Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ganz früh am nächsten Morgen erschien der Kapitän Davenport – hatte dieser Mann denn gar keinen Dienst? – schon wieder in der Villa der Geschwister und bot sich an, den jungen Bergmann von neuem auszuführen.
»Heute einmal das Schwarze, die Nachtseite dieser Stadt!« hatte er ihm beim Frühstück mit funkelnden Blicken zugeflüstert, und Mr. Williams, der dies mit seinem scharfen Gehör doch vernommen hatte, rief über den Tisch hinüber: »Nehmen Sie nur ruhig an! Ich fahre mit unseren drei Damen nach dem Golden Gate Park, dem Strande und dem Cliff House; da vergeht fast der ganze Tag!« Und so willigte Eduard ein.
»Wir machen alles zu Fuß ab«, sagte der Hauptmann, als sie endlich im Freien waren, »da können wir viel gründlicher beobachten«.
Und sie gingen ganz langsam die lange, schöne Washington Street hinab.
Wie herzlich freute sich Eduard, als sie wieder vor dem zurückliegenden Häuschen inmitten des reich mit Blumen geschmückten Gartens anlangten, dieser lieben Hütte, mit der großen goldenen Traube und dem Schilde darunter: » California Wines«! Er erzählte nun seinem Gefährten von seiner denkwürdigen Begegnung mit dem Neger am Tage seiner Ankunft, und der Offizier lächelte stolz und glücklich vor sich hin, als erfüllte ihn die gastfreundliche Handlung des Schwarzen mit der innersten Befriedigung. Auch er schien – gerade wie Williams – diese Stadt fast abgöttisch zu lieben, und Eduard konnte eigentlich nicht so recht begreifen, warum ihm Davenport heute das dunkelste San Franzisko zeigen wollte; – aber, so dachte der Ingenieur schließlich – tut er es, damit sich der Glanz all der übrigen Schönheiten um so mehr erhöhe. – –
»Hier sind wir am Telegraf Hill«, unterbrach Davenport sein stilles Sinnen, »hier fängt das »Lateinische Viertel« an, aber ehe wir hineintauchen, sehen Sie sich doch einmal unser Frisko an; ist es nicht herrlich, einzig?«
Und ganz ähnlich, wie vorgestern Franziska an ihrem Fenster, breitete er mit einer wahrhaft schwärmerischen Geberde die Arme gegen die zu seinen Füßen liegende Stadt aus.
Wieder erstaunte Eduard über diese Gefühlsinnigkeit bei einem sonst so rauhen Soldaten; als er aber wirklich seine Blicke aufmerksam über das in der schönsten Morgensonne strahlende und funkelnde Häusermeer schweifen ließ, über all die anmutigen blumenreichen Hügel, die romantischen Hänge, die geheimnisvollen Schluchten, – da mußte er sich selbst zugestehen, daß er bisher auch nicht annähernd so schönes gesehen habe. Dazu noch diese balsamische schöne Luft, ganz in der Nähe das jetzt sanft glänzende blaue Meer, der beinahe veilchenfarbene Himmel, – nein, wer hätte diese Stadt mit der Zeit nicht heiß lieben müssen! – Aber das dunkle Gesicht des Offiziers war jetzt ernst geworden, und mit gedämpfter Stimme fragte er: Haben Sie einen Revolver bei sich?«
Und als nun Eduard verwundert bejahte, fuhr der andere fort: »Es ist gut so! Man kann nie wissen, wie er einem zustatten kommt; dieses Gesindel hier von Mexikanern, Griechen und Italienern fürchtet sich vor nichts so wie vor einer Feuerwaffe, der kalte Stahl in Gestalt von Messer und Dolch ist ja ihr tägliches Spielzeug. Unsere Wanderung kann aber auch höchst harmlos und unschuldig verlaufen, wir wollen 'mal sehen!«
»Wir wollen nun hier gleich in die Battery Street einbiegen«, Hub Davenport nach einem Weilchen wieder an, während sich seine Miene mehr und mehr verdüsterte, »bald werden Sie unser Frisko nicht mehr erkennen!«
Und so war es wirklich!
