, sieh, das macht man so! –
Und er putzte ihn selber, stellte ihn an seinen Platz und wandte sich wieder an mich. Oder er bemerkte, daß der Bruder, der an epileptischen Konvulsionen litt, »behext« war, und er eilte zu ihm hin, gab ihm ein paar derbe Ohrfeigen auf die Wangen, einige Nasenstüber:
– Scipio! Scipio! –
Oder er blies ihm ins Gesicht, bis er wieder zu sich kam.
Wer weiß, wie sehr ich an all dem Freude gefunden hätte, wenn ich nicht jene verfluchte Angst vor den schlimmen Absichten des Anderen gehabt hätte!
Es war sicher, er hatte es seit den ersten Tagen bemerkt. Mir schien, als ob jedes seiner Worte, jede seiner Fragen, selbst die natürlichsten, eine Falle verbargen. Und doch wollte ich kein Mißtrauen zeigen, um nicht seinen Argwohn zu vergrößern; aber die Gereiztheit, die er mir durch seine Art eines dienstfertigen Quälgeistes verursachte, hinderte mich, gut zu heucheln.
Die Gereiztheit kam bei mir auch noch aus zwei anderen inneren und geheimen Gründen. Einer war der: daß ich, ohne schlechte Handlungen begangen zu haben, ohne irgend jemand etwas Böses getan zu haben, mich dauernd vorsehen mußte, als hätte ich das Recht verloren, in Frieden gelassen zu werden. Den anderen Grund wollte ich mir selbst nicht eingestehen, und gerade deswegen irritierte er mich am stärksten. Ich hatte schön sagen:
– Dummkopf! Geh fort! Hebe dich hinweg!
Aber ich ging nicht weg; ich konnte nicht weggehen.
Über das, was ich an jenem Abend hatte entdecken müssen, hinter der Jalousie verborgen, war ich mir noch nicht klar geworden. Es schien, daß der schlechte Eindruck, den Papiano von mir bei den Erzählungen der Signorina Caporale bekommen hatte, alsbald nach der Vorstellung ausgelöscht war. Er quälte mich zwar, aber sicherlich nicht mit der geheimen Absicht, mich zum Weggehen zu bringen. Was plante er? Adriana war nach seiner Rückkehr traurig und scheu geworden wie in den ersten Tagen. Die Signorina Silvia Caporale siezte sich mit Papiano, wenigstens in Gegenwart anderer, aber jener Prahlhans duzte sie offen; bisweilen kam es sogar vor, daß er sie Rea Silvia rief. Ich aber wußte nicht, wie ich mir seine vertraulichen und scherzhaften Manieren deuten sollte. Sicherlich gebührte der armen Unglücklichen nicht viel Achtung wegen der Liederlichkeit ihres Lebens, aber sie verdiente auch nicht, so von einem Mann behandelt zu werden.
Eines Abends (es war Vollmond und taghell) sah ich sie von meinem Fenster aus einsam und traurig auf der Terrasse, wo wir uns jetzt selten und nicht mehr mit der früheren Freude trafen, da stets Papiano dazwischenkam und für alle sprach. Von Neugierde getrieben, dachte ich daran, hinzugehen und sie in jenem Augenblick der Verlassenheit zu überraschen.
Wie gewöhnlich fand ich auf dem Korridor neben meiner Zimmertür auf dem Koffer zusammengerollt den Bruder des Papiano, in derselben Haltung, in der ich ihn das erste Mal gesehen. Er hatte dort seinen Wohnsitz genommen oder aber stand er auf Befehl seines Bruders meinetwegen da Posten?
Die Signorina Caporale weinte auf der Terrasse. Sie wollte zuerst nicht sprechen; sie beklagte sich nur über heftige Kopfschmerzen. Dann, gleichsam einen unerwarteten Entschluß fassend, drehte sie sich zu mir um, sah mir ins Gesicht und fragte mich, mir eine Hand gebend:
– Sind Sie mein Freund?
