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Die letzte Reise Jesu nach Jerusalem.
Schon seit langem fühlte Jesus die ihn umgebenden Gefahren. (Matth. XVI, 20,21.) Während eines Zeitraumes, der sich auf achtzehn Monate schätzen läßt, unterließ er es nach Jerusalem zu Pilgern. Zum Laubhüttenfest des Jahres 32 – nach der von uns angenommenen Hypothese – luden ihn seine noch immer ungeneigten und ungläubigen Verwandten ein dahin zu kommen. (Joh. VII, 1–5.) Der Evangelist Johannes scheint anzunehmen, daß in dieser Einladung ein Plan, ihn zu verderben, verborgen lag. »Offenbare dich der Welt,« sagten sie ihm; »solche Dinge macht man nicht im geheimen. Geh nach Judäa, damit man sehe, was du zu thun vermagst.« Jesus argwohnte einen Verrat und weigerte sich anfangs; doch als die Karawane abgezogen war, machte er sich ohne Vorwissen der andern und fast allein auf den Weg. (Joh. VII, 10.) Das war der letzte Abschied von Galiläa. Das Laubhüttenfest fiel in die Äquinoktialzeit des Herbstes. Sechs Monate noch sollten bis zu dem verhängnisvollen Ausgang verstreichen. Doch in dieser Zwischenzeit sah Jesus seine lieben Nordprovinzen nicht wieder. Die Zeit der Frohheit ist vorüber; jetzt muß Schritt um Schritt der Schmerzensweg durchwandelt werden, der mit der Todespein endigte.
Seine Jünger und die frommen Frauen, die ihm dienten, fanden ihn in Judäa wieder. Matth. XXVII, 55; Mark. XV, 41; Luk. XXIII, 49, 55. Doch wie hatte sich hier für ihn alles verändert! Jesus war ein Fremdling in Jerusalem. Er fühlte, hier wäre ein Wall des Widerstands, den er nicht übersteigen könnte. Umgeben von Schlingen und Widersprüchen, wurde er stets von der Bosheit der Pharisäer verfolgt. (Joh. VII, 20, 25, 30, 32.) Anstatt der unbegrenzten Fähigkeit zu glauben – die glückliche Gabe frischer Naturen – die er in Galiläa fand; anstatt der gutartigen sanften Bevölkerung bei der ein Widerspruch – der stets die Frucht von etwas Mißgunst und Ungelehrigkeit ist – nicht Zutritt fand; begegnete er hier auf Tritt und Schritt einer hartnäckigen Ungläubigkeit, bei dem das Mittel, das ihm im Norden so trefflich nützte, nicht verfangen wollte. Seine Jünger waren als Galiläer verachtet. Nikodemus, der während einer seiner früheren Anwesenheiten nächtlich eine Unterredung mit ihm pflog, hatte sich im Sanhedrin bloßgestellt, als er Jesu verteidigte: »Bist du auch ein Galiläer?« sprach man zu ihm. »Forsche und du wirst ersehen, aus Galiläa ersteht kein Prophet.« (Joh. VII, 150.)
Wie schon früher bemerkt wurde, mißfiel die Stadt Jesu. Bisher hatte er immer die großen Mittelpunkte vermieden; er zog das stäche Land und kleine Städte für sein Wirken vor. Manche der Vorschriften, die er seinen Aposteln gab, waren nur bei einer schlechten Gesellschaft geringer Leute anwendbar. (Matth. X, 11–13; Mark. VI, 10; Luk. X, 5–8.) Ohne den geringsten Begriff von der Welt, gewöhnt an seinen liebenswürdigen Kommunismus von Galiläa, entschlüpften ihm beständig Naivitäten, die in Jerusalem wunderlich erscheinen konnten. Matth. XXI. 3; XXIV, 18; Mark. XI, 3; XIV, 13, 14; Luk. XIX, 31; XXII 10–12. Seine Imagination, seine Vorliebe für die Natur fühlten sich in diesen Mauern beengt. Die wahre Religion sollte nicht aus dem Stadtgewühl hervorgehen, sondern aus der gelassenen Heiterkeit des flachen Landes.
