Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
Platons Werke. Zweiter Theil
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

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Der Staatsmann

In der Übersetzung von
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Einleitung

Wie dieses Gespräch mit dem vorigen als zweiter Teil der dort angekündigten Trilogie unmittelbar zusammenhängt, das leuchtet jedem von selbst ein. Wiewohl es sich aber unter denselben Personen begibt, und sich gleichsam in fortlaufender Rede an die Untersuchung über den Sophisten anschließt: so würde man doch zuviel tun, wenn man deshalb beide auch wirklich als Ein Gespräch ansehen wollte. Vielmehr ist zu glauben, daß zwischen der Ausgabe beider einige Zeit verstrichen ist, wenn man anders auf verschiedene einzelne Äußerungen in unserem Gespräch einiges Gewicht legen darf, welche ganz das Ansehen haben, daß sie den Sophisten verteidigen sollen. Daher ist denn die Übersetzung ganz unbedenklich um so sicherer der alten Weise gefolgt ist beide Gespräche, ohnerachtet sie ganz genau aneinander schließen, unter den hergebrachten Überschriften von einander zu trennen. Auch deutet wohl die Ähnlichkeit beider mehr darauf sie als Gegenstücke neben einander zu stellen als daß man es recht angemessen finden könnte sie zusammenzufügen als Hälften eines Ganzen. Denn in der Tat entsprechen sie einander in ihrer ganzen Bildung so genau wie nicht zwei andere Platonische Gespräche, und was an Verschiedenheit aufzufinden ist, scheint nur daher zu rühren, daß im »Sophisten« der unmittelbare Gegenstand der Darstellung das Verwerfliche ist, in dem »Staatsmann« hingegen das Ächte und Vortreffliche. Wiewohl auch hierin unser Gespräch sich dem »Sophisten« wieder nähert, indem es neben dem vortrefflichen doch auch zugleich das Verwerfliche mit großem Fleiß ableitet und auszeichnet, wie in dem »Sophisten« auch neben der Ausführung des verwerflichen zugleich auch auf das vortreffliche nämlich den Philosophen wenigstens hingedeutet wird. Auf diese Weise nun behauptet unser Gespräch mit Recht den mittleren Platz in der angelegten Trilogie indem es in der Tat ein Mittelglied bildet zwischen dem »Sophisten« und der angekündigten Darstellung des Philosophen, wie wir uns diese ohngefähr denken können.

Schon in den ersten Grundzügen ist eine große Übereinstimmung zwischen den beiden vorhandenen Gliedern dieser Trilogie nicht zu verkennen. Nämlich auch beim »Staatsmann« ist die ganze Aufgabe eine Erklärung, und sie soll eben so durch Einteilung des gesamten Gebietes der Kunst, nur aus einem andern Teilungsgrunde, gefunden werden. Wie aber bei dem »Sophisten« dieses ganze Verfahren nicht durchaus ernsthaft gemeint war, so ist es auch hier nicht. Denn kaum könnte man, wenn ihm dies ein wesentlicher Teil des Ganzen gewesen wäre, dem Platon solche Fehler zutrauen als hier begangen werden: indem zum Beispiel unter das Gebietende, in wiefern es ein Teil des erkennenden ist, das bloß Gebotverkündigende mit begriffen wird, bei welchem doch gar keine eigene Erkenntnis notwendig ist, und welches wir hernach auch unter den bloß dienenden Künsten wiederfinden. Ferner indem am Ende der ganzen Einteilung die Schweine mit dem Menschen in einer näheren und geraderen Verwandtschaft stehen als mit dem Hornvieh, worüber sich freilich Platon selbst lustig macht, und uns hernach ernsthafter sagt, der Mensch verhalte sich zu den übrigen Tieren wie die dämonische Natur zu der menschlichen. Deshalb ist nun in dem wiederholten Lobe jener einteilenden Methode, daß sie sich um Großes und Kleines nicht kümmere, neben dem wahren gewiß zugleich etwas scherzhaftes; wo nicht, so wäre Platon mit Recht gestraft durch den bekannten schlechten Scherz des