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Weder die Befürchtungen des scharfsichtigen, königlichen Geheimagenten Paolini, noch die Mitteilungen Tommasos, des alten Kammerdieners des Re galantuomo, waren im entferntesten übertrieben gewesen. Durch die sonst so ruhigen und harmonischen Akkorde des Turiner Stadtlebens ging an diesem Tage, an welchem gegenwärtig der Lauf unserer Erzählung angelangt ist, ein seltsames, unruhiges Vibrieren, wie ein leises Vorspiel zur Auflösung aller dieser melodischen Akkorde in die wildeste Disharmonie.
Die mazzinistischen Hetzer stimmten, ihren Instruktionen gemäß, mit regem Eifer die Instrumente.
Die Nachricht von dem Abschlusse der Konvention, welche von den maßgebenden Kreisen, wie wir gesehen, noch einige Tage hatte zurückgehalten werden sollen, um den braven Turinern diese bittere Medizin möglichst teelöffelweise und mit starkem Zusatze diplomatischen Zuckers einzugeben, hatte sich, wie vorauszusehen war, gleich einem Lauffeuer durch ganz Turin verbreitet. Die Agenten der mazzinistischen Partei hatten ihr Möglichstes getan, um namentlich die niederen, jeder Aufwiegelei leichter zugänglichen Kreise mit sämtlichen Punkten der Konvention bekannt zu machen, natürlich wesentlich in dem Lichte gesehen, wie es ihnen am besten paßte.
Die Tatsache der Verlegung der Residenz wurde natürlich mit den lebhaftesten Farben ausgeschmückt und mit einem wahren Kranze von Mythen verziert, welche wohl geeignet waren, die empfänglichen Gemüter zur höchsten Erregung zu entflammen.
Vor den Türen der Osterien standen allenthalben lebhaft disputierende und nicht minder lebhaft gestikulierende Gruppen, deren erhitzte Gesichter zeigten, daß, wie stets bei solchen Gelegenheiten, wo angeblich das »allgemeine Wohl« auf dem Spiele steht, der entflammte Lokalpatriotismus nicht ermangelt hatte, in den Kehlen der Arbeitsbevölkerung und des Proletariats einen vollständig auf gleicher Stufe stehenden – Weindurst zu entzünden.
Am lebhaftesten ging's in der Umgegend des Palazzo Madama zu. Daselbst schien sich, geleitet durch eine unsichtbare Hand, die Bewegung zu konzentrieren.
Wer freilich genauer mit den Tatsachen vertraut war, würde unschwer den Ort entdeckt haben können, wo jene unsichtbare Hand steckte, in welcher alle die Fäden zusammenliefen. Verfolgen wir nur einmal diesen patriotisch entflammten Turiner in der Tracht eines schlichten Arbeiters, mit breitem Schlapphut und blauen Leinwandhosen, die nur mit großer Anstrengung bis an die Knöchel seiner entschieden plebejisch geformten Füße reichen.
Er hat eben mit einigen Kollegen in der Osteria, dicht an der Piazza del Castello, ein erhitzendes politisch-spirituoses Meeting abgehalten. Natürlich hatte man sich weidlich in die Wut hineingeredet, und dem Könige Ehrenmann müssen die Ohren geklungen haben von all den wenig schmeichelhaften Varianten, welchen seine Titulatur am Kneiptische unterzogen worden war. Und – ein Wunder war diese plötzliche Animosität gegen den König kaum zu nennen. Ging's doch von Mund zu Mund, daß er sich mit Leib und Seele an den Kaiser von Frankreich verkauft habe, was bei den mit schlichteren Verstandeskräften und sehr mangelhaften Begriffen von politischen Transaktionen ausgestatteten Turinern dunkle Vorstellungen von einem Pakte mit dem Gottseibeiuns erweckt hatte.
Der Agent wies eifrig auf den Platz hin, auf welchem sich bereits unruhige Gruppen zusammenzustauen begonnen hatten.
»Bei der Mutter Gottes von Loretto,« rief er, »seht dort, Jungens, ich glaube wahrhaftig, halb Turin denkt heute so wie wir und will aus purem Ärger einen Hexentanz um den Palazzo Madama aufführen!«
» Cospetto!« rief einer aus der Gruppe. »Was mag da vorgehen?«
»Ei, Tonello!« rief der Agent. »So sperrt doch die Augen auf und seht. Es sind Leute, denen ein Licht aufgegangen ist über die sogenannte Einigkeit Italiens unter französischer Faust. Protestieren wollen sie! Sie wollen zeigen, daß noch gutes, heißes Piemonteser Blut in ihren Adern rollt, und daß es ihnen nicht gleichgültig ist, wenn sich unser Vittore Emanuele Stück für Stück von seinem Lande wegstibitzen läßt.«
»Bah,« rief ein alter Arbeiter, welcher an die Gruppe herangetreten war. »Ihr übertreibt, Mann. Victor Emanuel liebt sein Vaterland so gut, wie Ihr, wenn nicht mehr.«
»Und die Frauenzimmer liebt er noch tausendmal mehr,« rief der Agent giftig.