– Wenn Sie mir diese Ehre erlauben ... – antwortete ich mich verneigend.
– Danke. Machen Sie mir keine Komplimente, bitte! Wenn Sie wüßten, wie nötig ich in diesem Moment einen Freund habe, einen wahren Freund! Sie müßten es verstehen, der Sie ganz einsam auf der Welt sind wie ich ... Aber Sie sind ein Mann! Wenn Sie wüßten ... wenn Sie wüßten ... –
Sie packte das Taschentuch, das sie in der Hand hielt, mit den Zähnen, um zu verhindern, daß sie weinte; es glückte ihr nicht, mehrmals riß es sie fort, in Wutausbrüchen.
– Weib, häßlich und alt, – rief sie: – dreifaches Unglück, gegen das es kein Mittel gibt! Warum lebe ich?
– Beruhigen Sie sich doch, – bat ich sie, betrübt. – Warum sprechen Sie so, Signorina? –
Ich konnte nichts anderes sagen.
– Weil ... – brach sie hervor, aber hielt plötzlich inne.
– Sprechen Sie, ermunterte ich sie. Wenn Sie einen Freund brauchen ... –
Sie führte das zerrissene Taschentuch an die Augen.
– Ich hätte nötiger zu sterben! – seufzte sie mit so tiefem und heftigem Gram, daß ich plötzlich eine Angst mir in der Kehle aufsteigen fühlte.
Nie werde ich je die schmerzliche Falte um den verwelkten und plumpen Mund vergessen, als er jene Worte hervorstieß, noch das Beben des Kinns, auf dem sich einige kleine schwarze Härchen krümmten.
– Aber nicht einmal der Tod will mich, – fuhr sie fort. – Nichts ... entschuldigen Sie Herr Meis! Welche Hilfe könnten Sie mir geben? Keine. Höchstens Worte ... ja, ein wenig Mitleid. Ich bin Waise und muß hier bleiben, behandelt wie ... vielleicht werden Sie es bemerkt haben. Dabei haben sie kein Recht dazu. Weil sie mir gar kein Almosen geben ... –
Jetzt sprach die Signorina Caporale von ihren sechstausend Liren, die Papiano von ihr erprellt hatte, was ich schon angedeutet habe.
Ich benutzte (ich gestehe es) ihre Erregtheit, in der sie sich befand, vielleicht auch weil sie ein Gläschen zuviel getrunken hatte, und wagte, sie zu fragen:
– Aber entschuldigen Sie, Signorina, warum haben Sie ihm das Geld gegeben?
– Warum? – und sie ballte die Faust. – Zwei Treulosigkeiten, eine schwärzer als die andere! Ich habe es ihm gegeben, um ihm zu zeigen, daß ich wohl verstanden hatte, was er von mir wollte. Haben Sie begriffen? Als die Frau noch lebte, dieser ...
– Stellen Sie sich vor, – fuhr sie eifrig fort. – Die arme Rita ...
– Die Frau?
– Ja, Rita, die Schwester der Adriana ... Zwei Jahre krank, zwischen Leben und Tod ... Stellen Sie sich vor, wenn ich ... ja aber hier wissen Sie es, wie ich mich betrug; Adriana weiß es, und deshalb will sie mir wohl. Aber was bin ich jetzt geworden? Sehen Sie: für ihn habe ich das Klavier weggeben müssen, das mir gehörte ... Mein alles! Nicht nur für meinen Beruf: ich sprach mit meinem Klavier! Als Mädchen auf der Akademie komponierte ich; auch später, dann habe ich es gelassen. Aber solange ich das Klavier hatte, komponierte ich noch, für mich allein, ich tobte mich aus ... ich berauschte mich bis ich zu Boden fiel, glauben Sie mir, ohnmächtig manchmal. Ich weiß selbst nicht, was aus meiner Seele hervortrat: ich wurde dann eins mit meinem Instrument, und meine Finger fühlten sich nicht mehr über einer Tastatur; ich machte meine Seele weinen und schreien.
