Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Zweiter Band
Wilhelm von Polenz

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II.

Diese Ereignisse hatten viel Aufregendes für den jungen Geistlichen. Alles andere war vor der Herbheit der eignen Erfahrungen in den Hintergrund getreten. Fröschels tragisches Geschick erschien ihm bereits wie ein fremdes, beinahe unverständliches. Etwas wie ein Nebel hatte sich zwischen ihn und jenen gelegt – der feine Dunst, der über den weiter gleitenden Strom der Zeit sich breitet und die Züge alles Vergangenen langsam verwischt. –

Fröschel selbst brachte sich dem Freunde wieder ins Gedächtnis.

Gerland kam aus der Schule zurück, wo er der Einführung des neuen Lehrers beigewohnt hatte, da fiel ihm, als er ins Wohnzimmer trat, eine vertraute Gestalt ins Auge: Fröschel, ein Buch in der Hand.

»Das nenne ich mir eine Überraschung!« rief Gerland und streckte dem Diakonus beide Hände entgegen. – Im ersten Augenblicke wußte er nicht, wie er es mit dem »Du« halten solle, das sich neulich in einer Stimmung besonderer Erregung zwischen ihnen eingefunden hatte.

Fröschel überhob ihn dieses Zweifels. »Wenn du gestattest, bleibe ich bis zum Abend bei dir, Gerland; meine Mutter ist verreist.«

»Aber natürlich, lieber Freund! Bleibe eine Woche – bleibe ganz! Du hast übrigens außerordentliches Glück, heute habe ich Gebratenes zu Tisch – was nicht oft der Fall ist.« Gerland versuchte zu scherzen, um sich und dem Freunde über die erste gezwungene Stimmung des Wiedersehens hinweg zu helfen.

Fröschel lächelte trübe. Er zeigte mehr denn je sein ungesundes, mißgestimmtes Aussehen. »Ich habe hier ein wenig in deinem Schleiermacher gelesen.« –

»Du sagst, deine Frau Mutter sei verreist?«

»Ja, auf einige Tage. Eine Jugendfreundin von ihr liegt im Sterben und will sie vor ihrem Ende noch einmal sehen.«

Das Gespräch von neulich und das, was ihm gefolgt, wurde nicht erwähnt. Gerland kannte den leicht verletzten Charakter Fröschels jetzt zur Genüge, um jede Frage zu vermeiden, die ihn irgendwie peinlich hätte berühren können.

Ob er sich mit der Mutter ausgesprochen – ob alles beim alten geblieben war? Gerland wartete, daß der Diakonus selbst eine Aufklärung in dieser Richtung geben solle. –

Nach Tisch unternahmen sie einen gemeinsamen Spaziergang. Gerland hatte für den Nachmittag einen Besuch bei der alten Marzliebs-Hanne in Eiba angesetzt. Der Kirchenstand der Alten war schon seit einigen Sonntagen leer geblieben, und als der Geistliche sich nach ihr erkundigte, erfuhr er, daß sie ein böses Bein habe und bettlägerig sei.

Es war ein klarer Märztag, die Wintersaaten leuchteten saftig grün neben dem toten Braun der Ackerscholle. In Gräben, hinter Zäunen, am Waldrande, überall, wo die Sonne nicht hindrang, lagen Streifen körnig-schmutzigen Schnees, – wie verachtete Kleiderfetzen, die der scheidende Winter zurückgelassen. Die Salweiden an den Rainen trieben ihre samtweichen Kätzchen. Über dem Niederwald am Rand des Nadelholzes lag ein matt lilaer Schimmer; Birken und Erlen bereiteten die Frühlingstoilette vor.

Den Geistlichen erinnerten diese Lenzesanzeichen daran, daß er vorm Jahre um diese Zeit etwa nach Breitendorf gekommen sei. Er rechnete genauer nach und fand, daß er gerade heute den Jahrestag seines Einzuges in die Parochie begehe – ihm kam die Zeit viel länger vor. Er erwähnte Fröschel gegenüber diese Entdeckung.

»Und du bist zufrieden – du fühlst dich hier an deinem Platze?« meinte Fröschel.

Gerland bejahte nach einigem Überlegen. »Ich kann mit diesem ersten Jahre zufrieden sein.«

»Wohl dir! Ich will dir wünschen, daß du nie anders denken mögest.«

Jetzt würde wohl eine Aussprache folgen, dachte Gerland; aber der andere schwieg. –

In Eiba angelangt, wies Gerland den Freund nach einer Anhöhe, von der man eine schöne Aussicht auf das Thal und die umliegenden Berge genoß. Dort wollte er ihn nach kurzem Besuche bei der alten Märzliebs-Hanne wieder treffen. Er eilte dem bekannten Häuschen zu.