Die Anmaßung der Priester machten ihm den Aufenthalt in den Tempelvorhöfen unangenehm. Eines Tages wollten ihn einige seiner Jünger, die Jerusalem besser als er kannten, auf die Schönheit der Tempelkonstruktion, auf bewundernswerte Auswahl des Materials, auf die reichen Opfergaben, die die Wände bedeckten, aufmerksam machen. Er sprach zu ihnen: »Seht ihr nicht dies alles? Wahrlich, ich sage euch: es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben.« (Matth. XXIV, 1, 2; Mark. XIII, 1, 2; Luk. XXI, 5, 6; vergl. Mark. XI, 11.) Er wollte nichts bewundern, eine arme Witwe ausgenommen, die in demselben Moment vorüberging und eine Kleinmünze in den Kasten warf. »Sie hat mehr gegeben als alle,« sprach er, »die andern haben von ihrem Überfluß eingelegt, sie von ihrer Armut.« (Mark. XII, 41; Luk. XXI, 1.) Diese Art alles zu kritisieren, was in Jerusalem geschah, den Armen, der wenig gab, zu erheben, den Reichen, der viel gab, herabzusetzen, die wohlhabende Geistlichkeit, die nichts für das Volk that, zu tadeln, das erzürnte natürlich die Priesterkaste. Sitz der konservativen Aristokratie war der Tempel – wie der an seine Stelle getretene mohammedanische Haram – der letzte Ort der Welt, wo eine Revolution Erfolg haben konnte. Man denke sich einen Reformator, der vor der Moschee Osmars den Umsturz des Islams predigen wollte. Indessen hier war der Mittelpunkt jüdischen Lebens, wo er siegen oder sterben mußte. Auf diesem Calvarienberg hat Jesus sicherlich mehr gelitten als auf Golgatha. Seine Tage vergingen unter Streit und Zorn, zwischen langweiligen Disputationen über kanonisches Recht und Exegese, für die seine erhabene Moral ihn wenig Eignung gab, was sag ich? – ihm gewissermaßen unterordnete.
Im Schoße dieses bewegten Lebens, vermochte das gute, gefühlvolle Herz Jesu sich ein Asyl zu finden, wo er viel Annehmlichkeit genoß. Nachdem er den Tag im Tempel mit Disputationen verbracht hatte, stieg Jesus abends in das Thal Kedron hinab, ruhte ein wenig aus in dem Garten eines Landgütchens – wahrscheinlich eine Ölpresserei – Namens Gethsemane, Mark. XI, 19; Luk. XXII, 39; Joh. XVIII, 1, 2. Dieser Garten konnte nicht fern von der Stelle sein, wo einige Ölbäume stehen, welche die Frömmigkeit der Katholiken mit einer Mauer umgeben hat. Das Wort Gethsemane scheint Ölpresse zu bedeuten. das den Bewohnern als Belustigungsort diente; die Nacht verbrachte er auf dem Ölberg, der im Osten den Horizont der Stadt abschließt. (Luk. XXI, 37; XXII, 39; Joh. VIII, 1, 2.) Das ist der einzige Ort der Umgebung Jerusalems, der einen frohen, grünen Anblick bietet. Die Anpflanzungen von Ölbäumen, Feigenbäumen und Palmbäumen waren hier zahlreich vorhanden und gaben den Dörfern, Landgütern oder Ansiedelungen Bethphage, Gethsemane, Bethanien ihre Namen. (Talmud v. Baby. Pesach. 53 a.) Auf dem Ölberg befanden sich zwei Cedern, deren Andenken sich lange bei den zerstreut wohnenden Juden erhielt; ihre Zweige dienten zahlreichen Tauben als Zufluchtsstätte und in ihrem Schatten waren kleine Basare errichtet. (Talm. v. Jerus. Tanith. IV, 8.) Dieser ganze Bezirk war gewissermaßen das Quartier Jesu und seiner Jünger; man merkt, daß ihnen fast jedes Feld, jedes Haus bekannt war.
