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Fünftes Kapitel

Die ersten Aphorismen Jesu. – Seine Ideen von einem Gottvater und von einer reinen Religion. – Seine ersten Jünger.

Joseph starb bevor sein Sohn zu einer öffentlichen Rolle gekommen war. Maria blieb nun das Haupt der Familie und das erklärt es auch, warum Jesus, wenn man ihn von seinen zahlreichen Namensvettern unterscheiden wollte, zumeist als »Sohn der Maria« bezeichnet wurde (Mark. VI, 3; vgl. Matth. XIII, 55. Markus kennt Joseph nicht. Johannes und Lukas ziehen den Ausdruck »Sohn Josephs« vor, Luk. III, 23, IV, 22; Joh. I, 45, IV, 42). Es scheint, daß sie durch den Tod ihres Mannes fremd in Nazareth geworden ist und nach Kana zog (Joh. II, 1, IV, 46), wo sie geboren worden sein mochte. Kana war eine kleine Stadt, zwei oder zweiundeinehalbe Stunde von Nazareth entfernt, am Fuße der Berge, die gegen Norden die Ebene von Asoschis (jetzt El-Buttof) begrenzen. Die Aussicht, minder großartig als in Nazareth, erstreckt sich über die ganze Ebene und wird von den Bergen von Nazareth und den Hügeln von Sephoris sehr malerisch begrenzt. Es scheint, daß Jesus eine Zeitlang hier gewohnt habe. Vielleicht verstrich da ein Teil seiner Jugend und fanden da seine ersten Aufsehen erregenden Thaten statt.

Er übte das Handwerk seines Vaters aus, der Zimmermann war (Mark. VI, 3; Justin. Dial. cum. Tryph. 88). Das war kein erniedrigender oder anstößiger Umstand. Der jüdische Brauch erforderte, daß der Mann, der sich der Geistesarbeit widmete, auch ein Handwerk erlerne. Die berühmtesten Gelehrten waren auch Handwerker, so war Paulus, der eine sorgfältige Erziehung genossen hatte, auch Zeltmacher. Jesus verheiratete sich nie. Seine ganze Liebe gab er dem, was er als seinen himmlischen Beruf betrachtete. Sein außergewöhnliches Zartgefühl für die Frauen trennte ihn nicht von der ausschließlichen Hingebung, die er für seine Idee hatte. Wie Franz von Assisi und Franz von Sales, behandelte auch er die Frauen, die sich demselben Werke widmeten wie er, als Schwestern; auch er hatte seine heilige Klara, seine Françoise von Chantal. Doch ist es wahrscheinlich, daß diese ihn mehr liebten, als sein Werk; er wurde sicherlich mehr geliebt, als er selbst liebte. So wie es oft bei erhabenen Naturen vorkommt, verwandelte sich bei ihm die Zärtlichkeit des Herzens in unendliche Sanftheit, in unbestimmte Poesie, in allgemeinen Reiz. Sein vertrauter und freier Umgang mit Frauen zweideutigen Wandels läßt sich ebenfalls aus der Leidenschaft erklären, die ihn an den Ruhm des Vaters fesselte und die ihm eine gewisse Eifersucht einflößte für alle schönen Wesen, die Gott dienen konnten (Luk. VII, 37; Joh. IV, 7, VIII, 3 ec.).

