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Vor der Haustür blieben sie stehen.
Falk machte auf. Es war so schwer, das Schlüsselloch zu finden.
Endlich!
Sie trat in den Hausflur. Er folgte ihr. Sie blieben wieder stehen.
Was wollte er nur?
– Gute Nacht, Falk.
Er hielt ihre Hand fest und seine Stimme bebte.
– Mir ist, als müßten wir einen herzlicheren Abschied voneinander nehmen.
Die Tür war halboffen. Das Laternenlicht fiel in breitem Streifen auf ihr Gesicht.
Sie sah ihn so sonderbar, so sonderbar erstaunt an. Er fühlte Scham.
– Gute Nacht ...
Er hörte den Schlüssel von Innen klirren. Er horchte. Sie ging leicht und schnell die Treppe hinauf.
Nun ging er ein Stückchen.
Plötzlich schrie er unwillkürlich aus vollen Leibeskräften.
Was war denn das?
Wollte er seine Kraft in menschlichen Unwillkürlichkeiten auslösen?
Herrlich! Ein herrlicher Esel war er. Unangenehm! Wie täppisch dies mit dem herzlicheren Abschied!
Nein, wie komisch, wie unendlich komisch mußte sie ihn finden.
Er, der große, höhnende Verächter, plötzlich verliebt, wie ein kleiner Schulbube.
Gott, war das unangenehm, und noch diese Erinnerung dazu, die ihm plötzlich so peinlich wurde.
Er war damals volle 13 Jahre alt, als er die erste erotische Anwandlung bekam. Hatte er sich großartig gefunden! Diese tiefen, geistreichen Gespräche, die er mit dem Mädchen über Schiller und Lenau führte. Und die gelben Glacés, die er sich anschaffte ...
Da, eines Abends hatte ihn der Ordinarius auf einem Tête-à-tête ertappt.
Und am nächsten Tage ... wunderbar!
Es klingelte. Es war Zehn-Uhr-Pause.
Alles drängte hinaus.
– Falk, Du bleibst hier.
Ja, nun kam es.
– Komm her!
Er ging ans Katheder.
– Hol den Stuhl herunter!
Er holte ihn.
– Leg Dich!
Er legte sich.
Und nun sauste das starke Rohr durch die Luft, schwirrte und pfiff, immer schneller, immer schmerzhafter ...
Tat das weh!
Was lachen Sie, lieber Herr! Das ist eine große Tragödie. Ich habe selten so seelisch gelitten, wie damals ... Es ist vollendet dumm von Ihnen, daß Sie lachen. Verstehen Sies nicht, daß dies das Leben ist? Das Lächerliche neben dem Tragischen, das Gold im Kote, das unnennbar Heilige im Trivialen –ja, sehen Sie, das verstehen Sie nicht.
Hegel, der alte preußische Philosoph Hegel, er war ein klügerer Mann. Kennen Sie überhaupt Hegel? Ja, sehen Sie, seine ganze Philosophie ist ja nur die Frage, warum die Natur zu ihren herrlichsten Zwecken so unästhetische Mittel braucht, so z. B. das Geschlechtsorgan, das zum Zeugen und zur Absonderung von Stoffwechselprodukten dient.
Selbstverständlich ist es unendlich komisch, lächerlich komisch, ekelhaft komisch, aber so ist immer das Heiligste.
Falk geriet in Wut.
Also machen wir uns das klar: Die Liebe, ach ja, die Liebe: Zuerst ein seltsam verwirrtes Gesicht, dann glühende Faunsaugen, ferner Zittern in den Händen, wie wenn man meilenweite Depeschen telegraphierte ... Dann: Senkungen und Hebungen in der Stimme wie beim Skandieren Horazischer Oden, bald heiser, bald piepsend ... Dann eine Menge unwillkürlicher Bewegungen: Zugreifen und Zurücktaumeln, nicht ganz sicher auf den Beinen stehen, keuchen und prusten ... ist das nicht lächerlich? Ist das nicht im höchsten Maße lächerlich?
Und mir gegenüber sitzt Fräulein Isa mit ihrem liebenswürdigen, wissenden Lächeln, mit ihrem seltsamen Blick, und ermuntert mich dazu.
Nun, auf das Mimen versteh ich mich ausgezeichnet. Hab ich etwa heute nicht gut gemimt?
Na eben, weil ich eben ein sogenannter »differenzierter« Mensch bin, so verfließt alles in mir ineinander, Absicht und Echtes, Bewußtes und Unbewußtes, Lüge und Wahrheit, tausend Himmel und tausend Erden wogen ineinander über, aber trotzdem bin ich lächerlich.