Der Lieblingsort Jesu war besonders das Dorf Bethanien, Heute El-Asirieh, von El-Asir, dem arabischen Namen für Lazarus; in christlichen Texten des Mittelalters Lazarium. auf dem Gipfel des Hügels gelegen, gegen den Abhang hin, der sich zum Toten Meer und zum Jordan hinabsenkt und von Jerusalem anderthalb Stunden entfernt ist. (Matth. XXI, 17, 18; Makk. XI, 11, 12.) Hier lernte er eine Familie kennen, die aus drei Personen bestand, zwei Schwestern und einen Bruder, und deren Freundschaft ihm sehr lieb war. (Joh. XI, 5.) Von den zwei Schwestern war die eine, Namens Martha, eine gute, gefällige Person; die andere wieder, Namens Maria, gefiel Jesu wegen ihres schmachtenden Wesens und ihrer stark entwickelten spekulativen Fähigkeit. (Luk. X, 38-42; Joh. XII, 2. – Joh. XI, 20.) Oft, zu des Meisters Füßen sitzend, vergaß sie der Pflichten des realen Lebens. Dann beklagte sich ihre Schwester, der nun alle häuslichen Verrichtungen zufielen, leise bei Jesu. Er antwortete ihr: »Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe. Doch eins ist nötig. Maria hat das bessere Teil erwählt, das soll ihr nicht genommen werden. (Luk. X, 41.) Der Bruder Eleasar, oder Lazarus wurde gleichfalls von Jesus sehr geliebt. (Joh. XI, 35, 36.) Endlich scheint noch Mitglied der Familie gewesen zu sein, ein gewisser Simon der Aussätzige, Eigentümer des Hauses. (Matth. XXVI, 6; Mark. XIV, 3; Luk. VII, 40, 43; Joh. XII, 1.) Hier, im Schoße frommer Freundschaft vergaß Jesus die Widerwärtigkeiten des öffentliche Lebens. In dieser ruhigen Häuslichkeit tröstete er sich über die Nörgeleien der Pharisäer und Schriftgelehrten. Oft ließ er sich auf dem Ölberg nieder, dem Berge Moria gegenüber (Mark. XIII, 3), vor sich die prachtvolle Aussicht auf die Terrassen des Tempels und seine schimmernden Zinnen. Diese Aussicht erfüllte den Fremden mit Bewunderung. Besonders bei Sonnenaufgang blendete der heilige Berg die Augen und schien eine Masse aus Schnee und Gold zu sein. (Joseph. B. J. V, V, 6.) Doch ein tiefes Wehgefühl vergiftete Jesu diesen Anblick, der alle andern Juden mit Freude und Stolz erfüllte: »Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst die zur dir gesandten!« rief er in diesen Momenten der Bitterkeit aus, »wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihren Flügeln versammelt, und ihr habt nicht gewollt.« (Matth. XXIII, 37; Luk. XIII, 34.)
Nicht daß sich nicht auch hier wie in Galiläa mehrere gute Seelen rühren hätten lassen. Doch so stark war die vorherrschende Orthodoxie, daß nur wenige es zu bekennen wagten. Man fürchtete sich in den Augen der Jerusalemiter in Mißkredit zu bringen, wenn man der Schule eines Galiläers beiträte. Man hätte sich der Gefahr ausgesetzt, aus der Synagoge ausgestoßen zu werden, der größte Schimpf mitten einer bigotten, kleinlichen Gesellschaft. (Joh. VII, 13; XII, 42, 43; XIX, 38.) Überdies hatte die Exkommunikation die Einziehung des ganzen Vermögens zufolge. Aufgehört Jude zu sein, war man deshalb noch nicht Römer; schutzlos war man einer theokratischen Gesetzgebung von schärfster Strenge preisgegeben. Eines Tages kamen einige Unterbeamte des Tempels, die einen Vortrag Jesu angehört hatten und davon begeistert waren, zu den Priestern und vertrauten ihnen ihre Zweifel an: »Glaubt auch einer der Führer oder ein Pharisäer an ihn?« wurde ihnen geantwortet. »Das Volk, das nichts vom Gesetz weiß, ist verflucht.« (Joh. VII, 45.) So blieb denn Jesus ein Provinzler, bewundert von Provinzlern gleich ihm, doch verachtet von der ganzen Aristokratie des Volkes. Die Häupter von Schulen und Sekten waren zu zahlreich vorhanden, als daß es Aussehen erregen hätte können, einen mehr zu sehen. Seine Stimme hatte in Jerusalem wenig Gewicht. Die Vorurteile der Rasse und der Sekten, die direkten Feinde des evangelischen Geistes wurzelten hier zu tief.