Welches war Jesu Gedankengang in dieser dunkeln Periode seines Lebens? Mit welchen Betrachtungen versuchte er seine prophetische Laufbahn? Man weiß es nicht, denn seine Lebensgeschichte ist uns im Durcheinander überkommen, ohne genaue Chronologie. Aber die Entwickelung der lebenden Produkte ist überall dieselbe und es ist nicht zweifelhaft, daß auch die Entwickelung einer so gewaltigen Persönlichkeit wie Jesus nach genau bestimmenden Gesetzen vollzogen hat. Eine hohe Auffassung der Gottheit, die er nicht dem Judaismus entnahm, und die in allen ihren Teilen eine Schöpfung seiner großen Seele gewesen zu sein scheint, war sozusagen das Prinzip seiner Wahl. Hier müssen wir am meisten auf die Vorstellungen verzichten, die uns vertraut sind und auf seine Erörterungen, mit denen die kleinen Geister sich abmühen. Um Jesu Frömmigkeit recht zu verstehen, muß man von allem absehen, was sich zwischen uns und dem Evangelium gestellt hat. Deismus und Pantheismus sind die beiden Pole der Theologie geworden. Die armseligen scholastischen Erörterungen, die Geistesdürre eines Descartes, die große Irreligiosität des 18. Jahrhunderts haben, Gott verkleinernd und ihn durch Ausschließung alles dessen, was nicht er ist, beschränkend, jedes befruchtende Gefühl für Gott innerhalb des modernen Rationalismus ertötet. Ist Gott wirklich ein begrenztes Wesen außer uns, so ist derjenige, der mit ihm in besonderer Verbindung zu sein wähnt, ein »Hellseher«. Und da die physikalischen und physiologischen Wissenschaften erwiesen haben, daß jede übernatürliche Vision Täuschung sei, so ist es dem Deisten, wenn er einigermaßen konsequent ist, unmöglich die großen Glaubenslehren der Vergangenheit zu verstehen. Der Pantheismus wieder ist wegen Leugnung eines persönlichen Gottes von dem lebendigen Gott der alten Religionen weit entfernt. Männer, die Gott am höchsten erkannt haben, Çakya-Muni, Plato, Paulus, Franz von Assisi und in einigen Stunden seines regsamen Lebens auch Augustin – waren sie Deisten oder Pantheisten? Eine solche Frage hat keinen Sinn. Die physischen und metaphysischen Beweise für Gottes Existenz waren ihnen gleichgültig; sie fühlten die Gottheit in sich selbst. In der ersten Reihe dieser großen Familie der wahren Söhne Gottes steht Jesus. Er hatte keine Visionen. Gott sprach zu ihm nicht wie zu einem, der außer ihm steht. Gott war in ihm. Er fühlte sich eins mit Gott und was er von seinem Vater sagte, kam aus seiner Herzenstiefe. Er lebte stets im Schoß Gottes. Er sah ihn nicht, aber er hörte ihn, ohne daß er dazu, wie Moses, den Donner und den feurigen Dornbusch brauchte, oder wie Hiob, des offenbarenden Gewittersturms, oder wie die Weisen Griechenlands, des Orakels, eines Hausgenius, wie Sokrates, eines Engels Gabriel, wie Mohammed. Die Phantasien und Hallucinationen einer heiligen Theresia zum Beispiel, sind hier ungültig. Auch die Begeisterung des Sofi, der sich identisch mit Gott fühlt, ist etwas anderes. Jesus spricht gar nicht die sakrilegischen Gedanken aus, er sei Gott. Er wähnte in direkter Beziehung zu Gott zu stehen, er hielt sich für Gottes Sohn. Das höchste im Schoß der Menschheit bestandene Gefühl von Gott hatte Jesus.