Dagegen läßt sich eben nichts tun, absolut nichts. Es ist ein »ehernes« Gesetz, eins von den ehernsten, daß der Mann, ehe er seinen komischen Zweck erreicht, erst tausendmal lächerlich von dem Weibe seiner Liebe befunden werden muß ...
Er stockte plötzlich.
Er hatte also Schamgefühl ... Ja, ja, Alles wie bei kleinen Schulbuben. Sie fühlen sich ja auch blamiert, wenn sie vor ihrer Flamme vom Pferde runterfallen.
Aber das Weib war ihm ja fremd, ganz, ganz fremd. Er wußte nichts von ihr. Nicht eine Linie konnte er in das Geheimnis dieses verschleierten Lächelns, dieses wissenden, liebenswürdigen Wesens eindringen.
Und in ein fremdes Weib, von dem er nichts wußte, hatte er sich verliebt.
Jäh. Mit einem Ruck. In einer Sekunde.
Heda! Tausend Experimentalpsychologen her! Ihr, die Ihr Alles wißt, ihr Seelenanatomen, ihr purs et secs Analytiker, kommt her, macht mir das klar ...
Also die Tatsache: Ich habe mich in einer Sekunde in ein Weib verliebt, zum ersten Male verliebt.
– Weil mein sinnlicher Trieb erwacht sein sollte? Sie irren sich; der war schon längst wach.
Weil ich mir etwas gesagt haben wollte? Ich habe mir nichts gesagt. Mein Gehirn hat damit nichts zu tun gehabt. Ich hatte keine Zeit zu reflektieren. Übrigens schämen Sie sich. Sie, die Sie eine Physiologie der Liebe, eine so famose Physiologie, geschrieben haben, sollten wissen, daß das Geschlecht nicht reflektiert. Es ist ein dummes, taubes Tier. Borniert, flegelhaft und komisch.
Übrigens ist es mir ganz, ganz gleichgültig. Wenn man im Juni 26 Jahre alt werden soll, dann fragt man nicht mehr nach den Ursachen, das Warum schmerzt nicht mehr. Man nimmt Alles als eine gegebene Tatsache. Ja, das tut man.
Er sah sich um. Er war inzwischen auf einem öffentlichen Platze angelangt, den er nicht kannte.
Sehr schön.
Er setzte sich auf eine Bank, sein Kopf war ein wenig schwer, wahrscheinlich hatte er zu viel getrunken, aber er hatte keine Ruhe.
Es arbeitete Etwas in ihm schon den ganzen Abend. Ein unsagbar peinlicher Gedanke, den er immer von Neuem zurückdrängte, der sich aber immer energischer emporarbeitete und nun mit aller Kraft herausbrach.
Mikita!
Falk stand unruhig auf, ging ein wenig herum und setzte sich wieder.
Siehst Du, Mikita, nimm es mir nicht übel ich kann absolut nichts dafür.
Wozu hast Du mich zu ihr geschleppt? Ich wollte Wein mit Dir trinken und mit Dir sprechen. Ich wollte nicht zu ihr gehen. Zu seinen Bräuten darf man seine Freunde nicht schleppen.
Das ist der wichtigste Paragraph in dem Liebeskodex.
Durchaus nicht, und mögen die Bräute noch so herrlich sein, wie Deine Isa.
Nun, Mikita, sei doch nicht so verflucht traurig. Das tut mir ganz tierisch weh. Ich habe Dich nämlich unendlich lieb.
Falk überkam eine große Zärtlichkeit.
Ich kann wirklich nichts dafür. Stell Dir doch nur vor. Ich trete ins Zimmer. Ein wunderbares Rot. Und dieses Rot fließt um ein Weib in heißer Wellenbrandung, um ein Weib, das mir so bekannt war, ja mehr wie Dir selbst, obwohl ich sie nie gesehen hatte.
War es das Rot? Du bist doch zum Kuckuck ein Maler. Du mußt doch wissen, wie ein solches Rot auf Deine Seele wirkt.
Nun kommt der ehrbare Auch-Psychologe Herr Du Bois-Reymond und sagt: Rot besteht aus Wellen, die fünfhundert Billionen Schwingungen in der Sekunde machen. Die Schwingungen bringen in den Nerven Schwingungen hervor, und so schwinge ich.
Verstehst Du nun, warum ich mich verliebt habe? Weil ich schwinge!
Na also! Falk stand auf und ging aufs Geratewohl vor sich hin.
Auf den Straßen war es öde. Nur hin und wieder hörte er eine leise, piepende Frauenstimme:
– Na, Liebchen, kommst Du mit?