Diogenes mit dem gerupften Hahn, der sich ganz genau auf die eine von den hier befolgten Einteilungen bezieht. Nachdem nun aber die Erklärung gefunden worden, zeigt sich ferner daß sie nicht passend ist, sondern daß sie, weshalb ein großer Mythos ausgeführt wird, mehr den dämonischen Menschenhüter einer früheren Periode trifft, als den menschlichen Staatsmann einer geschichtlichen Zeit. Für diesen nämlich müsse von dem unter jener Erklärung befaßten erst noch vieles abgesondert werden, was in das Gebiet anderer Künste gehöre, um dann die eigentliche Staatskunst zu erhalten. Dieses Absondern nun soll, wie aus einer Abschweifung über die Natur und den Nutzen des Beispiels, die wirklich nur zur Verteidigung der im »Sophistes« und hier gewählten Methode hier stehen kann, deutlich genug erhellt, weil es ein neues Geschäft ist wie das Einteilen selbst in dem »Sophisten« ein neues war, auch, wie jenes dort, zuerst an einem geringfügigen Beispiel versucht werden, an der Weberei nämlich, mit welcher sich am Ende der Staatsmann eben so verwandt findet, wie mit dem Angelfischer und mehreren anderen der Sophist. Die Weberei selbst aber wird auch erst auf dem vorigen Wege der Einteilung erklärt; und als die Erklärung sich als eine solche zeigt, die weit leichter konnte gefunden worden sein durch die unmittelbare Anschauung, so knüpft sich hieran eine neue Abschweifung über die Art das große und kleine zu messen, und über das Maß welches jedes Ding in sich selbst habe. Hierauf nun wird zuerst von der Weberei, und dann nach diesem Muster auch von der Staatskunst, alles abgesondert was ihr bloß dient oder ihr Geschäft entfernter mitwirkend umgibt, wobei sich sichtlich die Rede als zu ihrer eigentlichen Spitze hinzudrängt zu der Absonderung des falschen Staatsmannes, für den es aber in der Weberei nichts analoges gibt, und der daher aller künstlichen Vorbereitung ohnerachtet doch ziemlich hart an die dem Staate nur dienende Klasse vermittelst einer Auseinandersetzung über die verschiedenen Formen der Staatsverfassung angeknüpft wird. Der nicht klar heraustretende Zusammenhang ist aber eigentlich dieser, daß die Verwalter solcher Staaten, welche nach bestehenden Gesetzen regiert werden, so lange sie der Voraussetzung treu bleiben, diese Gesetze seien das Werk eines wahrhaft kundigen Staatsmannes, nur Diener und Werkzeuge von diesem sind; sobald sie sich aber herausnehmen, diese Gestalt der Diener abwerfend, ihn auch in seiner Freiheit nachzuahmen, alsdann eben jenes grundverderbliche Übel werden, der falsche scheinbare Staatsmann, der wiederum als nachahmend und schlecht nachahmend genau dem Sophisten gegenübersteht, und deshalb auch als der größte Sophist und Gaukler beschrieben wird. Offenbar sieht man wie jene ganze Darstellung der Staatsformen, mit Ausnahme etwa der einzigen Stelle über ihren ungleichen Wert, nur als Mittel behandelt ist um den falschen Staatsmann zu finden; denn sobald dieser sich deutlich genug gezeigt hat, wird das Absonderungsgeschäft fortgesetzt, um auch die zunächst in der Ausübung im Großen begriffenen, die Feldherren und die Rechtsverwalter von dem Staatsmann zu trennen, so daß endlich seine Kunst als die über alle andern herrschende und alle ihre Beschäftigungen den Menschen bestimmende zurückbleibt, und dann wiederum durch einen harten Übergang und ohne daß ein natürlicher Zusammenhang erhellte, zurückkehrend zu dem Beispiel von der Weberei, so wie der Philosoph im »Sophisten« gelegentlich als ein trennender reinigender Künstler dargestellt wurde, so hier der Staatsmann als ein verbindender geschildert, welchem als sein hauptsächlichstes und fast einziges Geschäft obliegt die verschiedenen und deshalb auseinanderstrebenden Naturen untereinander zu verketten.

