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Wiener Reimchronik 1945

I.
Der Abstand

Deinem Blick zieht sich ein Schleier vor,
Viel zu bang bist du, um auszusagen,
Siehst du's brennen wie zu Neros Tagen,
Hörst du's donnern schauerlich ans Tor;

Stehst du eingemauert in die Not,
Packt die Angst dich an mit Drachenkrallen,
Spürst du die Geschosse sausend fallen,
Liegt zu deinen Füßen einer tot.

Stumm erträgst du, steinernen Gesichts,
Was du nur aus Sagenbüchern kanntest,
Eine ferne Vorzeit-Fabel nanntest.
Stumm erträgst du's und du kündest nichts.

Eines ungeheuren Schicksals Droh'n
Läßt du dir vom Alltag leise lindern.
Da der Schlachtlärm brüllt, spielst du mit Kindern,
Issest ruhig deine Nacht-Ration.

Aber da dich forttrug nur ein Schritt,
Baut sich das Entsetzen auf zu Bildern,
Und du wagst in Worten abzuschildern,
Was dein Herz an Unerhörtem litt.