Mit Beklemmung bemerkte Eduard bald, daß die klare duftige Luft, die er noch soeben mit Freuden geatmet hatte, mehr und mehr einer faden, übelriechenden Atmosphäre wich, daß statt der blauen und goldenen Reflexe, die vorhin alles: die Gebäude, die Hügel, die Bäume, die Menschen verschönernd umspielt hatten, allmählich eine trübe, graue Farbe, die Farbe des Niedrigen, des Nutzlosen, des – Verbrechens alle Gegenstände zu umkleiden schien. Nach und nach trafen beide Männer Bauplätze an, wo man wohl einmal begonnen hatte, zu bauen – vielleicht ein Wohnhaus, eine Schnapskneipe, eine Kirche, einen Tempel der Schande, – wer hätte jetzt noch angeben können, was? – ein Unternehmen, das man gewiß wegen Geldmangel oder eines jähen Todesfalls ohne weiteres aufgegeben hatte. Nun waren die roh aufgeführten Stockwerke wieder eingestürzt, der verwitternde Einfluß von Luft und Regen und dem täglich wehenden, scharfen Tradewind fing an, alles dem Erdboden wieder gleich zu machen, und die Bewohner dieser Gegend hatten sich diese Plätze als willkommene Abladestellen für ihren Kehricht, Küchenabfall und sonstigen Unrat erwählt. Nach all den Herrlichkeiten, die Eduard bis jetzt gesehen hatte, machten sie einen geradezu trostlosen Eindruck auf ihn, diese Orte! Ganze Wolken von häßlichen Schmeißfliegen: blauen, grüngoldigen und gelben, flogen auf die Wanderer ein, wenn sie an solchen Schuttplätzen vorübergingen.
»Hier ist eine berüchtigte Opiumhöhle,« rief jetzt der Hauptmann seinem Begleiter zu, während er vor einem niedrigen, schmutzigen Gebäude stehen blieb, »hätten Sie Lust, einzutreten und ein Pfeifchen zu versuchen?«
»Danke verbindlichst!« antwortete Eduard, »aber ich kenne diese elenden Höhlen sehr gut, von Tokio aus!«
»Es ist ja wahr,« sagte nun der Offizier, »das vergesse ich immer wieder!«
»Betrachten Sie doch jetzt nur diese lange Doppelreihe von zweirädrigen Karren mit ihren schiefen, längst verbrauchten Rädern,« ließ sich Davenport nach einer kurzen Pause wieder vernehmen, »und sehen Sie sich einmal genau ihre Führer an, diese zerlumpten Neger, Mexikaner und Italiener! Haben Sie jemals prächtigere Banditen- und Gurgelabschneiderfratzen gesehen? Möchte man solch einen Kerl nicht ohne weiteres mit einer Kugel von seinem Bocke herunterholen? Und was Sie hier an der Oberfläche sehen,« fuhr er auf einmal ganz dicht am Ohr Eduards und sehr leise fort, »ist noch lange nicht das Schlimmste: ich weiß genau, daß nur wenige Meter unter diesem hügeligen Pflaster sich feuchte, finstere Gänge hinziehen, wo unsere Verbrecherbanden ihr lichtscheues Wesen treiben, von wo aus sie ihre verruchten Gewalttaten ausführen! Auch die Polizei weiß das, tut aber nichts, aus feiger Liebe zu ihrem eigenen armseligen Leben; man gebe mir nur einmal, nur für ein paar Tage die volle Gewalt, und ich wollte unter dem nichtswürdigen Pack schon aufräumen!«
Er war herrlich anzusehen bei diesen Worten! Seine hohe, kraftvolle Gestalt erschien jetzt noch größer, sein braunes Gesicht war dunkelrot geworden, und in seinen schwarzen Augen loderte der kühnste Mut, die rücksichtsloseste Entschlossenheit; Eduard hatte in diesem Augenblicke deutlich das Gefühl, daß dieser Mann wohl ein guter Freund, doch ein höchst gefährlicher, unerbittlicher Gegner seine könne. – Nach einer Weile gewahrte Eduard eine ganze Anzahl fetter Mexikanerinnen, so fett und dabei so schmutzig und gedunsen, daß es ihm schien, als wären sie durch