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VIII.

Beinahe zwei Wochen waren seit dieser merkwürdigen Begebenheit vergangen, Tag für Tag in Friede und Eintracht. Der kleine Professor Cyliax war längst wieder gesund geworden und hatte sich schon eine Anzahl Strafpredigten von Mr. Williams für seine »selbstmörderische Manscherei mit dem Giftzeug«, wie der Kalifornier die wissenschaftlichen Untersuchungen des Gelehrten zu nennen pflegte, gefallen lassen müssen. Sämtliche Reisende waren nun seemüde geworden und bestürmten fortwährend die Offiziere und auch die Matrosen mit Fragen, wann man endlich ankommen würde.

Inzwischen hatte es auch ein paarmal ganz gehörig gestürmt, auch zwei Gewitter hatten die Passagiere erlebt, und so war auch diese Ozeanfahrt eigentlich ganz geziemend und vorschriftsmäßig verlaufen. –

Der »Rostand« war am zweiundzwanzigsten März von Yokohama abgefahren, hätte also eigentlich – da es auf allen Listen stand, er brauchte höchstens sechzehn Tage – am siebenten April in San Franzisko sein können. Heute schrieb man aber schon den achten, und noch nichts war zu spüren, was an Landung auch nur erinnert hätte.

Die beiden einzigen Personen auf diesem Schiffe, die gar keine Unruhe und Ungeduld zeigten, waren Eduard und Mr. Williams. Der Kalifornier fühlte sich infolge seiner prächtigen Gesundheit und seines heiteren Gemütes, Eigenschaften, die noch durch seine ruhige Lebensphilosophie gehoben wurden, überall wohl und zuhause, wo es nur Licht und Luft, schöne Mädchen und guten Wein gab, und Eduard begrüßte diesen wochenlangen Müßiggang als eine willkommene Erholung nach angestrengter Arbeit und zugleich als Stärkung vor seinem zukünftigen, gewiß nicht leichten Wirken. So bekümmerte er sich zunächst gar nicht um die Ankunft des Schiffes, und erst als Klärchen mehrmals in ihn drang, dies für sie zu tun, damit sie sich doch die Landungs-Toilette zurechtmachen könne, wandte er sich endlich an seinen Freund Degenrot, den er – wie er erst jetzt merkte – in den letzten Tagen arg vernachlässigt hatte, hauptsächlich wegen der fortwährenden interessanten Gespräche mit dem kleinen Professor. Aber der biedere Offizier ließ sich bei der neuen Annäherung des Ingenieurs auch nicht das geringste merken: er war gerade wie am Anfang der Reise freundlich, dienstbereit und – glücklich.

»Übermorgen, mein lieber Junge, also am zehnten, kommen wir an«, antwortete er auf Eduards diesbezügliche Frage, »vorausgesetzt natürlich, daß alles bis zu Ende glatt verläuft! Wahrscheinlich aber bekommen wir morgen schon den Lotsen, und das ist schon immer für die meisten Passagiere so gut wie die Ankunft selbst.«

Diesen Bescheid teilte Eduard sogleich seiner Frau mit, die sich darüber außerordentlich freute und ihre ganze gute Laune wiederfand, die sich in der jüngsten Vergangenheit etwas getrübt hatte, hauptsächlich wohl deshalb, weil sie ihr »Eddy«, den die Persönlichkeit des Kaliforniers mehr und mehr anzog und fesselte, wirklich ein bischen viel allein gelassen hatte. Aber nun mit der frohen Aussicht vor sich hatte sie bald alles vergeben und vergessen, und als sie heute abend vor dem Schlafengehen beide noch ein Stündchen traulich und allein in ihren Deckstühlen beieinander saßen und die See so kosend rauschte, der Mond so friedlich herniederschien, wurde ihnen auf einmal so warm und weich ums Herz –, sie nahmen sich vor, ihr Leben recht still, zufrieden und glücklich zu gestalten. Unwillkürlich suchten und fanden sich ihre Hände, und ohne auch nur ein Wort zu wechseln, dachten jetzt beide an ihre erste Begegnung in einem der schönsten Gärten Tokios, der von rosigen Kirschblüten überzuwallen schien; dann tauchte ihr Verlobungstag noch einmal auf, dann die Hochzeit – o, was für törichte Menschenkinder wären sie doch, sie, die Gesunden, die Guten, wenn sie sich je in Zukunft auch nur eine Stunde durch kindische Empfindsamkeit, kleinliche Mißverständnisse und ähnliche Albernheiten verkümmerten! Nein, sie waren beide treue, aufrichtige Seelen, sie hatten sich von Herzen lieb, also wollten sie fortan auch alles tun, einander nur Freude zu bereiten! – Die Luft Kaliforniens fing schon an, bei dem Paare zu wirken! – Eduard stand auf und küßte sein Klärchen innig auf den Mund, als er sich aber wieder hinsetzen wollte, zog plötzlich ein unendliches Weh, etwas wie eine sichere Todesahnung, durch sein Herz.