Seine Unterweisungen änderten sich in dieser neuen Welt notwendigerweise sehr stark. Seine schönen Predigten, deren Wirkung stets auf die jugendfrische Phantasie und auf die Reinheit des sittlichen Gefühls der Zuhörer berechnet waren, fielen hier auf steinigen Boden. Er, der sich am Gestade seines kleinen reizenden Sees so wohl fühlte, war zaghaft, verlegen den Pedanten gegenüber. Seine beständigen Äußerungen über sich selbst wurden etwas langweilig. (Joh. VIII, 12 ec.) Er mußte Kontraversist, Exegist, Theologe werden. Seine Gespräche, sonst so voll der Reize, wurden zu einem Raketenfeuer von Disputen (Matth. XXI, 23–27), einer langen Reihe scholastischer Kämpfe. Sein harmonischer Geist schwächte sich in nutzlosen Argumentationen über das Gesetz und die Propheten (Matth. XXII, 23), wobei wir ihn zuweilen nicht gerne als Angreifer sehen. (Matth. XXII, 42.) Mit einer Nachgiebigkeit, die uns verletzt, geht er auf die verfänglichen Prüfungen ein, die ihn taktlose Zänkler unterziehen. (Matth. XXII, 36 ec.) Im allgemeinen zog er sich schlau aus der Verlegenheit. Seine Erörterungen waren zwar oft spitzfindig – Geisteseinfalt und Spitzfindigkeit berühren einander; wenn der Schlichtsinnige in Erörterungen sich ergeht, wird er immer etwas spitzfindig. Auch zeigt es sich, daß er manchmal Mißverständnisse herbeizieht und sie absichtlich lange unaufgeklärt läßt. S. besonders die Evang. Joh. VIII mitgeteilten Erörterungen. Allerdings ist die Autentität solcher Stellen nur eine relative. Nach den Regeln der aristotelischen Logik beurteilt, ist seine Argumentation sehr schwach. Wenn jedoch der unvergleichliche Reiz seines Geistes Gelegenheit hatte, sich zu bekunden, so triumphierte er. Eines Tages glaubte man ihn in Verlegenheit bringen zu können, indem man ihm eine Ehebrecherin vorführte und ihn fragte, was mit ihr geschehen solle. Jesu bewundernswerte Antwort ist bekannt. (Joh. VIII, 3.) Der feine Spott des Weltmannes, gemäßigt durch eine göttliche Güte, konnte sich in aller Kürze nicht besser ausdrücken. Indem Jesus mit so gerechtem und reinem Sinne die Worte aussprach: »Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie,« traf er die Heuchler ins Herz und mit demselben Stoß unterzeichnete er auch sein Todesurteil.
Es ist in der That möglich, daß Jesus ohne die Erbitterung, die er durch so viele bittere Bemerkungen hervorgerufen hatte, lange Zeit unbemerkt hätte bleiben können und sich in dem gewaltigen Sturm, der bald das ganze jüdische Volk fortfegen sollte, sich verlieren hätte können.