Man begreift anderseits wieder, daß Jesus, von so einer Seelenstimmung ausgehend, nicht zum spekulativen Philosophen gleich Çakay-Muni wird. Nichts steht der Scholastik ferner als das Evangelium. Die Reden, die das vierte Evangelium Jesu äußern läßt, enthalten schon den Kern der Theologie. Da sie aber mit den synoptischen Evangelien, die zweifellos die ursprüngliche Logia wiedergeben, in Widerspruch stehen, so sind sie zwar Dokumente der apostolischen Geschichte, aber keineswegs Elemente des Lebens Jesu. Die Spekulationen der griechischen Kirchenväter über das Wesen Gottes entspringen einem ganz andern Geist. Gott unmittelbar als Vater aufgefaßt, das ist Jesu ganze Theologie. Und das war ihm kein theoretisches Prinzip, kein mehr oder minder bewiesener Lehrsatz, den er andern beizubringen bestrebte. Er machte seinen Schülern gegenüber keine Räsonnements; er forderte von ihnen keine anstrengende Aufmerksamkeit. Er predigte nicht seine Meinung, er predigte sich selber. Große, uneigennützige Seelen zeigen oft neben dieser Größe den Charakter steter Aufmerksamkeit gegen sich selbst und besonderer persönlicher Empfindlichkeit, wie sie im allgemeinen Frauen eigentümlich ist (z.B. Joh. XXI, 15). Ihre Überzeugung, daß Gott in ihnen sei, daß er sich immer mit ihnen beschäftige, ist so groß, daß sie es nicht scheuen, sich den anderen aufzudrängen. Unsere Reserve, unsere Achtung der Meinung anderer gegenüber, die einen Teil unserer Ohnmacht bildet, ist ihnen fern. Diese übertriebene Persönlichkeit ist keineswegs Selbstsucht, denn solche Menschen, beseelt von ihrer Anschauung, opfern freudigst ihr Leben, um ihr Werk zu bekräftigen. Es ist vielmehr die höchste Identifikation des Ichs mit dem Gegenstande, den dieses Ich umfaßt hat. Für die, welche in den neuen Erscheinungen nur die persönliche Phantasie des Stifters sehen, gilt es als Stolz; für die, welche das Resultat in Betracht ziehen, ist es ein Zeichen Gottes. Der Narr streift hier an den Begeisterten, nur wird ersterem nie der Erfolg. Bisher hat die Geistesverwirrung noch nie ernstlich auf den Gang der Menschheit einwirken können.

Jesus gelangte zweifellos nicht mit einem Schlage zu diesem hohen Bewußtsein seiner selbst. Aber es ist wahrscheinlich, daß er von seinem ersten Schritte an sein Verhältnis zu Gott als das eines Sohnes zum Vater betrachtete. Das ist seine große Ursprünglichkeit und dabei hat er nichts von seiner Rasse. Weder der Jude noch der Mohammedaner haben diese köstliche Liebestheologie verstanden. Der Gott Jesu ist nicht der schreckliche Herr, der uns tötet, wenn es ihm gefällt, verdammt, wenn es ihm gefällt, rettet, wenn es ihm gefällt. Der Gott Jesu ist unser Vater. Man vernimmt ihn, wenn man des leisen Tones lauscht, der in uns ruft: »Vater!« Der Gott Jesu ist nicht der parteiische Despot, der Israel als sein Volk auserwählt hat und es gegen alle bevorzugt. Er ist der Menschheit Gott. Jesus war kein Patriot wie der Makkabäer, kein Theokrat wie Juda, der Goloniter. Kühn über die Vorurteile seines Volkes sich erhebend, gründete er die Altvaterschaft Gottes. Der Goloniter behauptete, daß man eher sterben müsse, als einen andern als Gott mit »Herr« bezeichnen. Jesu überläßt diese Bezeichnung jedem, der ihn annehmen will und reserviert für Gott einen weit holderen Titel. Den Mächtigen der Erde, die für ihn die Vertreter der Gewalt sind, einen Respekt voll Ironie zugestehend, gründete er den höchsten Trost, die Zuflucht zum Vater, den jeder im Himmel hat, das wahre Reich Gottes, das jeder in seinem Herzen trägt.

Die Bezeichnung »Reich Gottes« oder »Himmelreich« Das Wort »Himmel« ist in der rabbinischen Sprache jener Zeit gleichbedeutend mit »Gott«, dessen Namen auszusprechen, vermieden wurde. war der Lieblingsausdruck Jesu, um die Revolution auszudrücken, die er in diese Welt brachte. Wie fast alle messianischen Bezeichnungen, ist auch er dem Buche Daniel entnommen. Nach der Meinung des Verfassers dieses außergewöhnlichen Buches, sollte auf vier weltlichen Reichen, deren Sturz bestimmt ist, ein fünftes folgen, welches das der Heiligen sein und ewig währen werde.