– Entschuldigen Sie, Signorina, schlug ich, um sie zu trösten, vor, könnten Sie nicht ein Klavier mieten?
– Nein, – unterbrach sie mich, – was wollen Sie, daß ich noch spiele! Für mich ists erledigt. Ich klimpere kleine ausgelassene Lieder. Basta!
– Aber hat Ihnen Herr Terenzio Papiano, – wagte ich von neuem zu fragen, – nicht die Rückerstattung jenes Geldes versprochen?
– Er? – sagte sie plötzlich, mit einem Zittern der Wut.
Wer hat es je von ihm gefordert! Er verspricht es mir jetzt, wenn ich ihm helfe ... Ja! Er will, daß ich ihm helfe; er hat die Frechheit gehabt es mir vorzuschlagen ...
– Ihm zu helfen? Worin?
– In einer neuen Treulosigkeit! Verstehen Sie? Ich sehe, Sie haben verstanden.
– Adri ... die ... die Signorina Adriana? – stotterte ich.
– Gerade die. Ich soll sie überreden! Ich, verstehen Sie?
– Ihn zu heiraten?
– Natürlich. Wissen Sie, warum? Sie hat, oder sie soll vierzehn oder fünfzehn Tausend Lire Mitgift haben, die arme Unglückliche: die Mitgift der Schwester, die er sofort dem Herrn Anselmo zurückerstatten mußte, da Rita gestorben war, ohne Söhne zu hinterlassen. Ich weiß nicht, was für Schwindeleien er gemacht hat. Sie hat ein Jahr lang diese Zurückerstattung gefordert. Jetzt hofft sie, daß ... Still ... da ist Adriana! –
Noch mehr in sich gekehrt und scheuer denn je, näherte sich Adriana uns: mit einem Arm umfaßte sie die Taille der Signorina Caporale und grüßte mich leicht. Ich empfand heftigen Ärger, sie so unterjocht zu sehen, gleichsam als Sklavin der gehässigen Tyrannei jenes Cagliostro. Bald darauf aber erschien auf der Terrasse, gleich wie ein Schatten, der Bruder des Papiano.
– Da ist er, – sagte die Caporale leise zu Adriana.
Diese schloß die Augen, lächelte bitter, schüttelte den Kopf und zog sich von der Terrasse zurück, indem sie zu mir sagte:
– Entschuldigen Sie, Herr Meis. Guten Abend.
– Der Spion, flüsterte mir die Signorina Caporale zu.
– Aber was fürchtet die Signorina Adriana? – entschlüpfte es mir in meiner wachsenden Gereiztheit. Hören Sie, Signorina, ich gestehe, daß ich alle die sehr beneide, die Geschmack am Leben finden. Zwischen dem, der resigniert und die Rolle des Sklaven spielt und dem, der die Rolle des Herrn spielt, sei es auch nur durch Gewalttätigkeit, gilt meine Sympathie dem letzteren.
Die Caporale merkte die Lebhaftigkeit, mit der ich gesprochen, und sagte mit einer Miene der Herausforderung zu mir:
– Und warum versuchen Sie nicht als erster dagegen zu rebellieren?
– Ich?
– Sie, ja, Sie, – bekräftigte sie, indem sie mir gereizt in die Augen blickte.
– Aber was geht mich das an? – antwortete ich. Ich könnte nur in einer einzigen Art rebellieren: indem ich wegginge.
– Nun gut, – schloß die Signorina Caporale boshaft, – vielleicht will das Adriana gerade nicht.
– Daß ich weggehe? –
Sie ließ das zerfetzte Taschentuch durch die Luft fliegen und dann wickelte sie es sich um einen Finger, seufzend:
– Wer weiß! –
Ich zuckte die Achseln.
– Jetzt muß ich zum Abendessen! – rief ich und verließ sie.
An jenem selben Abend, als ich durch den Korridor kam, blieb ich vor dem Koffer stehen, auf dem Scipio Papiano zusammengekauert lag.