»Was geht's uns an,« erwiderte der Alte achselzuckend, »wenn er sonst seine Pflicht als König erfüllt. Ihr seht mir auch nicht aus, als hättet Ihr Euer Lebtag in einem Mönchskloster gesteckt.«
»Schwätzt keinen Unsinn, Alter,« rief der Agent ärgerlich. »Ihr wißt recht wohl, was heute das schläfrige Turin in den Harnisch gebracht hat.«
» Affé di Dio! Ich weiß es, und so wahr ich die Kugeln von Solferino mir um den Kopf habe pfeifen hören, ich hätte nicht geglaubt, daß unsere Turiner sich so leicht ins Bockshorn jagen lassen. Es ist eine Schande für unsere Stadt, die immer treu zum Könige gehalten.«
» Imbecille!« rief einer der Arbeiter, ein jüngerer Mann mit wilden, glühenden Augen, welche von beträchtlichem Weingenusse erzählten. »Wer will dem Vittore Emanuele etwas anhaben?«
»Nun, was wollt ihr denn? Was schreit ihr denn auf den Straßen herum und zecht euch in den Osterien für euere letzten Paar Lire, die ihr lieber euren Weibern Heimtragen solltet, die Schädel warm?«
»Hört, mein lieber Mann,« rief der Agent, dem dieser Apostel der Friedfertigkeit keineswegs willkommen war, »Ihr tätet gescheiter, Eurer Padrona unter die Schürze zu kriechen, ehe Euch heute ein Paar derber Turiner Fäuste klar machen, daß wir mit der Schlafmützigkeit nicht mehr vorwärts kommen. Zum Teufel und seiner Großmutter mit dem Turiner, der ruhig mit zusehen und womöglich sein abgedroschenes Evviva il re galantuomo brüllen kann, wenn er sieht, wie unsere alten Privilegien uns entrissen werden und der Wohlstand unserer Stadt mit einem Male vernichtet werden soll, bloß weil unser König der gehorsame Diener des französischen Kartätschenkaisers ist!«
»Ihr nehmt ja den Mund verteufelt voll, Signore,« erwiderte der Alte mit spöttischem Lächeln. »Unser guter Vittore sieht vielleicht noch etwas weiter, wie Ihr, wenn Ihr auch ein barbarischer Schlaukopf seid. Und er mag wohl manches tun müssen, was ihm selbst gegen den Kamm geht. Daß er Turin über alles liebt, wißt Ihr so gut, wie ich. Und wäre selbst alles wahr, was Ihr sagtet – würde denn euere Zecherei und euer Brüllen und Zusammenlaufen es auch nur um einen Deut ändern oder besser machen?«
Der mazzinistische Agent war im Innern ernstlich aufgebracht über die unerwünschte Einmischung des Alten und fürchtete den Einfluß der unerschütterlichen Ruhe und Mäßigung desselben auf die von Wein und Leidenschaft erhitzten Gemüter. Er hatte nicht übel Lust, einen handgreiflichen Streit zu provozieren, um den unbequemen Moralprediger auf möglichst einfache und zugleich nachhaltige Art loszuwerden, und schon hatte er eine heftige Antwort auf den Lippen, als ein lauter Lärm, der von dem unteren Ende der Straße hertönte, ihm das Wort abschnitt.
Die Aufmerksamkeit der Gruppe sowohl, wie aller Passanten, richtete sich dem tobenden Geschrei zu, das von dort her erscholl. Es war ein großer Trupp von Menschen, wie es schien aus den verschiedensten Klassen der Turiner Bevölkerung zusammengewürfelt, welcher johlend und schreiend sich zum Platze zuwälzte.
» Evviva il Podesta!« tönte es. » Evviva il Signore Rora! Evviva il conciglio municipale!«
Wunderbar genug mußten einem nüchtern-unpatriotischen Beobachter diese Rufe klingen!
In einer Stadt, durch deren Straßen das Lauffeuer des Aufruhrs zu zucken beginnt, bringt eine Bande halbberauschter »Rebellen« jubelnd begeisterte Hochs aus – auf den weisen Magistrat der Stadt!
Ein Lächeln des Triumphes zuckte über das Gesicht des mazzinistischen Agenten, bei Annäherung des tumultuierenden Haufens:
» Eccolà poltrone!« rief er dem friedliebenden Alten, welcher die Wirkung seiner Brandreden mit dem Wasser kalten Räsonnements zu löschen gedroht hatte, zu. »Wollt Ihr Eure Ohren aufsperren und hören? Ist das blindes Geschrei und Straßenaufruhr, wie Ihr Euch auszudrücken beliebtet? Ist das eine Schmach für unsere Stadt, wenn die ›Aufrührer‹ unserer Obrigkeit zujauchzen?«
Dem Aufwiegler, der die Stimmung in der Stadt seit mehreren Tagen studiert, waren natürlich die Ursachen jener Evvivas sogleich vollständig klar. Er erkannte sofort, daß der Munizipalrat von Turin sich auf die Seite des Volkes geschlagen hatte.
»Bei meinem Schutzpatron,« knurrte der hartnäckige Royalist und Veteran von Solferino der sich nähernden Prozession mit keineswegs sehr patriotisch-begeistertem Ausdrucke entgegenblickend. »Lieber wär mir's, ich hörte die Bande ein kräftiges Evviva il Re Vittore Ernanuele brüllen, mit allem Respekt vor Sr. Exzellenza dem Signore Rora und dem edlen Grafen Ponza di San Martino.«
Ein lautes Gelächter der Umstehenden lohnte diesen Ausdruck der Loyalität.