Sieht man nun allein auf dasjenige was so den Hauptfaden des Ganzen bildet und auf das letzte Resultat, so kann dieses allerdings dürftig genug erscheinen. Nicht etwa nur dem großen Haufen der heutigen Politiker, dessen höchste Aufgabe immer nur die ist den Staatsreichtum zu vermehren; denn wie wenig Platon mit diesen zu tun hat, muß ihnen schon aus dem Anfang jenes Absonderungsgeschäftes deutlich werden, wo dem Landbau wie dem Handel in Beziehung auf den Staat gar verächtlich begegnet wird. Sondern auch denen, welche höhere sittliche und wissenschaftliche Ansichten mitbringen, könnte das Ergebnis dürftig vorkommen, und dieses letzte und einzige Geschäft des Staatsmannes, wenn gleich etwas großes, ihren Erwartungen doch nicht genügen, um so weniger als nicht einmal unmittelbar angegeben zu sein scheint, auf welchen Zweck nun eigentlich diese Verknüpfung der Naturen und jene Herrschaft über die Beschäftigungen und Dinge in Staaten zu beziehen, und unter welcher Form, ob überall unter derselben oder hier unter dieser und dort unter jener beides auszuüben sei. Diese nun mögen zunächst bedenken daß wie in jenem Gespräch die Erklärung des Sophisten offenbar mit Hinsicht auf den damaligen Zustand der Wissenschaft angelegt war: so auch hier die Erklärung des Staatsmannes mit Bezug auf die bürgerlichen Verhältnisse jener Zeit unter den Hellenen, indem hier von den Verirrungen und der Wut der Parteien die tiefste wie die edelste Ansicht gefaßt ist, und allerdings von diesen den Staat zu befreien oder frei zu erhalten als die höchste Kunstausübung des Staatsmannes mußte dargestellt werden. Besonders aber mögen sie sich erinnern lassen, daß in unserm Gespräch ganz dieselbe Verflechtung und Zusammensetzung statt findet wie in dem vorigen, und daß sie daher nicht vergeblich in dem, was bloß als Abschweifung und beiläufig gegeben wird, die wichtigsten Aufschlüsse suchen dürfen über das, was sie in jenem unmittelbar zusammenhängenden Hauptfaden vermissen. Was zum Beispiel zuerst die Form des Staates betrifft, so läßt freilich Platon deutlich genug vernehmen, daß der wahre Staat wegen Seltenheit der politischen Kunst kaum eine andere als eine monarchische haben könne; allein wenn wir, wie er auch tut, den wahren Staat ganz aus dem Spiel lassen, und den Staatsmann nur ansehn wie er einem andern Staate, der eine Nachahmung werden soll, seine Gesetze vorschreibt, so läßt er zwar alle drei genannte Formen als solche gelten, allein aus seinem Geschäft die Naturen zu vereinigen oder die Beschäftigungen zu beherrschen allein kann doch nicht erhellen unter welchen Umständen er einem Staate jede von jenen Formen geben, und wann er lieber Einem oder Wenigen oder der Menge auftragen wird ihn nachzuahmen. Deshalb nun ist eben jene Abschweifung über den Wert der verschiedenen Formen, welche deutlich genug zu verstehen gibt, daß, in dem Maß als sich Tapferkeit und Besonnenheit in Einigen oder Einem schon vereinigen, auch die Gewalt in ihm oder ihnen darf zusammengedrängt sein, in dem Maß aber als beides noch getrennt ist, auch die Gewalt muß zerstückelt und der Staat also in demselben Maß muß