– Entschuldigen Sie, – sagte ich zu ihm, – hätten Sie denn keinen anderen Ort, wo Sie bequemer lägen? Hier stören Sie mich. –
Jener sah mich dumm an, mit schmachtenden Augen, ohne eine Miene zu verziehen.
– Haben Sie verstanden? – drängte ich, indem ich ihn an einem Arm schüttelte.
Aber es war, als spräche ich zur Wand! Da öffnete sich, hinten im Korridor die Tür und Adriana erschien.
– Ich bitte Sie, Signorina, – sagte ich zu ihr, versuchen Sie bitte einmal dem armen Kerl hier begreiflich zu machen, daß er sich woanders hinlegen könnte.
– Er ist krank, – versuchte Adriana ihn zu entschuldigen.
– Gerade deswegen, weil er krank ist! – entgegnete ich. – Hier liegt er nicht gut: es fehlt ihm die Luft ... und dann auf einem Koffer liegend ... Wollen Sie, daß ich es dem Bruder sage?
– Nein, nein, – beeilte sie sich, mir zu antworten. Ich werde es ihm sagen, zweifeln Sie nicht daran.
– Sie werden verstehen, – fügte ich hinzu, – ich bin doch kein König, daß ich eine Schildwache vor der Tür haben muß. –
Adrianas zarte Unschlüssigkeit, ihre ehrenhafte Zurückhaltung hinderten mich, sofort mit mir selber ins reine zu kommen, zwangen mich immer mehr hinein in eine fast selbstverständliche Herausforderung gegen Papiano.
Ich hatte erwartet, daß dieser sich vor mir aufpflanzen würde von dem ersten Tage an, indem er die gewohnten Komplimente und Zeremonien unterließ. Statt dessen entfernte er den Bruder von dem Wachtposten dort auf dem Koffer, wie ich es gewollt hatte, und ging soweit, daß er in meiner Gegenwart über das verlegene und verwirrte Aussehen der Adriana scherzte.
– Haben Sie Nachsicht mit ihr, Herr Meis; sie ist schamhaft wie eine junge kleine Nonne, meine kleine Schwägerin! –
Diese unerwartete Unterwürfigkeit und eine solche Unbefangenheit machten mich stutzig. Worauf wollte er hinaus?
Eines Abends sah ich ihn mit einem Anderen zusammen nach Haus kommen, der, heftig mit dem Stock auf den Boden stoßend, eintrat, gleich als wollte er, da er die Füße in einem Paar Tuchschuhen hatte, die keinen Lärm machten, wenigstens hören, daß er ging.
– Wo wohnt mein Verwandter hier? – fing er an in dem gepreßten Turiner Dialekt zu schreien, ohne den großen Hut mit der zurückgebogenen Krempe abzunehmen, der ihm bis in die vom Weine trüben Augen hinabreichte, ohne auch die Pfeife aus dem Munde zu nehmen, mit der er sich die Nase zu wärmen schien, die noch röter als die der Signorina Caporale war.
– Da ist er, – sagte Papiano, auf mich zeigend; dann wandte er sich an mich: – Herr Adriano, eine angenehme Überraschung! Herr Francesco Meis aus Turin, Ihr Verwandter.
– Mein Verwandter? – rief ich im höchsten Grade verwundert aus.
Jener schloß die Augen, hob wie ein Bär eine Pfote und hielt sie eine Weile in der Schwebe, in der Erwartung, daß ich sie ihm drückte.
Ich ließ ihn eine Weile in dieser Stellung, um ihn etwas näher zu betrachten.
– Was ist das für eine Posse? – fragte ich.
– Nun, entschuldigen Sie, warum? – sagte Terenzio Papiano.
– Herr Francesco Meis hat mir ausdrücklich versichert, er sei Ihr ...
– Cousin, – betonte jener, ohne die Augen zu öffnen. – Alle die Meis sind Verwandte.