Nein, das wollte er durchaus nicht. Was sollte er bei einem Frauenzimmer? Er war kein Berliner Romanschriftsteller und brauchte nicht die diskreten Unterrocksstimmungen, um Romane zu schreiben. Nein, er haßte alle Weiber, alle, und am meisten sie, sie, die sich so hinterlistig in ihn eingeschlichen und ihn nun in diese verfluchte Unruhe peitschte.
Nein, Mikita, das darfst Du mir nicht übel nehmen. Nein, nein ... Du kannst Dir nicht vorstellen, wie ich leide. Es sitzt mir etwas Würgendes in der Kehle; den ganzen Tag schon ... Nichts hab ich gegessen, nur getrunken und getrunken ...
Weißt Du, was ich geträumt habe? Von einem hohen Berge bin ich herabgestürzt. Ich saß auf einem Gletscher, der sich mit rasender Schnelligkeit vorwärtsschob; konnte ich dagegen etwas machen? Konnte ich mich wehren? Der Gletscher trug mich, der Gletscher war breit, er raste und raste unaufhaltsam ...
Kann ich die Molekel meiner Nerven in eine andere Lage bringen? Kann ich den Strom in meinem Gehirn ausschalten? Heh? Kann ich das? Kannst Dus?
Der Gletscher trägt mich – ich stürze und stürze, bis er mich ins Meer ausspeien wird.
Das ist das eherne Gesetz!
Falk schrie es fast.
Na ja; ich bin ein wenig betrunken, und da ist die Kontrolle schwer.
Nein, Mikita, nein; Du bist mir so unendlich teuer. Ich habe nichts, nichts dabei gemacht.
Plötzlich wurde er wütend.
Hast Du sie nicht gereizt, lieber Falk, hast Du nicht mit tausend Kniffen ihre Neugierde gestachelt?
Herrlich, dies urplötzliche Schuldbewußtsein! Ja, ich nehme mein schuldbeladenes Gewissen und schüttle seinen Inhalt vor den Allmächtigen hin, der mich nicht wie jene Vierfüßler geschaffen hat, die keinen Verstand haben, sondern als zweibeiniges Individuum, mit Geist und Vernunft begabt, auf daß es zwischen Gut und Böse unterscheide und vermöge der quinta essentia, nämlich der Willenskraft, die Handlungen berechne und sie leite.
Ja, lieber Mikita; mea maxima culpa! Ich habe gesündigt gegen Dich!
Unterwegs sah er ein Nacht-Café offen.
Oh, er war so furchtbar müde.
Er trat ein und setzte sich auf ein Sofa abseits in eine Ecke.
Um sich herum hörte er Geschrei und Gekreisch, Fluchen und Feilschen. Er sah hin, ob nicht ein Berliner Romanschriftsteller seine Notizen machte. Nämlich ein Kollege von der nämlichen Fakultät.
Ekelhaft! Wie viel kostet fünf Minuten Fleisch pro Pfund?
Er lehnte sich zurück und starrte in die große, weiße Lampe des elektrischen Lichtes.
Es flimmerte ihm in den Augen. Um die weißen runden Lichtlampen sah er deutlich heiße Nebel zittern.
Und schneller und schneller sah er den Dunst um die Lampen kreisen, heftiger und heißer.
Und er fühlte sie in seinen Armen, ihre Backe an die seine gelehnt, er fühlte ihre Bewegungen auf seinen Nerven auf- und niedergleiten, und er sah die Welt als einen roten Sonnenring um sich herumtanzen.
Das war das große Problem.
Er setzte sich zurecht.
Das Problem seiner Liebe. Isa war aus ihm geboren, oder er aus ihr. Sie war das vollendetste Korrelat zu ihm. Ihre Bewegungen waren so seinem Geiste angepaßt, daß sie ihn in die höchste Ekstase versetzten, der Klang ihrer Stimme löste etwas in seiner Seele aus, etwas davon, worin das Geheimnis seiner Seele ruhte.
Dummes Gehirn, woher weißt Du das so sicher?
Er lachte höhnisch.
Aber plötzlich stutzte er. Er sah sich und sie in einem merkwürdigen Bilde.
Sie saßen sich ganz gleichgültig gegenüber. Sie sahen sich kalt in die Augen, ja sie waren sich ganz gleichgültig.
Ja, er war Dämonomane, er sah sie und sich ganz durchsichtig, und er sah, wie sich etwas in ihm und etwas in ihr hochreckte, wie die beiden unterirdischen Ichs sich näher kamen und sich so fragend und so begehrend anschauten.