»Ja, ja, Alter. Ihr seht, der Munizipalrat von Turin ist auch unter die Rebellen gegangen und das Volk jubelt ihm zu!« rief der Mazzinist höhnisch. »In unseren Ratsherren fließt noch gut Turiner Blut, daß sich nicht die Stadt über dem Kopfe weg an einen fremden Abenteurer verschachern läßt. Ein Hoch unserem edlen Signore Rora!«
Obgleich die inzwischen zu einem ansehnlichen Haufen au gewachsene Gruppe vor der Türe der Osteria, vermehrt durch die aus den Nachbarhäusern herangetretenen Personen, welche das laute Wortgefecht zwischen dem alten Arbeiter und dem mazzinistischen Aufwiegler herangelockt, noch nicht einmal einen völlig klaren Begriff über die Gründe der plötzlichen Begeisterung für die weisen Väter der Stadt hatte, so stimmte doch fast jeder in das ausgebrachte Hoch ein, und vermehrte so den wüsten Lärm nach Kräften.
Eine Anzahl Gendarmen, welche bisher, wie die Katze um den heißen Brei, die auf den Piazza del Castello aufgestaute Volksmenge umkreist hatte, ohne jedoch genügende Veranlassung zur Ausübung ihrer obrigkeitlichen Autorität zu finden, kam eiligen Schrittes auf die lärmende Gruppe zugelaufen.
Einer derselben war voreilig genug, den Mazzinisten, dessen stark proletarisch angehauchtes Exterieur auf den Diener der heiligen Hermandad unwillkürliche Anziehungskraft auszuüben schien, recht unsanft beim Kragen zu fassen.
»Was in des Teufels Namen gibt's hier zu schreien, Leute!« rief er, erregt durch die spitzen und höhnischen Bemerkungen, die er samt seinen Kollegen schon drüben auf dem Platze hatte verschlucken müssen. »Macht, daß ihr nach Hause oder an euere Arbeit kommt. Seid ihr alle insgesamt verrückt geworden?«
Ein wildes Johlen seitens der Menge beantwortete diese nicht gerade höfliche Apostrophe, und manche Faust streckte sich aus, um den verkappten Mazzinisten mit Gewalt aus dem obrigkeitlichen Griffe zu befreien. Doch dieser, dem es weder an Körperkraft, noch an der nötigen Energie gebrach, hatte bereits Selbsthilfe angewandt und sich mit einem kräftigen Rucke aus dem eisernen Griffe des Gendarmen befreit.
»Laßt mich los, Mann,« schrie er, »oder nehmt die Folgen auf Euch.«
Mit beträchtlicher Schnellkraft flog der Polizeimann in die Arme seiner Kollegen.
»Seht ihr, Kameraden,« rief der Mazzinist, dem dieses Intermezzo natürlich Wasser auf seine Mühle war, den Arbeitern zu. »Seht ihr, wie weit es in unserem guten Turin gekommen ist? Ruhige Bürger dürfen am hellen, lichten Tage nicht einmal mehr auf ihren Magistrat ein Hoch ausbringen, ohne wie Briganten von der königlichen Polizei beim Kragen gefaßt zu werden. Versucht's einmal mit einem Evviva auf den Franzosenkaiser, der bald ganz Italien in der Tasche haben wird! Vielleicht gefällt das den Herren Gendarmen besser!«
Der von dem Stadthause herkommende Volkshaufe war inzwischen herangekommen. Die Spitze desselben hatte sowohl das energische und etwas grobe Eingreifen der Gendarmerie, wie die laut geschrienen Worte des Mazzinisten gehört. Letztere fanden natürlich ebenso warme Sympathie, wie lauten, tobenden Widerhall.
» Eccellentissime!« »Bravo, Bravo!« So tönte es wild durcheinander.
» Dio mi guardi! Bei der Seele des Papstes – wir wollen keine römische oder neapolitanische Polizeiwirtschaft unter dem Protektorate von Badinguet, wie ihn seine getreuen Untertanen nennen,« schrie ein vierschrötiger Schlächtergeselle, indem er drohend seine respektablen Fäuste gegen die Diener der heiligen Hermandad schwang, Fäuste, deren Dimension außerordentlich vielversprechend war, wenn es von ihnen abgehangen hätte, der angeblichen Polizeiwirtschaft ein Ende mit Schrecken zu bereiten.
» Maledetto, Kerl!« schrie einer der Gendarmen, unerschrocken auf den riesigen Burschen eindringend. »Unterstehe dich, deine Hand gegen die Obrigkeit zu erheben, die im Namen des Königs auf Ordnung zu halten hat, und, beim Allerheiligsten in der Kathedrale von Turin, wir wollen dir deine Knochen zusammenschnüren, daß du ein paar Monate lang kein Milchkalb mehr stechen kannst!«
Ein lautes, höhnisches und wütendes Geheul der immer mehr anwachsenden Menschenmenge beantwortete diesen grimmigen Ausfall des Polizeimannes.