– Aber ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen! – protestierte ich.
– Wie ist das möglich! – rief jener aus. – Sie sind es ja gerade, den ich hier aufsuchen wollte. –
– Meis? Aus Turin? – fragte ich und tat, als suchte ich im Gedächtnis. Ich bin nicht aus Turin!
– Wie! Entschuldigen Sie, – unterbrach Papiano. – Haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie bis zu Ihrem zehnten Jahr in Turin waren?
Was! rief jener ärgerlich, daß etwas für ihn völlig Ausgemachtes in Zweifel gezogen wurde. – Cousin, Cousin! Dieser Herr hier ... wie heißt er doch?
– Terenzio Papiano, zu dienen.
– Terenziano hat mir gesagt, daß dein Vater nach Amerika gegangen ist. Das will sagen, daß du als der Sohn des Vaters Antonio mit ihm nach Amerika gegangen bist. Und wir sind Cousins.
– Aber wenn mein Vater Paolo hieß ...
– Antonio!
– Paolo, Paolo, Paolo. Wollen Sie es besser wissen als ich?
– Aber er hieß Antonio, – sagte er, indem er sich über das stachlige Kinn strich mit dem mindestens vier Tage alten, fast ganz grauen Bart. – Ich will nicht widersprechen: es kann auch Paolo sein. Ich erinnere mich nicht genau, weil ich ihn nicht gekannt habe. –
Der arme Kerl! Er war in der Lage besser zu wissen als ich, wie sein Onkel hieß, der nach Amerika gegangen war; und doch gab er nach, da er auf jeden Fall mein Verwandter sein wollte.
Aber hatte er den Großvater, wenigstens den Großvater gekannt? Ich mußte ihn danach fragen. Ja, er hatte ihn gekannt, aber er erinnerte sich nicht genau ob in Pavia oder in Piacenza.
– So? Wirklich gekannt? Und wie war er?
Er war ... aber er erinnerte sich seiner nicht mehr, gar nicht mehr.
– Ach es sind dreißig Jahre seitdem vergangen ... –
Er schien wirklich nicht in böser Absicht zu handeln; vielmehr schien er einer jener Unglückseligen, die ihre Seele im Wein ertränkt hatten, um nicht zu schwer die Last der Langeweile und des Elends zu fühlen. Er nickte mit dem Kopf, die Augen geschlossen, indem er alles billigte, was ich ihm nach meinem Belieben sagte. Ich bin sicher, hätte ich ihm gesagt, daß wir als Kinder zusammen aufgewachsen seien und ich ihn oftmals an den Haaren gerissen hätte, er würde es in derselben Weise gebilligt haben. Nur eins durfte ich nicht in Zweifel ziehen, daß wir Cousins waren: das war nunmehr festgestellt.
Ich verabschiedete den armen halb betrunkenen Kerl, indem ich ihn grüßte: Lieber Verwandter! – und ich bat Papiano, ihn klipp und klar wissen zu lassen, daß hier für ihn nichts zu holen sei.
– Sagen Sie mir jetzt, wo Sie den armen Teufel aufgespürt haben.
– Entschuldigen Sie vielmals, Herr Adriano! – schickte der Schwindler voraus, dem ich nicht umhin konnte, eine große Genialität zuzuerkennen. – Ich sehe, daß ich nicht glücklich gewesen bin ...
– Aber Sie sind immer sehr glücklich! rief ich aus.
– Nein, ich meine: daß ich Ihnen keinen Gefallen damit habe tun können. Aber glauben Sie nur, es war ein reiner Zufall. Heute morgen hatte ich auf die Steuerbehörde gehen müssen wegen des Marchese, meines Chefs. Während ich da war, habe ich laut rufen hören: Herr Meis! Herr Meis! Ich drehe mich sofort um, in dem Glauben, daß auch Sie wegen einer Angelegenheit da seien; wer weiß, sagt ich mir, könnten Sie mich brauchen, der ich Ihnen immer zu Diensten stehe. Aber was! Man rief jenen armen Teufel, wie Sie ihn selbst eben richtig genannt haben. Und da, so ... aus Neugierde näherte ich mich ihm und fragte ihn, ob er wirklich Meis hieße und aus welcher Gegend er sei, weil ich die Ehre und das Vergnügen hätte, zu Hause einen Herrn Meis zu beherbergen ... So kam es! Er hat mir versichert, daß Sie sein Verwandter sein müßten, und er hat Sie kennen lernen wollen ...