ohnmächtig sein als jenes Hauptgeschäft des Staatsmannes in ihm noch unvollendet ist. Ferner auch wird die ganze Ansicht der Staatskunst sehr aufgehellt durch jene andere, wenn gleich gar nicht in Bezug auf den Gegenstand sondern nur zur Verteidigung des beobachteten Verfahrens eintretende Abschweifung von der Idee des Maßes. Denn eben so bestimmt als absichtlich erklärt Platon, daß die Staatskunst wie jede andere Kunst in ihren Werken dies natürliche auf ihrem Wesen beruhende Maß suche, welches also der wahre Staatsmann als der Wissende in sich tragen und auch mit den richtigen Vorstellungen vom Guten und Gerechten – denn wodurch als durch dies Maß müßte beides bestimmt werden? – den Andern einpflanzen muß um hienach gemeinschaftlich mit ihnen sowohl den äußeren Umfang des Staates abzustecken, als auch jedem Teile desselben seinen eigenen anzuweisen. Über den höchsten Zweck des Staates endlich finden sich die bestimmtesten Winke in jenem großen schon erwähnten Mythos, wo das Wesen des goldenen Zeitalters nach dem Maßstabe beurteilt wird, daß aller Reichtum an natürlichen Dingen und alle Leichtigkeit des Lebens doch nur alsdann einen Wert habe, wenn der Umgang der Menschen untereinander und mit der Natur sie zur Erkenntnis führe, so daß ihnen in sich und in der Natur zuletzt nichts mehr verborgen sein dürfe, welches also auch offenbar das Ziel derjenigen Staatskunst sein muß, die endlich, wenn mit allen anderen vereiniget, jenen Bemühungen der Götter und des dämonischen Hüters entsprechen kann.

Indessen gehört auch dieses zu der Ähnlichkeit unseres Gespräches mit dem »Sophisten,« daß die angeführten Beziehungen auf den unmittelbaren Gegenstand des Gespräches doch die Absicht jener hinein verwebten Stücke nicht erschöpfen, der wir also noch weiter nachgehn müssen, so gut sich die Spur in wenigen Schritten aufzeigen läßt. Gleich der Mythos, zu welchem eine ägyptische Überlieferung, deren Herodotos gedenkt, Veranlassung scheint gegeben zu haben – denn wenn etwa noch anderwärts Ähnliches vorkommt, wie denn Platon wenigstens das Einzelne was er hier nur in ein großes bedeutendes Bild zusammenfaßt als bekannte Tradition voraussetzt, so ist dies dem Übersetzer entgangen – hat offenbar eine weit mehr umfassende Abzweckung. Was darin von dem Verhältnis der Gottheit zur Welt gedichtet wird auseinander zu setzen, oder zu beurteilen in wiefern man auch hier einen Sitz suchen könnte der dem Platon zugeschriebenen Lehre, daß das Böse in der Materie seinen Ort und seine Ursache habe, dies würde nicht hieher gehören weil es ganz außerhalb der Grenzen unseres Gespräches liegt. Wohl aber ist dieses zu bemerken, daß Platon hier eine große Ansicht niederlegen wollte von den geschichtlichen Perioden der Welt und von den großen Umwälzungen der menschlichen Dinge, besonders aber auch von ihrem zu gewissen Zeiten bemerklichen Zurückschreiten, in welchem er auch sein Vaterland zumal in politischer Beziehung begriffen fand, und es gehört gewiß zu der Harmonie des Ganzen, daß auch dies aus dem Ermangeln der einwohnenden lebendigen Erkenntnis erklärt wird, und aus der bloßen Nachahmung in welcher