Man hatte die alte Frau unter dem Dache in einem Bretterverschlag untergebracht. Nebenan war Heu aufgespeichert, dessen scharfer Geruch den ganzen Raum durchdrang. Die Greisin lag in einer wurmstichigen, mit Stroh ausgefüllten Lade, die man notdürftig zur Bettstätte hergerichtet hatte. Ein schmutziges, an mehreren Stellen durchlöchertes Laken war alles, womit sie sich gegen die Kälte schützen sollte.

So fand der Geistliche seine alte Freundin vor. Er erkannte sie kaum wieder; die Züge waren verfallen, ihre Sprache glich nur noch einem Krächzen.

Dem jungen Manne krampfte sich das Herz zusammen bei diesem Anblick. Waren das Menschen, die eines ihrer Angehörigen so verkommen ließen? Noch nie hatte er das Fehlen einer Gemeindeschwester in der Parochie so schmerzlich empfunden, wie an diesem vernachlässigten Lager.

Ein Geruch herrschte in der Nähe der Kranken, der ihm fast das Atmen unmöglich machte. Sie habe ein »bieses Been«, erzählte die Alte. Mit ihren zu hautüberspannten Knochen abgemagerten Armen zog sie die Decke weg – ein unbeschreiblicher Anblick bot sich dem Auge des Geistlichen.

Gerlands erste Frage war, welchen Arzt sie gerufen habe. Die Alte wollte nicht recht mit der Sprache heraus; schließlich gestand sie ein, daß sie sich von der Tonchen, der Besprechfrau, behandeln lasse.

»Sahn Se, Herr Paster, ich kunnte Se duch gurnich mih furt uf das meschante Been, und hernachen that's och su siere schwella – und a ella Jaucha lief raus – dernoa wußt'ch mer kennen Rat ni mih, und de Tonchen hat duch sicke gute Heelsalbe. Doa hat se mer a Brinkel dervun gegahn – de Tonchen.«

»Und verspüren Sie denn irgend welche Besserung?« fragte Gerland.

»Nee, basser is es su racht no ne gewurn, Herr Paster; aber de Tonchen meenta, erscht müßt's schlachter warn – dernoa ufn Neimund würd's heelen, meent se.«

»Was soll denn Ihr Leiden mit dem Neumonde zu thun haben?«

»Nu sahn Se, Herr Paster, se hat mersch duch besprocha, mei Been, im ersta Viertel.«

»Wie, Sie haben sich besprechen lassen! – Eine christlich gesinnte Frau wie Sie, Frau Heinze, hängt solchem Aberglauben an?«

Die Alte wurde verlegen. »Nee nee, Herr Paster,« beteuerte sie, »Se müssen nich denka, mir hoan Teifelswark getrieba. Nee nee! De Tonchen is och ene Frumme, die batet immer zun lieben Gutt, weil se ees besprecha thut. Und dar lieba Gutt kann duch nischt dodergegen hoan. Ar geit 's ar duch och worim se bitt. Neilch dan Blitzerbauern sei Klenner, den hat se och besprucha – de Tonchen, dar hoat an Knuchenfraß gehoat dar Kleene, und mit den is glei basser gewurn, och uf 'n neien Mund. Und an Duchter dirft'ch's gurne erscht weesen, mei bieses Been, sunste is mit dar Heelkraft glei verspielt – verstiehn Se! A Duchter darf gurne ei's Haus, sinste is mit dar Sympathie aus – sagt de Tonchen.« –

Der Geistliche sah ein, daß hier mit guten Rate nichts auszurichten sei; er beschloß zu handeln. Da er aber Fröschel nicht allzulange warten lassen wollte, verschob er sein Eingreifen auf morgen. –

Er eilte, den Diakonus aufzusuchen. Schon von weitem fiel ihm die charakteristische Figur des Freundes auf: seine hohen Schultern, der kleine Kopf auf kurzem Halse. Er stand dort in den Anblick der Landschaft vertieft; ganz nahe kam Gerland an ihn heran, bis jener ihn bemerkte.

»Entschuldige, daß ich dich so lange habe warten lassen, lieber Fröschel. – Eine schöne Aussicht, nicht wahr?« –

Fröschel antwortete nicht. Gerland blickte erstaunt in das Gesicht des Freundes; es sah verändert aus – verräterische Tropfen erzählten, daß er geweint habe.

»Lieber Fröschel!« – rief Gerland. – Sein Herz schwoll in Mitgefühl dem Freunde entgegen.