Die hohe Geistlichkeit und die Sadducäer hatten für ihn eher Verachtung als Haß. Die großen Priesterfamilien, die Boëthusim, die Hanan zeigten sich nur fanatisch in der Erhaltung der Ruhe. Die Sadducäer wiesen ebenso wie Jesus die »Traditionen« der Pharisäer zurück. (Joseph, Ant. XIII, X, 6; XVIII, I, 4.) Merkwürdigerweise waren just diese Ungläubigen, welche die Auferstehung, die Tradition, die Existenz der Engel leugneten die wahren Juden, oder genauer gesagt: da das einfache, alte Gesetz den religiösen Bedürfnissen der Zeit nicht mehr genügte, so würden die welche sich streng daran hielten und die Neuerungen zurückwiesen von den Frömmlern als Gottlose betrachtet, so etwa wie gegenwärtig in orthodoxen Ländern ein Protestant für einen Ungläubigen gehalten wird. Immerhin war es nicht diese Partei von der eine lebhafte Reaktion gegen Jesum kommen konnte, das offizielle Priestertum, das den Blick auf die politische Macht gerichtet hatte, mit der es eng verbunden war, begriff nichts von diesen enthusiastischen Bewegungen. Die pharisäische Bourgeoisie war es, die zahlreichen Schriftgelehrten, die von der Wissenschaft der »Tradition« lebte, die den Lärm machten und die wirklich auch durch die Lehre des neuen Meisters in ihren Vorurteilen und Interessen bedroht waren«
Eine der eifrigsten Bestrebungen der Pharisäer ging dahin, Jesus auf das politische Gebiet hinüberzuziehen und ihn in der Partei Judas des Goloniters zu kompromittieren. Die Taktik war geschickt; denn es brauchte die innige Gutmütigkeit Jesu, daß er trotz der Verkündigung des Reiches Gottes mit der römischen Behörde sich noch nicht überworfen hatte. Man wollte ihn bezüglich dessen zu einem klaren Ausspruch nötigen. Eines Tages kam eine Anzahl Pharisäer zu ihm, von der Partei, die Herodianer genannt wurde (wahrscheinlich Boëthusim) und sprachen im erheuchelten frommen Eifer: »Meister, wir wissen, daß du wahrhaftig bist und den Weg Gottes recht lehrst und nach niemand fragst. Darum sage uns, was dünkt dich? Ist es recht, daß man dem Cäsar Zins gebe, oder nicht?« Sie hofften auf eine Antwort, die ihnen einen Vorwand gäbe, ihn dem Pilatus zu überliefern. Jesus antwortete bewunderungswert. Er ließ sich das Bild der Münze zeigen und sprach: »Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist und Gott, was Gottes ist.« (Matth. XXII, 15; Mark. XII, 13; Luk. XX, 20. – Vergl. Talmud v. Jerus. Sanhed. II, 3.) Ein bedeutendes Wort, das über die Zukunft des Christentums entschieden hat. Ein Wort von vollendetem Spiritualismus und von einer wunderbaren Richtigkeit, das die Trennung des Geistlichen vom Weltlichen begründet hat und den Grundstein zur wahren Freiheit und wahren Civilisation gelegt.
Sein sanftes, durchdringendes Genie inspirierte ihn, als er mit seinen Jüngern allein war zu den köstlichen Worten: »Wahrlich, ich sage euch: wer nicht zur Thüre in den Schafstall hineingeht, der ist ein Dieb. Der aber zur Thüre hineingeht, der ist Hirte der Schafe. Die Schafe hören seine Stimme und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus. Er geht vor ihnen her und die Schafe folgen ihm nach, denn sie kennen seine Stimme ... Ein Dieb kommt nicht, denn daß er stehle, würge, umbringe. Der Mietling, den die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und er verläßt die Schafe und flieht. Ich bin ein guter Hirte, ich erkenne die Meinen und bin den Meinen bekannt. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.« (Joh. X, 1–16.) Der Gedanke einer nahen Lösung der Krisis der Menschheit überkommt ihm öfter. »Wenn der Feigenbaum saftig wird und Blätter gewinnt,« sprach er, »so wißt ihr, daß der Sommer nahe ist. Erhebet euere Augen und seht die Welt: sie ist reif für die Ernte.« (Matth. XXIV, 32; Mark. XIII, 28; Luk. XXI, 30; Joh. IV, 35.)