Die Adern in dem rohen Gesichte des trunkenen Fleischergesellen schwollen fingerdick an, und mit triumphierendem Lächeln sah der Mazzinist, wie die kräftige Faust des Burschen auf den Kopf des Gendarmen herniedersauste. Das Blut schoß dem Unglücklichen aus Nase und Mund, und wie ein Stier unter dem Beile des Schlächters, sank er mit einem ächzenden Laute zu Boden.
Bei der notorischen Heißblütigkeit der streitenden Parteien und dem geschickten Manöverieren des hetzenden Mazzinisten, wäre diese Tat des wütenden Fleischerburschen unfehlbar das Signal zum Ausbruche einer allgemeinen blutigen Schlägerei geworden, wenn nicht in diesem Augenblicke ein jüngerer, anscheinend einer höheren Bildungsstufe angehöriger, und nicht wie die andern sämtlich unter den Folgen eines wüsten Zechgelages laborierender Mann, mit raschem Griff dem Gefährten des zu Boden geschlagenen Polizisten in den Arm gefallen wäre, gerade als dieser mit gezogenem Säbel auf den Schlächtergesellen einzuhauen im Begriffe war.
» Ferma, ferma, Signore!« schrie er, mit kräftigem Arme und unter Gefährdung seiner eigenen Schädelhaut die Hand des zornigen Gendarmen erfassend. »Wir sind nicht hier, um uns gegenseitig, infolge von albernen Mißverständnissen, totzuschlagen. Ihr Leute!« fügte er, zu seinen Begleitern gewendet, hinzu, »vergeßt nicht, daß wir die Verpflichtung haben, unseren Mitbürgern, die dort auf der Piazza del Castello auf uns warten, Nachricht von dem zu geben, was wir auf dem Stadthause gehört. Und ihr, Signori von der Polizei, solltet vorsichtiger sein und euch erst überzeugen, ob ihr mit Vagabonden oder ruhigen Bürgern von Turin zu tun habt, ehe ihr zugreift. Kommt, kommt, Kameraden, nach der Piazza. Die Bürger von Turin sollen hören, daß unser Gemeinderat, dank den zündenden Reden des Podesta Rora und des Grafen Ponza di San Martino, sich einmütig gegen die Verlegung der Residenz von Turin ausgesprochen hat, und Tag und Nacht in Sitzung verbleibt, bis diese unselige Angelegenheit, die uns der Franzosenkaiser, der die Regierung möglichst weit weg von der französischen Grenze haben will, angezettelt hat, zu aller Zufriedenheit geordnet ist. Kein Blutvergießen, Mitbürger! Turin hat durch Jahrhunderte den Ruhm der Friedlichkeit, der Besonnenheit und der Loyalität genossen – laßt uns diesen Ruf nicht durch unnütze Torheit und Hitzköpfigkeit mit einem Schlage zunichte machen und uns der Gefahr aussetzen, daß die andern Städte höhnend mit den Fingern auf uns weisen. Wir protestieren gegen den Schritt der Verlegung, weil es ein Teufelsstreich Napoleons ist, weil es die Ehre und den Wohlstand unserer Stadt untergräbt, – aber wir protestieren in Ruhe und Ordnung, und wollen kein Blutvergießen. Vergeßt nicht, Kameraden, daß wir unser Blut besser verwenden können, als es hier auf den Straßen unserer Heimatstadt im Kampfe gegen unsere eigenen Landsleute zu verspritzen. Der Tag wird vielleicht bald kommen, wo uns der König von Italien, befreit aus den Schlingen, welche Frankreich und die Pfaffen ihm gelegt, anführen wird gegen den auswärtigen Feind, gegen Usurpatoren, gegen Unterdrücker unseres schönen, freien Landes – dann, Kameraden, wollen wir kämpfen, dann wollen wir unser Blut für einen besseren und edleren Zweck hingeben. Unser Blut, und wenn's sein muß, unser Leben! Kommt, kommt Kameraden, seht die Menschenmassen auf der Piazza, dorthin gehören wir jetzt. Laßt den Streit mit den Gendarmen!«
Der Vereinigung wahrer, patriotischer Begeisterung mit weiser Mäßigung und Vorsicht, welche in dieser, gleichwohl mit einer gewissen kecken Nichtachtung der obrigkeitlichen Macht der Gendarmen hervorgebrachten Ansprache lag, wirkte wie ein Glas Selterwasser auf das Hirn eines Berauschten. Prickelnd und belebend – zugleich auch niederschlagend und beruhigend.
Die Gendarmen waren schlau genug, einzusehen, daß ihnen, trotz der Haudegen, gegenüber dieser Übermacht nichts übrig blieb, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Mit drohenden Mienen zwar und einigen kräftigen Verwünschungen auf den Turiner Mob zogen sie sich, den noch halb betäubten Kameraden in ihrer Mitte führend, unter dem höhnischen Gelächter der Menge zurück.
Der Mazzinist war zwar über diesen Strich durch seine Rechnung – denn er hatte bestimmt gehofft, daß dieser Vorfall Anlaß zu einem ernsten Handgemenge werden würde – keineswegs erfreut, bezähmte aber klugerweise seinen Unwillen und tröstete sich mit der Tatsache, daß auf dem Platze vor dem Palazzo Madama die Zahl der unruhigen Köpfe nunmehr rasch zur Legion anwachsen würde, und daß alsdann ein ernstes Einschreiten der bewaffneten Macht unumgänglich notwendig, und ein daraus resultierender Konflikt mehr denn wahrscheinlich sein würde.