die Ähnlichkeit mit dem Wahren je länger je mehr verschwindet. Wer aber dies mehr nach unserer Weise betrachten und verfolgen wollte, der dürfte darin nicht mit Unrecht den ersten gebildeten Ausdruck finden für die in unvollkommner Gestalt auch viel früher schon vorkommende Anschauung des Lebens der Welt als in entgegengesetzten Bewegungen wechselnd und sich wieder erzeugend. Merkwürdig ist es übrigens, und ein Rat der wohl hieher gehört, diesen Mythos mit dem im »Protagoras« zu vergleichen. Denn hoffentlich wird Jedem der dabei Achtung gibt auf die Art wie jener Mythos hier wieder mit aufgenommen wird, das dort über ihn gesagte sich aufs neue bestätigen. – Eben so hat die Idee des Maßes hier noch eine eigene wiewohl wenig angedeutete Beziehung auf die beiden Teile oder Gestalten der Tugend wie sie genannt werden, um jeden möglichen Mißverstand zu verhüten, daß sie nämlich nicht etwa nur im Vergleich mit einander groß und klein sind, so daß dieselbe Äußerung gegen die eine von zwei andern gehalten tapfer und gegen die andere gehalten ruhig wäre, oder gar im Vergleich mit der einen tapfer, im Vergleich mit der andern aber toll und wild, sondern daß sie nur eben dadurch Tugenden sind daß sie ihr Maß in sich selbst haben. Hiedurch schließt sich die hier aufgeregte Ansicht der Tugend der im »Sophisten« gegebenen unmittelbar an, indem so die beiden Arten der Schlechtigkeit, die Unverhältnismäßigkeit und die Krankheit, in ihrer Verbindung gezeigt werden, und das hier beständig vom Staatsmann gebrauchte Gleichnis seine rechte Bedeutung erhält, weil nun der Staatsmann der Arzt wird für die Krankheit der Seele im Großen, indem er ihre Mischung allmählig verbessert und mit den richtigen Vorstellungen des Guten und Gerechten zugleich allen natürlichen Anlagen, welche dieser wesentlichen Einheit ermangelnd in Aufruhr gegen einander stehen müßten, ihr eigentümliches und wahres Maß einpflanzt. So daß nun hier durch völlige Mitaufnahme der richtigen Vorstellung in die Idee der Erkenntnis, aus welcher jene doch immer hervorgehn muß, jene erste Ansicht in einem höheren Sinne und über alle Einwendungen hinausgehoben wiederkehrt, daß alle Tugend Erkenntnis und alle Untugend Unkenntnis sei. – Endlich hat auch die letzte, den Hauptfaden des Gesprächs unterbrechende Erörterung über die verschiedenen Formen der Staatsverfassung, wie sie von den Hellenen waren aufgefaßt und ausgebildet worden, sehr sichtlich den Endzweck, im Zusammenhange mit großen Ansichten ganz unverhohlen seine Meinung zu eröffnen über die hellenischen Staaten und namentlich über seinen vaterländischen, und die höchst verkehrte Art, wie dort von den bloß rednerischen Volksführern der Einfluß der Erkennenden auf den Staat geschätzt und möglichst abgehalten wurde, um so zugleich rechtfertigend im gehörigen Lichte darzustellen was er selbst anderwärts als Staatsbildner und Fürstenlehrer auszurichten vergeblich bemüht gewesen war, und allen spottenden Tadlern zum Trotz herauszusagen, wie er ohnerachtet er nicht dazu gekommen sei zu regieren, sich selbst und jeden Wissenden dennoch für den wahren Staatsmann und König halte.