– Auf der Steuerbehörde?
– Ja, mein Herr, er ist dort angestellt: Hilfsrevisor.
Durfte ich ihm glauben? Wollte er etwa in meiner Vergangenheit Nachforschungen anstellen? Wehe, wenn es ihm glückte, von der geringsten Spur Wind zu bekommen: er würde sie sicher bis zur Mühle von Stia verfolgen.
Man kann sich meinen Schrecken vorstellen, als einige Tage danach, während ich in meinem Zimmer mit Lesen beschäftigt war, mich aus dem Korridor, wie aus einer anderen Welt eine Stimme erreichte, eine Stimme, noch so lebendig in meiner Erinnerung:
– Ich danke Gott, vor allem, daß ich mich darüber erhoben habe! –
Der Spanier? Jener bärtige und vierschrötige Spanier aus Monte Carlo? Der, welcher mit mir spielen wollte und mit dem ich mich in Nizza gezankt hatte? ... Oh bei Gott! Da war die Spur! Es war Papiano geglückt sie zu entdecken!
Ich sprang auf, mich am Tisch festhaltend, um nicht zu fallen, in einer unerwarteten angstvollen Verwirrung: erstaunt, geradezu erschreckt, lauschte ich mit dem Gedanken an Flucht, sobald jene beiden – Papiano und der Spanier – den Korridor überschritten hätten. Fliehen? Und wenn Papiano beim Eintreten das Dienstmädchen gefragt hatte, ob ich zu Hause wäre? Was würde er von meiner Flucht denken? Andererseits, wenn er gar schon wußte, daß ich nicht Adriano Meis war? Ruhig! Welche Auskunft konnte er von dem Spanier über mich bekommen haben? Der hatte mich in Monte Carlo gesehen. Hatte ich ihm damals gesagt, daß ich Mattia Pascal hieß? Vielleicht, ich erinnerte mich nicht mehr ...
Ohne zu wissen wie, befand ich mich vor dem Spiegel, als hätte mich irgendwer an der Hand dorthin geführt. Ich betrachtete mich. Ha, dieses verfluchte Auge! Vielleicht hatte mich jener wiedererkannt? Aber wie hatte Papiano überhaupt soweit gelangen können, bis zu meinem Abenteuer in Monte Carlo? Das verblüffte mich mehr als alles andere. Was sollte ich inzwischen tun? Nichts. Hier warten, bis sich ereignete, was sich ereignen sollte.
Es geschah nichts. Nichtsdestoweniger wich die Furcht nicht von mir, auch nicht am Abend desselben Tages, da Papiano, als er das für mich so unlösbare und schreckliche Geheimnis jenes Besuchs erklärte, mir den Beweis lieferte, daß er wirklich nicht auf der Spur meiner Vergangenheit war, daß allein der Zufall, dessen Gunst ich seit einiger Zeit genoß, mir einen neuen Beleg seines Waltens hatte erbringen wollen, indem er mir jenen Spanier in den Weg führte, der sich vielleicht meiner überhaupt nicht mehr erinnerte.