Aber der Diakonus wandte sich mit verdüsterter Miene ab. »Wem gehört das große Haus dort?« fragte er schnell in rauhem Tone.

Gerlands Blick folgte der ausgestreckten Hand. »Das Haus – einem gewissen Doktor Haußner – Weshalb?«

»Ich wollt's nur wissen. – Übrigens, es wird kühl – wir gehen besser.« – Sie schritten bergab, auf dem Wege nach Eichwald.

Gerland brannte vor Begier, den Seelenzustand des Freundes zu erforschen. »Was fehlt dir, Lieber, – warum willst du mirs verheimlichen?« brachte er endlich heraus.

»Frage mich nicht, Gerland! – Ich verspreche dir, daß du es in Bälde erfahren sollst.« –

Die Worte waren bedeutungsvoll, fast in feierlichem Tone gesprochen worden. Gerland fühlte, daß hiernach alles weitere Forschen unzart erscheinen mußte, er hatte sich zu bescheiden.

Sie schritten am Haußnerschen Grundstücke vorbei. Gerland hatte bis zu diesem Tage, Fröschel gegenüber, des Arztes nicht mit einer Silbe erwähnt. Jetzt gab es sich von selbst, daß er dem Freunde von dieser eigenartigen Bekanntschaft erzählte.

Er berichtete die Geschichte Haußners, wie er sie von Pfarrer Valentin erfahren hatte. Gerland nahm unwillkürlich an, Fröschel müsse Interesse, ja Sympathie für den Freigeist empfinden.

Aber der Diakonus schien heute in einer abwesenden, traumverlorenen Stimmung; Gerland merkte bald, daß er seiner Erzählung wenig Aufmerksamkeit schenke. –

Beim gedämpften Schimmer der Studierlampe saßen die beiden dann noch eine Stunde beisammen. Gerland machte den Versuch, den Freund aufzuheitern; er holte sein »Seelen-Herbarium« hervor, wie er die eigenen Aufzeichnungen über die Beichtkinder benannt hatte, und las dieses und jenes vor, mit Absicht Charakteristiken wählend, die lichte Seiten aufwiesen. Es gab ja genug Gestalten in der Kirchfahrt, die eines humoristischen Anstrichs nicht entbehrten: die »Tonchen«, der »taube Tobis«, der »Gärtnergewendbauer« und andere mußten herhalten, für den wohlgemeinten Zweck, Fröschel zu unterhalten.

Der Diakonus saß auf dem Sofa und rieb, seiner Gewohnheit gemäß, die Finger gegen einander, in sich zusammengesunken, als laste eine unsichtbare Bürde auf seinen Schultern. Hin und wieder lächelte er mechanisch zum Vortrage seines Freundes.

Gerland hielt im Lesen inne, da ihm der vergrämte Ausdruck dieses bleichen, hohläugigen Gesichtes Bedenken einflößte. – Ob es jenem nicht vielleicht zu viel werde, fragte er.

Fröschel bat ihn, fortzufahren; es thue so wohl, einen glücklichen Menschen zu sehen, meinte er. Den Geistlichen berührte sein weiches, resigniertes Wesen ganz fremdartig.

Als Fröschel aufbrach, war es schon dunkel. Gerland wollte ihn ein Stück Weges geleiten, aber der Diakonus lehnte die Begleitung ab.

Feuchtwarme Nachtluft empfing sie, als sie aus dem Pfarrhause traten. Der Himmel war bedeckt mit Wolkenfetzen – es lag Regen in der Luft.

Gerland öffnete die Gartenpforte nach der Dorfstraße hinaus; noch eine Weile blieben die Männer beieinander stehen – Fröschel schien sich schwer von dem Freunde zu trennen.

Plötzlich ergriff er Gerlands Hand; es war, als kämpfe er mit einem außerordentlichen Entschlusse. – Ein Bekenntnis – eine Frage – irgend ein Geheimnis schien sich losringen zu wollen von seiner Seele.

Und – es kam doch nicht dazu; er ließ die Hand wieder fahren und verschwand mit einem leisen »Lebwohl!« in der Dunkelheit.

Gerland blieb wie gebannt auf seinem Platze stehen. In der finsteren Nacht war nichts zu erkennen; nur als jener durch den Lichtkegel schritt, den ein spät erleuchtetes Fenster auf die Dorfstraße warf, sah er die Umrisse der bekannten Gestalt noch einmal flüchtig.

Wunderbar scharf prägte sich gerade dieses Bild dem Gedächtnisse Gerlands ein, so daß es unzertrennbar für ihn wurde mit der Persönlichkeit Fröschels und ganz von selbst emportauchte, so oft er später an seinen armen Freund zurückdachte.



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