Dieses »Reich Gottes« auf Erden verursachte natürlich die verschiedenartigsten Auslegungen. Für die jüdische Theologie ist das »Reich Gottes« meist nur das Judentum selbst, die wahre Religion, der monotheistische Kultus, die Frömmigkeit. In der letzten Zeit seines Lebens glaubte Jesus, dieses Reich werde sich materiell verwirklichen durch eine plötzliche Erneuerung der Welt. Doch zweifellos war das nicht sein erster Gedanke. Die bewundernswerte Moral, die er aus der Bezeichnung Gottvater schöpft, ist nicht die eines Enthusiasten, der den Weltuntergang nahe wähnt und der sich durch ein asketisches Leben auf eine chimäre Katastrophe vorbereiten will; sie ist vielmehr die einer Welt, die leben will und gelebt hat. »Das Reich Gottes ist in euch«, sprach er zu denen, die mit Subtilität nach äußeren Zeichen suchten. Die realistische Auffassung von dessen göttlichen Beginn war nur eine Wolke, ein vorübergehender Irrtum, den der Tod vergessen ließ. Der Jesus, der das wahre Reich Gottes gegründet hat, das Reich der Sanften und Demütigen, das ist der Jesus der ersten Tage, der reinen ungetrübten Tage, wo die Stimme seines Vaters in seinem Innern in reinerem Klang widerhallte. Da war es, wo Gott einige Monate, vielleicht ein Jahr wirklich auf Erden wohnte. Die Stimme des jungen Zimmermanns nahm plötzlich einen außerordentlich milden Charakter an. Ein unerklärlicher Reiz ging von seiner Person aus und jene, die ihn bis dahin gesehen hatten, erkannten ihn nicht wieder (Matth. XIII, 54; Mark. VI, 2; Joh. VI, 42). Noch hatte er keine Jünger und die Gruppe, die zu ihm hielt, bildete weder eine Sekte, noch eine Schule. Doch man fühlte schon einen gemeinsamen Geist, etwas Durchdringendes und Sanftes. Sein liebenswürdiger Charakter und seine zweifellos anziehende Gestalt. Die Tradition von der Häßlichkeit Jesu (Justin. Dial. cum. Tryph. 85, 88, 100), entstammt dem Wunsche, ein angebliches Kennzeichen des Messias verwirklicht zu sehen (Jesaias LIII, 2). wie sie zuweilen bei der jüdischen Rasse zu finden sind, schufen gleichsam einen Zauberkreis um ihn, dem sich beinahe keiner von dieser gutmütigen, kindlichen Bevölkerung entziehen konnte.