Die augenblickliche Verwirrung benutzend, machte sich der schlaue Patron eiligst aus dem Staube. Ehe wir ihm folgen, müssen wir noch einen Blick auf den jungen Mann werfen, aus dessen Munde wir soeben jene begeisterte und besänftigende Ansprache an die Menge vernommen.
Es war ein stattlicher, schlank gebauter Mann, etwa fünfunddreißig Jahre alt, dessen sonnengebräuntes, intelligentes Gesicht ein dunkler Vollbart einrahmte, der im Verein mit den dunklen, scharf blickenden Augen, dem ganzen Gesichte einen vertrauenerweckenden Ausdruck von Festigkeit und Energie gab.
Der alte Arbeiter, der mit unverkennbarem Interesse auf den Sprechenden geblickt hatte und auch jetzt, während derselbe mit dem immer noch erbostes, trunkenen Schlächter parlamentierte, kein Auge von ihm verwandte, trat nach kurzem Zögern, und nachdem er noch einen halb forschenden, halb ironischen Blick dem davonschleichenden Propagandisten nachgeworfen, auf den Mann zu, dessen feine aber einfache Kleidung ihn auch äußerlich ganz bedeutend von den ihn umgebenden Gestalten unterschied.
Der alte Mann, dessen muskulöse, kleine aber kraftvolle Gestalt und sonnengebräuntes Gesicht eher auf die Beschäftigung mit Pflug und Egge, als auf irgendein Handwerk intra muros schließen ließ, legte behutsam die Hand auf die Schulter des jüngeren Mannes, als dieser sich eben anschickte, mit seinen Begleitern der Piazza del Castello zuzuschreiten.
» Perdono, Signore Giudice!« sagte er, mit der andern Hand seinen Hut zu höflichem Gruße lüftend.
Der Angeredete wandte sich um und blickte einen Moment, nicht unfreundlich zwar, aber mit dem Ausdrucke des Erstaunens in das Gesicht des Arbeiters.
Doch plötzlich machte der überraschte Ausdruck seines Gesichtes der Miene freudigen Erkennens Platz.
» Dio mio!« rief er, die Hand des Alten erfassend und derb schüttelnd. »Seid Ihr's, mein wackerer Taddeo? Meiner Treu, das ist ein ebenso seltsames, wie freudiges Zusammentreffen. Bin ich doch des Titels Giudice so entwöhnt, daß mir's für den Augenblick schien, als hättet Ihr Eure Rede an die unrechte Person adressiert.«
»Bei der heiligen Madonna, Signore Moretto,« sagte der uns als Pächter des Gehöftes Il Prugnolo bekannte Alte, »ich hab' Euch bei den ersten Worten wieder erkannt, die Ihr soeben zu diesen Hitzköpfen hier gesprochen. War es doch immer Euer Talent, aufgeregte Burschen mit vernünftigen und ruhigen Worten zur Räson zu bringen. Doch – seid Ihr schon lange Zeit in Turin?«
»Über ein Jahr, mein wackerer Taddeo,« erwiderte Simone Moretto lächelnd. »Seit der blutigen Affäre in dem alten Eulenneste meines seligen Onkels, war mir der Boden in Neapel doch etwas zu heiß geworden; doch begab ich mich weniger um meinetwillen, als wegen Ginevra hierher, die ich unmöglich weiter ähnlichen Gefahren aussetzen durfte, als sie in diesem Brigantenneste Neapel schon durchgemacht.«
»So ist il avarone – Verzeihung, Signore, ich meine: so ist Euer Oheim tot?«
»Tot, Taddeo,« erwiderte Simone, »nachdem er sich endlich des quälenden Gedankens entschlagen hatte, daß seine lieben Verwandten, und der Neffe Giudice an der Spitze, vor Ungeduld zitterten, in den Besitz seiner Goldfüchse zu gelangen.«
»Hm – was die Goldfüchse anbetrifft,« sagte der andere, indem er sich mit komisch-ingrimmiger Miene im grauen Haare kraute, »so haben an jenem unvergeßlichen Tage, dessen Erinnerung die Heilige Jungfrau mir aus meinem Gedächtnisse wischen möge, die Briganti verteufelt wenig übrig gelassen.«
» Si, si, Alter, es war freilich ein furchtbarer Tag, und die darauf folgenden wohl noch weit furchtbarer, aber dieser, indessen – mein Onkel war kein Narr, den Briganten seinen geliebten Mammon auf den Präsentierteller zu legen, so daß sie nur zuzugreifen brauchten. Mit Gottes und des treuen Jankals Hilfe, dessen du dich wohl auch noch erinnern wirst, gelang es uns, noch genug von dem glänzenden Zeuge zu bergen. Nicht soviel natürlich, als dem alten Herrn – Gott hab' ihn selig – lieb gewesen wäre, denn er konnte bis an sein Lebensende den verfluchten Briganten den Streich nicht vergessen, – allein jedenfalls mehr, als ich und meine liebliche Ginevra brauchen, oder jemals brauchen werden, um mit einander glücklich zu sein.«
» Sanctissima mater!« rief der Ex-Pächter, die Hände zusammenschlagend. »So ist die schöne Signorina, Eure Base, jetzt Euer Weib, wenn ich Euch recht verstanden, Signore Giudice?«
»Freilich ist sie das, mein wackerer Taddeo,« antwortete Simone, indem ein glückliches Lächeln sein offenes, männliches Gesicht erhellte. »Und zwar das beste, liebenswürdigste Weib, daß irgendein Sohn Italiens zwischen Syrakus und Turin zu finden vermöchte. Doch« – fügte er mit einem Blicke auf die dem Platze zuwogenden Menschenmassen hinzu, »ich habe heute wenig Zeit zur Auffrischung alter Erinnerungen; sage mir rasch, was in aller Welt Euch von dem schönen Il Prugnolo auf das langweilige Straßenpflaster von Turin verschlagen hat?«
Der Alte zuckte mit den Achseln.