Seine kräftige Eloquenz fand sich immer wieder, wo es sich um Bekämpfung der Heuchelei handelte:
»Auf Moses Stuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles, was sie euch sagen, daß ihr halten sollt, das haltet und thut; aber nach ihren Werken sollt ihr es nicht thun. Sie sagen es wohl, doch sie thun es nicht. Sie binden schwere und unerträgliche Bürden und legen sie den Menschen auf den Hals; aber sie selbst wollen nicht einen Finger regen.
»Alle ihre Werke thun sie, daß sie von den Leuten gesehen werden können. Sie machen ihre Denkzettel (Tefillin) breit und die Schaufäden (Zitzith) an ihren Kleidern groß. Sie sitzen gern obenan über Tisch und in den Schulen und haben es gern, auf dem Markte gegrüßt zu werden und von den Menschen »Rabbi« genannt zu werden! ...
»Wehe euch ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen. Ihr kommt nicht hinein und die hineinwollen, laßt ihr nicht hineingehen. Wehe euch, die ihr der Witwen Häuser fresset und lange Gebete verwendet. Darum werdet ihr umsomehr verdammt sein. Wehe euch, die ihr zu Land und Wasser umherziehet, um einen Judengenossen zu machen, und wenn er es geworden ist, macht ihr aus ihm ein Kind der Hölle. Wehe euch, denn ihr seid wie die Gräber, die nicht scheinen und auf die man tritt, ohne es zu wissen. Die Berührung der Gräber machte unrein; auch grenzte man den Umkreis auf dem Boden genau ab.
Ihr Narren und Blinden, die ihr die Minze verzehntet, Till und Kümmel, und vernachlässigt das Schwerste im Gesetz, nämlich Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Glauben. Dies sollte man thun und jenes nicht lassen. Ihr verblendeten Führer, die ihr Mücken seiht und Kameele verschluckt.«
»Wehe euch Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Becher und Schüsseln auswendig reinlich haltet, inwendig aber sind sie voll Raub und Fraß. Die Reinigung des Geschirrs war bei den Pharisäern den kompliziertesten Regeln unterworfen (Mark. VII, 4). Du blinder Pharisäer reinige zuerst das Innere von Becher und Schüsseln, damit es auch außen rein werde. Luk. IX, 37, glaubt vielleicht nicht ohne Grund, daß dieser Vers bei einem Festmahle zur Antwort der nichtigen Gewissensskrupeln der Pharisäer diente.
»Wehe euch, Schriftgelehrten und Pharisäer, die ihr gleicht den übertünchten Gräbern (da die Gräber für unrein galten, so war es Brauch, sie mit Kalk zu übertünchen um vor der Annäherung zu warnen), die auswendig schön scheinen, innen aber voller Totenknochen und Unflats sind. Von außen erscheint ihr vor den Menschen fromm, inwendig aber seid ihr voller Heuchelei und Untugend.