Was war das? Woher kam ihm dieser jähe Wechsel seiner tiefsten Gefühle? – Ach, vergebens fragt der Mensch so die stumme Unendlichkeit: nie hat es darauf eine Antwort gegeben, und nie wird es eine geben!

Zum Glück dauerte Eduards rätselhafter Zustand auch nur einen Augenblick; er kann auch nie viel länger währen, denn hielte er nur einige Minuten an, so wäre die Menschenseele vernichtet! – In der besten Stimmung zog sich das junge Paar endlich zur Nachtruhe zurück.

Am nächsten Tage, ganz wie es der zweite Offizier vorhergesagt hatte, gegen Mittag, kam das erste Pilotenboot, dessen riesiges, rotbraunes Segel die Nummer siebenundzwanzig zeigte, in Sicht, und sofort ließ ihm Degenrot signalisieren, heranzukommen.

Nun gab es allerdings ein frohes Schauspiel für die Reisenden! Wie das Boot mit den vier bärtigen, ganz in Gummi gekleideten Männern sich immer mehr näherte, wie der »Rostand« grollend hielt, die Strickleiter, einer Schlange ähnlich, hinunterzappelte, die einer der vier Männer, schon ein Greis mit einem schneeweißen Barte, aber einem Gesicht so frisch und rot wie ein Apfel, sich von seinen Gefährten loslösend, bestieg, wie ein Eichkätzchen heraufkletterte und endlich – ein grotesker Anblick – rittlings auf der Brustwehr saß, – ah, das war neu, lustig und ermutigend! Und alle Passagiere gerieten nun in eine wahrhaft rosige Laune: die glückliche Ankunft war ihnen ja nun sicher, – der Lotse war ja auf dem Schiffe! –

»Also nun hören Sie noch einmal, Mr. Treubach,« sagte am Abend desselben Tages Mr. Williams zu Eduard, – morgen werden wir alle nicht Zeit haben, einander zu sehen und zu sprechen. – Wenn unser Schiff endlich im Hafen von San Franzisko anhält, und Sie sehen mich nicht, dann verlieren Sie nur weiter keine Zeit, sondern übergeben sogleich nach der Revision der Steuerbeamten Ihr sämtliches Gepäck dem Expreßagenten und lassen es nach Washington Street Nummer drei – nicht vergessen – Nummer drei! – hinschaffen; dann besteigen Sie mit Ihrem Frauchen die Elektrische – jedes Kind sagt Ihnen, welche – und fahren nach meinem Hause! Dort werden Sie schon alles vorbereitet finden und mich selbst auch bald wiedersehn, und nun einstweilen: Gottbefohlen!« Und fort war er.

Am nächsten Morgen wurde heftig an Eduards Tür geklopft, und als dieser noch ganz schlaftrunken fragte, was es denn gebe, ertönte Degenrots muntere Stimme: »Auf, Du Siebenschläfer! Raus! Du versäumst ja das allerschönste Bild! Das ›Goldene Tor‹! Mach schnell!«

Das ließ sich Eduard nicht zweimal sagen, und auch Klärchen kleidete sich nun in aller Eile an. Dann stürmten beide hinauf aufs Deck, wo sie schon sämtliche Passagiere mit der obligaten Bewunderung in Haltung und Miene das Bild vor sich betrachtend fanden.

Und doch hätte diese Bewunderung nicht nur so hergebracht und pflichtschuldig zu sein brauchen, sondern wirklich aus einem staunenden, tief beglückten Herzen quellen können; denn der Anblick, der sich ihnen darbot war entzückend, unvergleichlich! Die schönste Frühlingssonne bestrahlte die hohen, schroffen Felsen des schmalen, kanalartigen Einganges, und diese Felsen erschienen in der klaren, zauberischen Beleuchtung wirklich wie geronnenes Gold!

Die Reisenden im Zwischendeck, sowie auch die Matrosen füllten in diesem Augenblick die Luft mit einem donnernden »Hurrah«! und das wirkte so wohltuend und magisch, daß nun auch die erste Kajüte jubelnd in diesen Zuruf einstimmte.