» Ebbene – ich wäre wohl noch bei meinem Gehöfte geblieben, wenn dieses bei mir geblieben wäre.«
»Geldverlegenheiten, Taddeo, he?«
»Nun ja, Signore Giudice, die kamen freilich sehr rasch hinzu, allein – sie wären wohl niemals gekommen, hätten mir nicht die schurkischen Banditen – der Teufel möge ihre Seele ewig im Feuer rösten – Haus und Hof über dem Kopfe angezündet. Sie wissen, Signore, daß sie mir die Expedition nach dem Castello niemals vergessen konnten. Die Rache kam spät nachgehinkt, aber sie kam sicher und hat mich verteufelt schwer getroffen. Meine padrona ist ein Turiner Kind und hat einen Bruder hier wohnen, der Maurermeister ist. Ebbene – wir hatten alles verloren, Herr, was wir uns mühsam zusammengespart, denn die Briganten nahmen uns erst gründlich aus, ehe sie uns den roten Hahn aufs Dach steckten, und so blieb uns denn nichts Besseres übrig, als uns hierher nach Turin zu wenden. Mein Schwager Carlo nahm uns mit offenen Armen auf, und ich helfe ihm bei der Arbeit, so gut ich's in meinen alten Tagen kann.«
»Armer Taddeo,« sagte der Richter, dem alten Manne mit der Miene herzlichen Bedauerns die Hand reichend. »Ist mir's doch fast, als trüge ich einen Teil der Schuld an Eurem Unglück. Hätte ich Euch damals nicht den verwundeten Spitzbuben über den Hals gebracht und Euch in meine Angelegenheiten verwickelt, so säßet Ihr vielleicht heute noch auf Eurem Gehöfte. Nun – um so mehr freut mich's, daß uns das Schicksal wieder zusammengeführt hat. Ich hoffe sicherlich, etwas für Euch tun zu können, Taddeo. Kommt, sobald es Eure Zeit erlaubt, nach der Casa Ginevra, auf der Strada Bianca, und wir wollen weiteres besprechen. Jetzt ist hierzu keine Zeit. Ihr sollt alsdann auch erfahren, welchen wunderbaren Umständen ich die Errettung Ginevras verdanke, und was sich alles zugetragen, seit meine Carabinerie Euch von den Fesseln befreiten, welche die Schurken Euch angelegt. Jetzt lebt wohl. Ihr seht, das Schicksal hat mich wieder mitten in die Bewegung hineingeworfen, und ich will wenigstens mein Möglichstes tun, meine Turiner Landsleute vor übereilten Handlungen zu bewahren,«
Der alte Mann reichte Simone Moretto seine Hand.
»Bei meinem heiligen Schutzpatron, Signore Giudice,« sagte er, »ich habe seit jenen traurigen Tagen lange nicht eine solche Freude gehabt, als die, Euch heute hier so wunderbar anzutreffen. Aber corpo di Christo, ich hätte Euch lieber in anderer Gesellschaft gesehen, als unter diesen aufgeregten, betrunkenen Gesellen, welche von spitzbübischen Aufwieglern zu ihrem eigenen Unheil an der Nase herum geführt werden. Zieht Euch aus der Sache, Signore Giudice, ich glaube nicht, daß es gut abläuft.«
»Beruhigt Euch, Alter,« entgegnete der Richter lächelnd. »Ihr wißt, ich habe von jeher die Ambition gehabt, mich in öffentliche Angelegenheiten zu mischen, so oft ich mir auch dabei die Finger verbrannt habe. Daß hier Hetzerei dahinter steckt, weiß ich so gut wie Ihr, Taddeo, aber ich weiß auch, daß die Leute bis zu einem gewissen Grade recht haben, der Regierung zu zeigen, daß sie die französische Bevormundung, die noch ganz Italien ins Unglück stürzen wird, herzlich satt haben. Glaubt mir, daß niemand eine größere Verehrung für unseren, re galantuomo haben kann, als ich, und weil dies der Fall, habe ich mich in die Sache eingemischt. Ich will nicht aufwiegeln, sondern gerade den Hetzereien der Mazzinisten die gefährliche Spitze abbrechen, indem ich die Bewegung in ein ruhigeres Fahrwasser zu lenken suche. Vielleicht hätte es schon heute morgen einen allgemeinen Krawall gegeben, wäre es mir nicht gelungen, die Leute davon zu überzeugen, daß sie den städtischen Behörden den formellen Protest überlassen müssen. Ihr habt gehört, was wir auf dem Stadthause ausgerichtet haben, und wenn die Menge dort auf dem Platze wissen wird, daß der Munizipalrat von Turin auf der Seite des Volkes steht, so wird der mit mazzinistischem Gelde erzeugte Weindunst in den aufgeregten Köpfen der Leute bald ruhiger Überlegung Platz machen. Nein, nein, Taddeo, seid unbesorgt, ich gehöre nicht zu den Hetzern und Aufwieglern, und wenn ich meine Mission in dieser Sache erfüllen kann, dann wird kein Makel auf die Ehre Turins fallen.«
Mit diesen Worten reichte Simone Moretto dem alten Manne abermals die Hand und schärfte ihm alsdann nochmals ein, sich schon am nächsten Tage in der angegebenen Wohnung des Richters einzufinden. Dieser sagte natürlich mit Freuden zu, und Simone lenkte, von dem ihn umgebenden Menschenschwarm geleitet – ein Teil seiner Gefährten war inzwischen schon lärmend und Evvivas rufend vorausgegangen, – den Weg nach dem Platze ein.