Dies führt uns natürlich darauf, auch noch diese Ähnlichkeit unseres Gespräches mit dem vorhergehenden zu beachten, daß ersteres ebenfalls als der Gipfel einer Platonischen Polemik anzusehen ist nämlich der gegen Volksführer, Rhetoren und Staatsklügler, und daß gegen sie, nach der gründlichen Behandlung die ihnen hier widerfährt, nichts neues mehr aufzubringen war, sondern hiemit der Streit mußte abgeschlossen sein. Wenn einmal eine Verkehrtheit so vollständig dargelegt ist: so können freilich einzelne Ausfälle noch immer durch besondere Veranlassungen herbeigerufen werden, wenn jemand der Meinung ist er dürfe nie eine Antwort schuldig bleiben; aber sie werden immer, wie stechend sie auch sein mögen, weniger sagen als das was schon gesagt ist, und daher nach einer solchen Auseinandersetzung wie diese, von einem besonnenen Schriftsteller wie Platon, nicht leicht mit solcher Freiheit und nicht abgedrungener Fülle vorgetragen werden, wie wir dergleichen in anderen Gesprächen gefunden haben, die sich auch dadurch als früher geschriebene bewähren. Hierüber ins Einzelne hineingehn hieße ein noch genaueres Gegenstück zu unserer Einleitung in das vorhergehende Gespräch schreiben, wie der »Staatsmann« selbst eines zum »Sophisten« ist. Nur wollen wir die Leser auffordern, in allen Gesprächen, vom »Protagoras« anfangend, denn mehr oder minder findet sich der Gegenstand fast in allen, zu bemerken, wie außerdem daß die Ansicht in allen dieselbige ist, auch selbst die Stärke und Tüchtigkeit der Polemik von der immer mehr sich gestaltenden Entwickelung der wissenschaftlichen Ideen abhängt und mit ihr gleichen Schritt hält, und wie auch hier die mimische und ironische Meisterschaft sich desto weniger hervordrängt sondern mit ihren Ansprüchen mehr zurücktritt, je bestimmter eine wissenschaftliche Darstellung sich vorbereitet. Diese Bemerkung wird ohnfehlbar zugleich unserer ganzen bisherigen Anordnung, wenn man von hieraus auf sie zurücksieht, zur Rechtfertigung gereichen. Denn zuerst ist sichtbar, daß der »Staatsmann« eben so bestimmt die andere Seite des »Euthydemos« ergreift und sich daran festhält wie der »Sophist« die erste ergriff, und daß hier eben so wie dort dasjenige nur kurz in Erinnerung gebracht wird was in jenem schon ausführlich genug behandelt war. Ja wenn man sich erinnert, wie ratlos dort Sokrates und Kleinias auseinander gingen, weil sie die königliche Kunst nicht im Stande gewesen waren zu finden: so muß man zugleich bemerken, wie der »Staatsmann« dasjenige voraussetzt was aus jener Ratlosigkeit die Leser sollten gelernt haben. Eben so deutlich ist ferner, daß unser Gespräch auch auf der im »Kratylos« und »Sophistes« aufgestellten Idee der Nachahmung und auf der vom »Theaitetos« an sich immer weiter entwickelnden der richtigen Vorstellung ruht; wie das im »Gorgias« von dem verkehrten Treiben der gemeinen Staatsklügelei gesagte, als weniger positiv und unmittelbar in sich begründet, dem im »Staatsmann« gesagten notwendig muß vorangegangen sein; endlich auch, daß der »Staatsmann« den »Protagoras« ohngefähr in demselbigen Grade wieder in sich aufnimmt, wie der »Sophistes« den »Parmenides«, und daß was dort über die gesamte Tugend und alle einzelnen, und im »Laches« und »Charmides« über die Tapferkeit und Besonnenheit, die hier als scheinbare Gegensätze wieder vorkommen, besonders gesagt ist, eben so gewiß ein früheres muß gewesen sein als das im »Gorgias«; ja daß alles bisherige im engsten Sinne ethische hier auf eine eigne Weise, und unter dem höchsten Haltungspunkt, den es für Hellenen gab, dem politischen nämlich zusammengefaßt, und so den künftigen Behandlungen aufbewahrt wird. Daher denn auch in sofern der »Staatsmann« mit dem »Sophistes« zusammen den Mittelpunkt der zweiten Periode Platonischer Werkbildung ausmacht, als darin auf der einen Seite was die Form betrifft das Verknüpfen alles elementarischen, versuchartigen, indirekt vorgetragenen zusammenfällt mit den Keimen einer rein philosophischen Darstellung so daß beides sich als Eins und dasselbige zeigt, und als auf der andern Seite was den Inhalt betrifft das Physische und Ethische, indem beides der äußeren Gestalt nach mehr auseinander tritt, doch in jedem auf eine eigene Weise Eins wird, und zwar hier durch die freilich nur mythisch vorgetragene Betrachtung des Geschichtlichen unter dem Gesetz der Natur und Bildung der Welt selbst, in welcher Hinsicht denn unser Mythos, wie ihn auch wohl Jeder ansieht, eine Vorandeutung auf den »Timaios« ist, die sich der Annäherung an den Platonischen »Staat« gegenüberstellt.


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