In der That wäre das Paradies auf Erden versetzt worden, wenn nicht die Ideen des jungen Meisters das Mittelmaß menschlicher Güte, über das hinaus das menschliche Geschlecht bis dahin sich nicht erheben konnte, bedeutend überstiegen hätten. Die Verbrüderung der Menschen, der Kinder Gottes und die sittlichen Konsequenzen, die daraus sich ergaben, wurden mit äußerstem Feingefühl entwickelt. Wie alle Rabbi jener Zeit wenig zu zusammenhängenden Erörterungen geneigt, schloß auch Jesus seine Lehre in kurze Aphorismen von ausdrucksvoller, zuweilen auch rätselhafter und bizarrer Form. Die Logia des Matthäus verbinden mehrere dieser Aphorismen zu einer längeren Rede. Doch die fragmentarische Form läßt sich durch die Nähte hindurch erkennen. Einige dieser Maximen entstammen den Büchern des Alten Testaments. Andere wieder waren Gedanken neuerer Weisen, besonders von Soco, von Jesus, dem Sohne Sirachs, und von Hillel, die zu ihm gedrungen waren, nicht zufolge gelehrter Studien, sondern als vielcitierte Sprichwörter. Die Synagoge war reich an glücklich gewählten Maximen, die eine Art festgesetzter Spruchlitteratur bildeten. Die Sprüche der jüdischen Gelehrten jener Zeit sind in dem Büchlein »Pirke Aboth« gesammelt. Jesus adoptierte diese mündlichen Lehren fast vollständig, doch er durchdrang sie mit einem höheren Geist. Die vom Gesetze und den Alten vorgezeichneten Pflichten gewöhnlich übertretend, wollte er Vollkommenheit. Alle Tugenden: Demut, Verzeihung, Barmherzigkeit, Selbstverleugnung und Selbststrenge – Tugenden, die man mit Recht christliche genannt hat, wenn man damit sagen will, daß sie wirklich von Christus gepredigt wurden – keimten schon in seiner ersten Belehrung. Was die Gerechtigkeit betrifft, so begnügte er sich mit der Wiederholung des allbekannten: »Was du nicht willst, daß man dir thu, das füg auch keinen andern zu«. Matth. VII, 12; Luk. VI, 31. Diese Regel kommt schon im Buche Tobias VI, 16, vor. Hillel führte sie stets im Munde (Talmud, 1. Babyl. Schabb. 31 a) und wie Jesus, bemerkte auch er, dies sei in aller Kürze das Gesetz. Allein diese alte, immerhin doch egoistische Weisheit, genügte ihm nicht; er übertrieb sie: »Wenn einer dir auf deine rechte Backe einen Streich giebt, so biete ihm auch die andere dar. Wenn einer mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, so laß ihm auch den Mantel« (Matth. V, 39; Luk. VI, 29. – Vgl. Jeremias Klagel. III, 30).

»Wenn dich dein rechtes Auge ärgert, so reiß es aus und wirf es von dir« (Matth. V, 29, 30, XVIII, 9; Mark. IX, 46).

»Liebet euere Feinde, segnet die euch fluchen, thut Gutes an denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen« (Matth. V, 44; Luk. VI, 27. – Vgl. Talmud von Babyl. Schabb. 88 b; Joma 23 a).

»Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Vergebt und es wird euch vergeben. Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Geben ist seliger als nehmen« (Matth. VII, 1; Luk. VI, 37. – Vgl. Talmud von Babyl. Kethuboth 105 b. – Luk. VI, 37. Vgl. 3. Moses XIX, 18; Sprüche Sal. XX, 22; Predig. XXVIII, 1. – Luk. VI, 36; Siphre 52 b (Sultzbach 1802). – Apostelg. XX, 35).

»Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden, wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden« (Matth. XXIII, 12; Luk. XIV, 11, XVIII, 14. – Die von Hieronymus nach dem Evangelium der »Hebräer« mitgeteilten Sprüche bekunden denselben Geist).

Was Almosenspenden, Barmherzigkeit, gute Werke verrichten, Sanftmut, Friedfertigkeit, vollständige Uneigennützigkeit des Herzens betrifft, so hat er der Lehre der Synagoge wenig beizufügen. V. Moses XXIV, XXV, XXVI ec.; Sprüche Sal. XIX, 17; Pirke Aboth 1; Talmud von Jerusalem Peah I, 1; Talmud von Baby., Schabb. 63 a. Doch er weiß da einen salbungsvollen Ton hineinzulegen, der die vor langer Zeit erdachten Aphorismen wieder neu erscheinen läßt. Die Moral besteht nicht aus mehr oder minder schön ausgedrückten Grundsätzen. Die Poesie der Vorschrift, die der Vorschrift Liebe bringt, ist mehr als die Vorschrift, als abstrakte Wahrheit genommen. Unleugbar haben die von Jesus seinen Vorgängern entlehnten Maximen im Evangelium eine ganz andere Wirkung, als im alten Gesetze, im Pirke Aboth, oder im Talmud. Nicht das alte Gesetz, nicht der Talmud haben die Welt erobert. Wenig ursprünglich wie die evangelische Moral auch an und für sich – wenn damit gesagt sein soll, daß sie fast gänzlich auf ältere Maximen zurückgeführt werden kann – so bleibt sie doch die höchste Schöpfung, die aus dem menschlichen Bewußtsein hervorgegangen ist, der schönste Kodex vollkommenen Lebens, den je ein Moralist verfaßt hat.