Unter der Gruppe von Männern, welche die unmittelbare Eskorte des Richters bildeten, befand sich auch eine Gestalt, die unter anderen Umständen zweifellos die allgemeinste Aufmerksamkeit und Neugier auf sich gezogen hätte.
Es war ein hoher, auffallend kräftig gebauter Mann von etwa fünfzig Jahren, dessen muskulöse Gestalt, mit den breiten Schultern und dem unförmig stark entwickelten Bau des Kopfes, hoch über die andern Begleiter des Richters hervorragte. Er trug die gewöhnliche europäische Kleidung, und dieser nach zu urteilen, hätte man ihn wohl für ein Turiner Kind halten können, hätte nicht sein dunkelfarbiges Gesicht und sein dichtes, wolliges Haar in grellem Kontrast zu dem äußerst zivilisierten Leibrock gestanden.
Dieser Sohn der Trope – ein solcher war es unzweifelhaft – schien dem eilig voranschreitenden Richter ein ganz besonderes Interesse zu schenken. Sein scharfes Auge schweifte beständig im Kreise umher, kehrte aber eben so regelmäßig auf Simone Moretto zurück. Es sah aus, als wollten diese wachsamen Augen eine Art Sicherheitsmauer um die Person des Richters aufführen, um diese vor jedem aus dem Umkreise kommenden, unvorhergesehenen Angriffe zu beschützen.
Ein elektrischer Schlag schien plötzlich die Glieder Jankals, des Madagassen, denn der stumme Diener des alten Geizhalses war nun der treue Diener seines Neffen, zu durchzucken. Sein Kopf senkte sich ein wenig und der Oberkörper zog sich unmerklich zusammen. Er erinnerte in diesem Moment an eine Katze, die in nächster Nähe einen Vogel entdeckt hat und sich zum Sprunge duckt. Er blieb einen Augenblick wie unschlüssig, stehen. Blitzschnell flog sein Auge hinüber zu seinem Herrn, ebenso rasch kehrte es auf einen bestimmten Punkt in einer engen Seitenstraße zurück und nahm einen unheimlich starrenden Ausdruck an. Gleich darauf blieb Jankal wirklich stehen, sprang mit elastischem Satze auf die offen stehende Tür eines nahe gelegenen Hauses zu und lehnte sich an einen der Seitenpfosten, während sein Auge unverwandt einen bestimmten Gegenstand zu fixieren schien. Wenige Häuser weiter die Straße hinauf, auf der gegenüber liegenden Seite, unter dem Fenster einer Trinkstube unterster Ordnung, stand ein junger Mann, der mit nicht minder regem Interesse die zur Piazza del Castello vorbeiziehende Menschenmenge beobachtete, wie er selbst von Jankal fixiert ward. Sein Auge ruhte mit einem Ausdrucke der größten Spannung auf dem Gesichte Simone Morettos, und es lag in diesem Blicke zugleich ein so abschreckender Ausdruck von boshafter Freude, unterstützt durch ein häßliches Grinsen, das sein an sich schon widerwärtiges Gesicht noch mehr verzerrte, daß Simone Moretto, so mutig und kaltblütig er auch war, sich zweifellos eines unbehaglichen Gefühles nicht hätte erwehren können, wenn seine Augen diesem tückischen Blicke begegnet wären.