»Wehe euch, Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Propheten Gräber baut, und schmücket der Gerechten Gräber und sprechet: Wären wir zu unserer Väter Zeiten gewesen, so wollten wir nicht teilhaft sein mit ihnen an der Propheten Blut. So gebt ihr zwar über euch selbst Zeugnis, die ihr Kinder seid derer, die die Propheten getötet haben. Wohlan erfüllt auch ihr das Maß der Väter. Die Weisheit Gottes hat wohl recht gehabt zu sagen: Die Quelle dieses Citates ist unbekannt geblieben. Ich sende euch Propheten, Weise und Schriftgelehrten; ihr werdet etliche ihrer töten und kreuzigen, etliche in neueren Schulen geißeln und werdet sie von Stadt zu Stadt verfolgen. Daß über euch komme all das gerechte Blut, das auf Erden vergossen ist, vom Blute des gerechten Abels an, bis aufs Blut Zachanas, Barachims Sohn, den ihr getötet habt zwischen Tempel und Altar. Wahrlich, ich sage euch, dies alles wird über dieses Geschlecht kommen.« (Es waltet hier eine kleine Verwirrung vor, die sich auch im Targum Jonathan ( Lament. II, 20) bei Zacharias, dem Sohne des Joida und Zacharias, dem Sohne Barachias, des Propheten, befindet. Es handelt sich um ersteren. (2. Paral. XXIV, 21.) Das Buch der Paralipomena, in dem die Ermordung des Zacharias, Sohn des Joida, erzählt wird, schließt den hebräischen Kanon.
Dieser Mord ist der letzte in der – nach der in der Bibel erscheinenden Reihenfolge – verzeichneten Liste ermordeter Gerechten. Der Mord Abels ist hier der erste Fall. – Matth. XXIII, 2–36; Mark. XII, 38–40; Luk. 39–52; XX, 46, 47.)
Sein fürchterliches Dogma von der Substitution der Heiden, dieser Gedanke, das Reich Gottes werde auf andere übertragen werden, da es diejenigen, für welche es bestimmt war, nicht wollten, Matth. VIII, 11, 12; XX, 1 ec.; XXI, 28–43; XXI, 1; Mark. XII, 1; Luk. XX, 9. kommt immer wieder, wie eine blutige Drohung gegen die Aristokratie, und sein Titel Gottessohn, den er offen bekannte, in den lebhaften Gleichnissen, in welchen seine Gegner als Mörder des Gottgesandten hingestellt werden (Matth. XXI, 37 ec.; Joh. X, 36 ec.), war eine Herausforderung des gesetzlichen Judentums. Der kühne Aufruf, der sich an die Erniedrigten wandte, war noch rebellischer. Er erklärte, gekommen zu sein, die Blinden sehend zu machen und die, welche zu sehen wähnen, blind. (Joh. IX, 39.) Eines Tages entriß ihm sein Ärger gegen den Tempel ein unüberlegtes Wort: »Ich will diesen Tempel, der von Menschenhand errichtet ist, abbrechen und in drei Tagen einen andern bauen, der nicht mit den Händen aufgerichtet wird.« Die authentische Wiedergabe dieser Äußerung scheint bei Mark. XIV, 58; XV, 59 zu sein. Vergl. Joh. II, 19; Matth. XXVI, 61; XXVII, 40. Wir wissen nicht recht, welchen Sinn Jesus diesen Worten beilegte, in denen seine Jünger gezwungene Allegorien suchten. Doch da man einen Vorwand brauchte, wurde dieser Ausdruck stark hervorgehoben. Wir finden ihn noch in den Motiven des Todesurteils Jesu und er sollte noch während der letzten Todesqualen auf Golgatha in seinen Ohren widerhallen. Diese aufregenden Diskussionen endeten immer mit einem Sturme. Die Pharisäer bewarfen ihn mit Steinen (Joh. VIII, 39; X, 31; XI, 8), wobei sie nur die Gesetzesvorschrift erfüllten, die erheischt, daß jeder Prophet, selbst wenn er Wunder wirkte, gesteinigt werde, ohne ihn weiter anzuhören, so er das Volk dem alten Kultus abwendig machen wollte. (V. Mos. XIII, 1. Vergl. Luk. XX, 6; Joh. X, 33; 2. Korinth. XI, 25.) Dann wieder wurde er verrückt, besessen, Samariter gescholten, oder ihn zu töten versucht. (Joh. X, 20. – Joh. V, 18; VII, 1, 20, 25, 30; VIII, 37, 40.) Man lauerte auf seine Worte, um gegen ihn die Gesetze einer unduldsamen Theokratie anzuwenden, die von der römischen Herrschaft noch nicht aufgehoben worden waren. (Luk. XI, 53, 54.)