Er sprach nicht wider das mosaische Gesetz; aber es ist klar, daß er dessen Ungenüglichkeit einsah und er ließ es auch merken. Er wiederholte stets, man müsse mehr thun, als was die alten Weisen gelehrt haben. (Matth. V, 20). Er verbot auch nur das geringste harte Wort. (Matth. V, 22.) Er untersagte die Ehescheidung (Matth. V, 31), den Eid (Matth. V, 33), er tadelte die Wiedervergeltung (Matth. V, 38), verdammte den Wucher (Matth. V, 42), er fand das wolllüstige Verlangen ebenso verbrecherisch wie den Ehebruch (Matth. V, 28; vgl. Talmud, Masseket Kalla). Er forderte, man müsse alle Beleidigungen verzeihen (Matth. V, 23). Das Motiv dieser Maximen höchster Barmherzigkeit war überall dasselbe: »Damit ihr Kinder eueres himmlischen Vaters seid, der die Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse. Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Thun das nicht auch die Zöllner? Wenn ihr nur eueren Brüdern freundlich gesinnt, was ist da Besonderes? Thun das nicht auch die Heiden? Seid vollkommen wie euer Vater im Himmel vollkommen ist. (Matth. V, 45. Vgl. 3. Moses XI, 44; XIX, 2.)

Ein reiner Kultus, eine Religion ohne Priester und ohne äußere Ceremonien, ganz auf den Gefühlen des Herzens, auf dem Nachstreben Gottes, auf der unmittelbaren Beziehung des Gewissens zum himmlischen Vater beruhend, waren die Folgen dieser Prinzipien. Jesus scheute nie die kühnen Folgerungen, die aus ihm, im Schoße des Judentums, einen Führer der Revolution machten. Wozu die Mittler zwischen dem Menschen und seinem Vater? Gott sieht nur auf das Herz, wozu also diese Reinigungen, diese Ceremonien, die nur den Körper betreffen? Selbst die Tradition, eine den Juden so heilige Sache, galt ihm nichts im Vergleich mit dem reinen Gefühl. (Mark. VII, 6). Die Heuchelei des Pharisäers, der beim Beten das Haupt wendete, um zu sehen, ob er beobachtet werde, der Aufsehen erregend sein Almosen gab und den Kleidern Merkzeichen anfügte, um als Frommer erkannt zu werden – alle diese Ränke falscher Frömmigkeit empörten ihn: »Sie haben ihren Lohn darin,« sagte er, »du aber, wenn du Almosen giebst, lasse deine linke Hand nicht wissen, was die rechte thut, daß dein Almosen verborgen bleibe. Und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir es öffentlich vergelten. Matth. VI, 1. Vgl. Prediger XVII, 18; XXIX, 15; Talmud von Baby. Chagiga 5 a, Baba Bathra 9 b. Und wenn du betest, so ahme nicht den Heuchlern nach, die gerne stehen und beten in den Synagogen und an den Straßenecken, daß sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn darin. Wenn du beten willst, so gehe in dein Kämmerlein und schließe die Thüre zu; bete zu deinem Vater im Verborgenen und der Vater, der das Verborgene sieht, wird dich erhören. Und wenn ihr betet, so sollt ihr nicht schwatzen wie die Heiden, die glauben, sie werden erhört, wenn sie viel Worte machen. Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe ihr darum bittet.« (Matth. VI. 5–8.)