Nach der Auskunft, die Papiano mir von ihm gab, mußte ich, wenn ich nach Monte Carlo ging, ihn unbedingt dort treffen, denn er war ein Berufsspieler. Seltsam war nur, daß ich ihn hier in Rom traf, oder vielmehr, daß ich, nach Rom gekommen, in einer Wohnung auf ihn stoßen mußte, in die auch er kam. Wenn ich nichts zu befürchten gehabt hätte, so wäre mir diese Wohnung sicherlich nicht so seltsam erschienen: wie oft geschieht es uns nicht, daß wir unerwartet auf jemanden stoßen, den wir durch Zufall anderswo kennen gelernt haben? Im übrigen hatte jener sein gutes Recht, oder glaubte es zu haben, nach Rom und in das Haus des Papiano zu kommen. Das Unrecht lag auf meiner Seite, oder auf der des Zufalls, der mich veranlaßt hatte, den Bart abzunehmen und den Namen zu ändern.
Etwa zwanzig Jahre zuvor hatte der Marchese Giglio d'Auletta, dessen Sekretär Papiano war, seine einzige Tochter an den Don Antonio Pantogada verheiratet, den Attaché an der Spanischen Gesandtschaft beim Heiligen Stuhl. Bald nach der Heirat war Pantogada eines Nachts von der Polizei in einer Spielhölle mit anderen Personen der römischen Aristokratie entdeckt und nach Madrid zurückgerufen worden. Dort wurde er bald gezwungen, den diplomatischen Dienst zu quittieren. Von nun an fand der Marchese d'Auletta keine Ruhe mehr. Unaufhörlich war er genötigt Geld zu schicken, um die Spielschulden seines unverbesserlichen Schwiegersohnes zu bezahlen. Vor vier Jahren war die Frau Pantogadas gestorben und hatte ein junges Mädchen von etwa sechzehn Jahren zurückgelassen, die der Marchese mit sich nehmen wollte, da er zu gut wußte, in was für Hände sie sonst fallen würde. Pantogada aber wollte sie sich nicht entschlüpfen lassen; dann hatte er unter dem Druck seiner Geldnot nachgegeben. Jetzt drohte er dem Schwiegervater unablässig die Tochter zurückzunehmen; und an jenem Tage gerade war er nach Rom gekommen, um von dem armen Marchese noch mehr Geld zu erpressen, da er ganz genau wußte, daß dieser nie und nimmer seine teure liebe Enkelin Pepita seinen Händen übergeben würde.
Papiano sprach mit Feuer, um die unwürdige Erpressung des Pantogada zu brandmarken. Und sein edelmütiger Zorn war wirklich aufrichtig. Aber während er sprach, konnte ich nicht umhin, die vortreffliche Einrichtung seines Gewissens zu bewundern, das ihm, obwohl er sich über die Ruchlosigkeiten anderer so empören konnte, dennoch erlaubte ganz ruhig ähnliche zum Schaden seines Schwiegervaters, des guten Paleari, zu begehen.
Diesmal wollte der Marchese Giglio fest bleiben. Daraus folgte, daß Pantogada einige Zeit in Rom bleiben und sich sicherlich im Hause des Terenzio Papiano wieder einfinden würde, mit dem er sich so vortrefflich verstand. Eine Begegnung zwischen mir und jenem Spanier würde also eines Tages unvermeidlich sein. Was blieb mir zu tun übrig?
Da ich mit anderen mich nicht beraten konnte, tat ich es von neuem vor dem Spiegel. Und das Bild des seligen Mattia Pascal, das an die Oberfläche kam wie aus dem Grunde des Wassergrabens, mit jenem Auge, das mir allein von ihm geblieben war, sprach in der Spiegelfläche also zu mir:
– In welch häßliche Scherereien hast du dich gebracht, Adriano Meis! Du hast Furcht vor Papiano, gestehe es! Und du möchtest mir die Schuld geben, noch immer mir, nur weil ich in Nizza mich mit dem Spanier stritt. Und doch hatte ich recht, Du weißt es. Scheint es dir, daß es für den Augenblick genügen könnte, die letzte Spur von mir aus dem Gesicht zu tilgen? Gut denn, so folge dem Rat der Signorina Caporale und konsultiere den Doktor Ambrosini, der dir das Auge zurechtrückt. Dann ... wirst du schon sehen!