die dicke, üble Luft dieses Ortes so aufgequollen. Dann folgten Gruppen von faulenzenden, mexikanischen Kerlen, düster blickenden Italienern und verkommenen unheimlichen Griechen, die irgend einen sonderbaren Handel trieben, einen bisher nie gesehenen Kram feilboten; und zwischen diesen drohenden, mörderischen Kerlen und ekelhaften Weibern zeigten sich hin und wieder junge, freche Mädchen in Kleidern von schreienden Farben, meist einem geradezu kränkenden Violett; diese niedrigen und niedrigsten Dirnen, mit ihren beleidigenden Farben, schienen gleichsam die graue, eintönige Trübsal des Ortes in bestimmte Sätze abzugrenzen. Niemand unter diesem Gesindel schien auch nur die geringste Beschäftigung zu haben; alle saßen, standen oder hockten umher, mit jener souveränen Ruhe im Gesicht, die sowohl der sichere Besitz wie auch die gänzliche Besitzlosigkeit verleiht.
Eben wollte Eduard seinem Begleiter sagen, daß ihn dieser Teil der ihm nun schon so liebgewordenen Stadt wirklich nicht so sehr interessierte, und daß er viel lieber mit den Damen im Golden Gate Park lustwandeln möchte, als er zu seiner höchsten Verwunderung aus einem der niedrigen, sonderbaren Häuser – den Professor Swing heraustreten sah! Sein Erstaunen war deshalb so stark, weil man ihm im Hause seines Wirtes von allen Seiten betont hatte, daß dieser Mann der am besten bezahlte Prediger sei und die allervornehmste Gemeinde von ganz San Franziska habe! Wie kam er in diesen dunklen, verbrecherischen Stadtteil?
Aber weder der Professor noch auch Davenport zeigte die geringste Überraschung. Im Gegenteil: der Offizier flog freudig auf den ehrwürdigen Greis zu, drückte seine beiden Hände und rief wie bewundernd aus: »Nun, Professor, sind Sie wieder einmal in den Rinnstein hinabgestiegen, um zu sehen, ob sich nicht doch eine verlorene Perle eingefunden hat?«
»Jawohl, Kapitän,« entgegnete der Prediger mit heiterer Ruhe, »gesucht und auch gefunden! Kommen Sie nur beide mit, wir gehen noch einmal ins Haus zurück!«
Und er schritt voraus, klopfte an eine halbverfallene Tür, worauf drinnen ein leises: » a dentro Herein!!« ertönte.
Nun traten alle drei Männer ein und gewahrten zunächst – gar nichts! Es war dunkel und öde in diesem kleinen Raume, der nichts zu beherbergen schien als eine stumme, große Klage über das Wehe der Menschen, eine grimmige Verwirrung und Verhöhnung des üppigen, lüsternen Lebens da draußen, da unten, im brausenden, zählenden, wollustatmenden San Franzisko!
Nachdem sich Eduards Augen allmählich an die Finsternis rings um ihn her gewöhnt hatten, erblickte er endlich auf einem Strohsacke liegend ein wunderliebliches, mexikanisches Mädchen von etwa achtzehn Jahren, eins jener Kinder der Niedrigen, der Enterbten, Kinder, deren Gesichtchen durch Not, Entbehrungen aller Art, hauptsächlich aber durch den daraus emporgewachsenen Scharfsinn so verfeinert und veredelt erscheinen, daß diese Ärmsten den oberflächlichen Reichen und Mächtigen dieser Erde immer wieder zu dem egoistischen Ausspruch dienen: Redet mir doch nicht von den ganz armen Leuten! Wie kann es den Leuten so schlecht gehen, wenn sie so hübsche Kinder haben?! –
Zwei schwere Flechten blauschwarzen Haares fielen dem holden Kinde zu beiden Seiten ihres abgemagerten, bräunlichen Gesichtes nieder, und aus ihren großen, schwarzen Augen, mit denen sie jetzt die Männer ängstlich forschend anstarrte, sprach eine Welt von keimenden Gedanken und Gefühlen.