»Sehen Sie, Frau Treubach, dort links das Ding da, das so aussieht, als ob es im nächsten Augenblicke in die Flut stürzen wollte, das ist das weltberühmte ›Cliff House‹«, sagte jetzt der zweite Offizier, der sich zu dem Paare gesellt hatte, »und das gar nicht weit davon, das sind die womöglich noch berühmteren ›Seal Rocks‹ mit ihren Hunderten von scheinbar so plumpen und doch tatsächlich so gewandten Seelöwen darauf; hören Sie doch nur, wie das Bellen dieser Tiere schon jetzt herüberklingt!«

Der Offizier hätte seine Erläuterungen gewiß gern noch fortgesetzt, aber jetzt ertönte über ihm, auf der Kommandobrücke, ein so zorniges Schnauben und Grunzen, daß Degenrot förmlich zusammenschrack.

»Ich muß auf meinen Posten!« sagte er enteilend, »im Hafen sehen wir uns wieder!«

Klärchen aber betrachtete nun mit dem größten Interesse diese fetten, ungeschlachten Seetiere, die sich bald von ihrer Höhe in die lautaufklatschende, nunmehr goldiggrüne See stürzten, bald wieder – oft mit einem großen Fisch im Maule – schwerfällig an den Felsen emporkletterten. Auch das Fell dieser Robben glänzte wie geschmolzenes Gold.

Noch einmal schien der donnernde Jubelruf den blauen Himmel spalten zu wollen, als der »Rostand« nun wirklich durch das »Goldene Tor« einfuhr und die Reisenden nun endlich die herrlich Bucht von San Franzisko und die Stadt selbst, das schöne, langersehnte »Frisko« vor sich liegen sahen! Ja, dieses jetzt warm beleuchtete, anscheinend noch friedlich schlummernde Häusergewirr schien wahrhaftig diesen demokratischen, zwanglosen Geist auszuströmen, den der kleine Professor neulich als » free-and-easy«, » whole-soul«, » go-as-you-please« bezeichnet hatte; es erschien schon jetzt wie eine Stadt voller Frohsinn, Lebenslust und echter, aus einem tiefen Herzen quellender Kameradschaft!

Aber nun erscholl Degenrots Stimme laut von der Brücke herab: »Alle Herrschaften mögen sich jetzt zur Landung bereithalten!« und dann kam das Abschiednehmen, bei vielen ja mit ein bißchen echter Wehmut vermischt, bei den meisten aber eine kalte, leere Förmlichkeit: Wiedersehen wurden in Aussicht gestellt, von denen man doch im stillen heiß hoffte, daß sie nie zustandekommen würden, Grüße wurden aufgetragen, von denen man im voraus wußte, sie würden nie bestellt werden, und dann war alles vorüber: Jeder hatte nun wieder seine eigenen Interessen, suchte für sich womöglich das allerbeste Stück vom Brote dieses Lebens abzuschneiden, für sich selbst am meisten Glück und Gut einzuheimsen, – die andern mochten nur sehen, wo sie blieben!

Eduard konnte sich nicht genug wundern, daß er Mr. Williams nirgends sah; als er aber dem zweiten Offizier, der noch einmal schnell zu den Eheleuten gekommen war, um sich ebenfalls zu verabschieden, sein Erstaunen ausdrückte, erklärte ihm dieser, daß der Kalifornier heute in aller Frühe, während er, Eduard, noch schlief, mit dem revidierenden Sanitätsdampfer, der den »Rostand« weit an Schnelligkeit übertraf, nach San Franzisko gefahren sei.

Während nun die andern Passagiere den soeben erschienenen Steuerbeamten Rede und Antwort stehen mußten, und er selber zu warten gezwungen war, bis sein Name an die Reihe kam, stand Eduard mit Klärchen an seiner Seite und blickte leuchtenden Auges auf alle die Wunder rings um sich her. Welch einen bunten, köstlichen Anblick gewährten nicht allein diese unzähligen Schiffe aus aller Herren Ländern! Diese palastähnlichen Schnelldampfer, dann die riesigen Viermaster, die mit ihren sich in die Wolken bohrenden Masten Himmel und Meer verbinden zu wollen schienen! Prachtvolle Briggs, eine nach der andern dem »Goldenen Tor« zur Rückkehr auf die See zustrebend, mit gebauschten, leuchtenden, einer Schwanenbrust ähnlichen Segeln, und dann ein ganzer Wald von Yachten und zierlichen Segelboten, – alles, alles wie froh erwärmt und durchleuchtet von der strahlenden kalifornischen Sonne! –

Aber jetzt hörte Eduard seinen Namen rufen, und er eilte hinunter in den Speisesaal. Bald hatte er den ihm vorgelegten Fragebogen der Steuerbehörde gewissenhaft ausgefüllt, und sowie auch das vollbracht war, drückte er noch einmal dem kleinen Naturforscher, der ihm aufs Neue das Versprechen abnahm, ihn in Palo Alto zu besuchen, warm die Hand und dann war er vorläufig am Ziel: er befand sich in San Franzisko!


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