Er affektierte nicht die äußeren Zeichen der Askese; er begnügte sich damit, auf den Bergen und an einsamen Orten, wo der Mensch stets Gott gesucht hat, zu beten, oder vielmehr zu sinnen. Dieser hohe Begriff von den Beziehungen des Menschen zu Gott, deren so wenige Seelen, selbst nach ihm, fähig waren, faßte er in einem Gebete zusammen, das er seither seinen Jüngern lehrte:

»Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. Unser nötig Brot gieb uns heute und vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen (d. h. dem Teufel), denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.«

Besonders betonte er, daß der himmlische Vater besser als wir wissen, was uns fehle, daß es fast eine Beleidigung sei von ihm etwas Bestimmtes zu erflehen. (Luk. XI, 5.) Jesus zog da nur die Konsequenzen der großen Grundsätze des Judentums, die aber die offiziellen Klassen des Volkes immer mehr zu verkennen strebten. Das Gebet der Griechen und Römer war zumeist nur ein egoistischer Wortschwall. Niemals hat ein Heidenpriester zu seinen Gläubigen gesagt: »Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst dabei eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so gehe zuvor hin und versöhne dich mit ihm und opfere dann deine Gabe.« (Matth. V, 23, 24.) Die jüdischen Propheten, besonders Jesaias, sind die einzigen im Altertum, die in ihrer Abneigung gegen das Priestertum die wahre Natur des Kultus, den der Mensch Gott schuldet, einigermaßen erkannt haben. »Was soll nur die Menge euerer Opfer? Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fetts des Gemästeten und ich habe keine Lust zum Blut der Farren, der Lämmer und Böcke. Euer Räucherwerk ist mir ein Greuel, denn eure Hände sind voll Blut. Reinigt euere Gedanken, hört auf Böses zu thun, lernt das Gute, suchet die Gerechtigkeit und dann kommt.« (Jos. I, 11 ec.; LVIII; Hosea VI, Maleachi I, 10.) In der letzten Zeit waren einige Gelehrte: Simon der Gerechte, Jesus der Sohn Sirachs, Hillel, nahe dem Ziele und erklärten, daß das Wesentliche der Gebote die Gerechtigkeit sei. Philo kam in der jüdischen Welt Ägyptens fast gleichzeitig mit Jesu zu Anschauungen einer hohen sittlichen Heiligkeit, was eine geringe Sorgfalt für das Einhalten der vorgeschriebenen Ceremonien zufolge hatte. Schemaja und Abtalion zeigten sich auch mehr als einmal als sehr liberale Kasuisten. Bald stellte auch Rabbi Johanan die Werke der Barmherzigkeit über das Studium der Gesetze. Nichtsdestoweniger hat einzig nur Jesus die Sache wirksam dargelegt. Niemals war einer weniger Priester als es Jesu war, niemals jemand mehr Feind der Form, die die Religion unter dem Vorwand, sie schützen zu wollen, erdrückt. Dadurch sind wir alle seine Jünger und Nachfolger geworden; dadurch hat er den ewigen Grundstein der wahren Religion gelegt. Und wenn die Religion wirklich das Wesentliche der Menschheit bildet, so hat er dadurch den göttlichen Rang verdient, der ihm zugewiesen wurde. Eine absolut neue Idee, die Idee eines Kultus, der auf Herzensreinheit und allgemeine Brüderlichkeit begründet ist, zog durch ihn in die Welt ein, eine Idee, die so erhaben ist, daß die christliche Kirche in diesem Punkte Verrat an seinen Absichten üben sollte, und daß in unserer Zeit nur wenig Seelen fähig sind sie aufzunehmen.

Ein treffliches Gefühl für die Natur lieferten ihm jederzeit ausdrucksvolle Bilder. Hier wurden seine Aphorismen durch jene merkwürdige Feinheit, die wir Geist nennen, gehoben; dort wieder erhielten sie die lebhafte Form durch die geglückte Anwendung volkstümlicher Sprichwörter: »Wie darfst du zu deinem Bruder sagen: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen! Und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Heuchler! ziehe zuvor den Balken aus deinem Auge und dann trachte wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest. (Matth. VII, 4, 5; vgl. Talmud v. Baby. Baba Batth. 15, b. Erachin 16, b.)