»Fürchte Dich nicht, Anita,« ertönte jetzt des Predigers volle Stimme, »ich bin's, Swing, ich und einige gute Freunde; Deine neue Aufwärterin, für deren reine und wohlwollende Absichten ich Dir stehen kann, wird sogleich hier sein. Und dann, hörst Du, Anita, mach' nur, daß Du recht schnell gesund wirst, und sobald Du so weit bist, kommst Du zu mir in mein Haus!«
»O, Sie sind zu gut, zu gut!« schluchzte das Mädchen, »das verdiene ich ja gar nicht!«
»Doch verdienst Du es!« erwiderte der Prediger, »ein gutes, reines Mädchen verdient alles, das Höchste und das Beste! Du hast viel, viel gelitten, mein armes Kind,« fuhr er fort, während das schöne Kind unter Tränen selig lächelte, »aber der liebe Gott stehe mir bei. Dein Leben von nun an besser zu gestalten. Aber jetzt rege Dich nicht mehr auf, ganz hübsch ruhig! Du weißt, was der Doktor gesagt hat: je ruhiger, desto eher gesund; leb wohl, Anita!«
Das Mädchen erwiderte kein Wort, sie war wohl überwältigt von ihren stürmenden Gefühlen; aber die drei Männer fühlten deutlich ihre glühende Dankbarkeit den ganzen Raum durchströmen.
»Armes Opferlamm,« Hub Swing an, als sie wieder auf der Straße waren, »fast wäre sie der schändlichen Tücke ihrer Mutter, – leider ihrer eigenen, leiblichen Mutter zur Beute geworden. Dieses entartete Weib wollte sie nämlich einfach verkaufen, dem ersten besten Wüstling, der ihr nur fünfhundert Dollars böte, mit Leib und Seele verschachern!«
»Ach, unmöglich!« rief Eduard ungestüm aus.
Aber der Hauptmann flüsterte ihm mit verdüsterter Stimme zu: »Doch sehr möglich! In diesem Viertel soll das fast tagtäglich Vorkommen!«
Der Professor schien beide gar nicht beobachtet zu haben, denn er fuhr mit seiner schönen, so wohltuenden Ruhe fort: »Ich hatte die beiden schon seit längerer Zeit beobachtet, weil ich die Alte schon immer im Verdachte eines unlauteren Lebenswandels hatte, heute morgen aber, ganz früh, habe ich sie auf frischer Tat ertappt! Zum Glück hatte ich mir gleich zwei Geheimpolizisten mitgenommen, die sowohl die nichtswürdige Verkäuferin wie auch den ebenso schamlosen Käufer sofort festnahmen!«
»Bravo, Professor, bravo!« rief Davenport ganz begeistert aus, »das sieht Ihnen ganz ähnlich! Unsre Stadt hat wahrhaftig den berechtigtsten Grund, stolz auf Sie zu sein!«
Wieder schien ihn der Prediger nicht zu hören.
»Wie ich nun die arme Kleine beruhigte und tröstete, stellte sich nach und nach heraus, daß diese entmenschte Mutter sie ihrer Weigerungen wegen, sich den Wünschen der Megäre zu fügen, auf das roheste mißhandelt hat; nun, an mir soll es nicht fehlen, alles wieder gut zu machen!«
Das Gesicht des Greises war in diesem Augenblicke erhaben und wie verklärt geworden; eine tiefe Seelenfeier durchleuchtete es. Die beiden andern sahen es, und sie drückten ihm beide stumm und innig die Hand.