Nein doch! Sie saßen ja am Tisch und waren sich gleichgültig und sprachen über dumme, nichtssagende Sachen. Aber das Andre in ihm und das Andre in ihr waren sich so unendlich nahe, sie umfaßten sich, sie gossen sich ineinander.
Das Andre, lieber Mikita, das, das ich nicht kenne, weil es plötzlich ganz unmotiviert da ist, hat sie schon geliebt, bevor ich es merkte.
Siehst Du, Mikita, mein dummes Gehirn kann ja nur höchstens kontrollieren, daß etwas vor sich gehe, nur höchstens eine vollendete Tatsache konstatieren.
Ja, teurer Mikita, das ist eine vollendete Tatsache: Ich liebe sie!
Daß ich mich interessant machte? Daß ich sie lockte und auf meine Tiefen aufmerksam machte? – Aber Herrgott, Mikita, sei doch vernünftig! Das große Agens hat die Räder so eingestellt, daß sie notwendig in dieser und keiner andern Richtung ablaufen müssen.
Daß Du das nicht verstehst!
– Weshalb Mikita nicht gekommen ist?
Oh, gnädiges Fräulein, kennen Sie ihn schlecht! Mikita hat Instinkte mit meilenlangen Händen, die das Unfaßbare fassen: Mikita sieht, wie sich ein Ton in Farbe verwandelt. Er hat Akkorde gemalt, die Sie beim Hören verrückt machen würden, aber das brutale Auge verträgt selbstverständlich Alles. Mikita sieht das Gras wachsen, und den Himmel schreien. Das Alles sieht Mikita – Mikita ist ein Genie!
Was bin ich? Was hab ich gemacht?
Blödsinn, Falk! Bist Du wirklich betrunken?
Nein doch: Ich bin Psychologe und augenblicklich damit beschäftigt, Mikitas Seele ganz reinlich zu präparieren.
Hoh, Mikita läßt sichs nicht merken, er läßt die Lauge sich in seine tiefsten Schachte niederschlagen, bis Alles zersetzt und zerfressen ist, dann kommt der Bruch.
Was ist dabei? Herrgott ein Mann über Bord! Er ist nicht der Erste.
Das Kreischen und Lachen um Falk herum wurde lauter und unerträglicher.
Er erhob sich wütend und brüllte förmlich:
– Still!
Dann setzte er sich hin. Die verfluchten Mücken, die ihn immer stören mußten.
Nun wurde er sehr unruhig.
Er mußte Mikita sehen. Er mußte durchaus sehen, was er jetzt mache. Ja, er werde zu ihm gehen: Wer ist da? Ich arbeite jetzt. – Ich bin es, Erik Falk. – Er macht auf. Sieht mich von der Seite an, hat selbstverständlich furchtbar wilde Augen.
Was willst Du?
– Was ich will? Tja, ich will Dir klar machen, daß Ich nicht liebe, sondern das Andre. Ich will Dir klar machen, wie das kam. Ich saß mit ihr an einem Tisch – ganz kalt und gleichgültig, aber während ich sprach, hat das Andre auf eigne Faust gehandelt, an ihr gezerrt und sie gelockt, bis sie nachgab. Nein! Nicht Sie; sie höhnt mich und findet mich komisch, weil mein Andres einen herzlicheren Abschied wünschte. Siehst Du, sie ist mir fremd, absolut fremd. Aber die Andern in uns Beiden, die kennen sich so gut, sie lieben sich so unendlich, so mächtig, so unlöslich.
Du allmächtiger Schöpfer, ich danke Dir, daß Du mich zum zweibeinigen Wesen geschaffen hast, mit Vernunft und Geist begabt, auf daß ich Gut und Böse unterscheide, auf daß ich nicht Isa begehre, wenn Mikita das Glück gehabt hat, sie zuerst zu treffen.
Und da – da sitzt der junge Lümmel neben den hundert Kilo Fleisch, er hat keine Vernunft, er kann auch nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden.
Siehst Du, dummer Lümmel, was bist Du gegen mich? Du vernunft- und willenloses Sujet.
Falk lachte aus vollem Halse.
Nun mußte er aber wegen ungebührenden Verhaltens – der Ausdruck gefiel ihm ganz ausnehmend – das Café verlassen.
Das kam ihm gerade recht.
In dieser verpesteten, schweiß- und fleischriechenden Spelunke konnte es ein Mensch von der Species Homo sapiens, meine Herren, nicht aushalten.
Draußen fing es an hell zu werden.
Über den schwarzen Dächern sah er das tiefe Blau in einer unsagbaren, stillen, heiligen Majestät.
Die Majestät des Himmels über Berlin ... er lachte höhnisch – so ist nun einmal die Natur ...