Solche Lehren, lange im Herzen des jungen Meisters verschlossen, sammelten schon einige Anhänger. Der Geist der Zeit war für das Sektenwesen; es war die Zeit der Essäer oder Therapeuten. Überall lehrten Rabbinen in ihrer eigenen Weise: Schemaja, Abtalion, Hillel, Schamai, Juda der Galoniter und noch viel andere, aus deren Maximen der Talmud geschaffen wurde. Man schrieb sehr wenig. Die jüdischen Gelehrten jener Zeit verfaßten keine Bücher: alles erfolgte in Unterredungen und öffentlichem Unterricht, den man eine leichtfaßliche Form zu geben versuchte Die Abfassung des Talmuds, dieses Resümee der ungeheueren Bewegung der Schulen, wurde erst im zweiten Jahrhundert u. Z. begonnen. Der Tag, an dem der junge Zimmermann aus Nazareth mit diesen Maximen auftrat, die meisten schon verbreitet waren, aber Dank seiner, erst die Welt regenerieren sollten, war also kein Ereignis. Es war ein Rabbi mehr (freilich der liebenswürdigste aller) und um ihn her einige junge Leute, begierig ihn zu hören und das Unbekannte zu erforschen. Die Unaufmerksamkeit der Menschen braucht Zeit, um überwunden zu werden. Es gab noch keine Christen; doch war das wahre Christentum bereits gegründet und sicherlich war es nie vollkommener als in dieser ersten Zeit. Jesus wird nichts Dauerndes mehr dazufügen. Was sage ich! Im gewissen Sinne wird er es bloßstellen. Denn jede Idee braucht Opfer zur Durchführung. Aus dem Kampfe des Lebens tritt man nie unversehrt heraus.

Das Gute zu begreifen, genügt in der That noch nicht; man muß es unter den Menschen zur Geltung bringen. Dazu sind reine Mittel weniger nötig. Gewiß, wenn das Evangelium sich auf einige Kapitel von Matthäus und Lukas beschränkt hätte, so wäre es vollkommener geworden und hätte später nicht zu so viel Einwendungen Anlaß geboten. Aber hätte er ohne Wunder die Welt bekehrt? Wenn Jesus in dem Augenblick seiner Laufbahn gestorben wäre, den wir jetzt in Betracht zogen, so würde uns sein Leben jene uns verletzenden Stellen nicht zeigen. Aber, wenn auch größer in den Augen Gottes, den Menschen wäre er dann unbekannt geblieben. Er wäre verloren gegangen in der Menge der großen unbekannten Seelen, der besten von allen. Die Wahrheit wäre nicht verkündet worden, und die Welt hätte keinen Nutzen gehabt von der großen sittlichen Überlegenheit, die ihm sein Vater verlieh. Jesus, der Sohn Sirachs und Hillel haben fast ebenso hehre Aphorismen, wie Jesus ausgesprochen. Hillel wird indessen nie für den wahren Stifter des Christentums gelten. In der Moral wie in der Kunst ist Reden nichts, Handeln alles. Der Gedanke, der sich unter einem Bild von Raphael verbirgt, ist unbedeutend, nur das Bild selbst gilt. Ebenso erhält in der Moral die Wahrheit nur dann einen Wert, wenn sie zum Zustand des Gefühls übergeht, und den ganzen Wert, wenn sie sich in der Welt zum Zustand der That verkörpert. Männer von mittelmäßiger Moral haben sehr gute Maximen geschrieben; anderseits wieder haben sehr tugendhafte Männer nichts gethan, um die Tradition der Tugend in der Welt fortzusetzen. Die Palme gebührt dem, der in Wort und That mächtig war, der das Gute gefühlt hat und um den Preis seines Blutes es zum Triumph brachte. Vor diesem doppelten Gesichtspunkt steht Jesus einzig da; sein Ruhm bleibt ungemindert und wird sich stets erneuen.


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