Der aufmerksame Jankal, der, wie gesagt, unablässig die wechselnde Umgebung seines Herrn musterte, wie etwa ein Geheimpolizist, welcher als Sicherheitswache einen Fürsten auf seinen Spaziergängen ungesehen begleitet, – hatte den diabolischen Blick, welcher aus den Augen des jungen Menschen auf den Richter fiel, recht wohl bemerkt. Das war's auch, was zuerst seine Aufmerksamkeit gefesselt und ihn veranlaßt hatte, plötzlich beobachtend stehen zu bleiben. Doch gleich darauf war seine Aufmerksamkeit noch intensiver gefesselt worden. Das Vermögen der Erinnerung war in dem halbzivilisierten Natursohne so trefflich ausgebildet, wie der Sinn des Gesichtes, und – Jankal wußte sofort, wo und unter welchen Umständen er diese bleiche, bartlose Fratze, mit den schielenden Augen und dem fuchsroten Haar, schon einmal gesehen. –
Il Bieco! Dieser Name, welchen der »Schielende« zu führen die Ehre hatte, ruft uns sofort eine Reihe der gräulichsten Szenen ins Gedächtnis. Last not least klingt uns der Todesschrei des alten, habgierigen Weibes im »Castello« in die Ohren, über welchen die flammenden Trümmer des morschen Treppenhauses zusammenbrachen. Beleuchtet von dem grellen Schein der Flammen, die das altersgraue Tuskulum des Geizhalses zerstörten und zu deren Ausbruch »Il Bieco« die nächste Veranlassung gewesen, haben wir den »Schielenden« zuletzt gesehen. Welch eine Reihe furchtbarer Taten mochte der ruchlose »Gottesstreiter« für Altar und Thron inzwischen verübt haben, und welche Teufelei führte ihn jetzt nach Turin?
Der Schielende hatte keine Ahnung von den glühenden Augen, welche unverwandt auf ihn gerichtet waren. Er blickte eine geraume Weile dem Richter nach, dann sprang er mit katzenartiger Behendigkeit dem Ausgange der engen Straße zu, wie um sich zu vergewissern, welchen Weg Simone Moretto mit seinen Begleitern einschlug. Der Madagasse folgte ihm in durchaus unauffälliger Weise – eine Geschicklichkeit, um die ihn mancher Polizei-»Spitzel« beneiden durfte – auf Schritt und Tritt nach. Nachdem der Bandit noch eine Weile in der Richtung der Piazza ausgelugt, kehrte er wieder um und schritt eilends durch die enge Gasse, in welcher Jankal ihn zuerst getroffen. Letzterer folgte ihm wie sein Schatten. Es ging aus einer Straße in die andere, kreuz und quer, über Plätze, durch winkelige Gassen und breite Villenstraßen, bis der Schielende endlich in demjenigen Stadtteil Turins angelangt war, der zu den ältesten und verrufensten der ganzen Stadt gehört.
Vor dem einzigen einigermaßen stattlichen Hause, das sich auf der dunkeln, schmutzigen Straße befand, welche der Rotkopf und sein Verfolger jetzt betraten, machte der erstere Halt. Es war ein zweistöckiges Gebäude, an sich wahrlich nicht elegant, aber unter seinen baufälligen Nachbarn dennoch ein rara avis zu nennen. In dem Parterreraum befand sich eine Osteria, wie das über der Türe befindliche Schild pomphaft ankündigte: die Osteria della gazza ladra. Ob dieses famose Gasthaus zu Ehren des Komponisten der populären Oper, den kuriosen Namen »Zur diebischen Elster« erhalten hatte, oder ob in dieser Bezeichnung eine leise, selbstironisierende Anspielung auf die würdigen Gäste lag, welche diese versteckte Herberge frequentierten, ist schwer zu entscheiden. Sehr einladend sah dieselbe jedenfalls nicht aus, denn die Fenster waren schmutzig und zum Teil mit Papierfetzen verklebt, wo der Wind oder das Wurfgeschoß eines trunkenen Gastes die Glasscheibe zertrümmert hatte, und aus der halbgeöffneten Türe drang ein ekler Geruch hervor, gemengt aus schlechten, alkoholischen Düften, Tabak, Knoblauch und ranzigem Öl. Das obere Stockwerk zeigte auffällig große und breite Fenster. Es mußte einst eine Art Tanzsaal da oben gewesen sein, wo sich bei primitiver Musik die Turiner Priesterinnen der Venus vulgivaga mit nicht minder zweifelhaften Subjekten aus dem stärkeren Geschlechte, harmlosen Tanzvergnügungen und weniger harmlosen Belustigungen anderer Art hingegeben hatten. Obwohl diese Straße auch jetzt noch von den ebenerwähnten, zweideutigen Charakteren beiderlei Geschlechtes Haus für Haus angefüllt war, so schien doch Polyhymnia und Terpsichore dort oben zum Schweigen gekommen zu sein. Es war öde und still, und die blinden Fenster zeugten von langer Entbehrung einer reinigenden Hand.
Die Häuserreihe war durch dieses Gebäude insofern unterbrochen, als an die eine Seite desselben ein kleiner, verwahrloster Garten stieß, dessen Frontmauer ein Stück die Straße entlang sich erstreckte. Zwischen der Seitenmauer des Gartens und dem nächsten Hause lief ein schmaler, gepflasterter Gang hin, – kaum breit genug, daß zwei Personen bequem neben einander gehen konnten, – welcher die Straße, auf der wir uns jetzt befinden, mit der nächsten Parallelstraße verband.
Dies war in kurzen Zügen die Lokalität, bis zu welcher Jankal, wie ein Spürhund dem Wild, dem »Bieco« gefolgt war. Während ersterer einen Augenblick vor der Türe der Osteria della gazza Ladra stehen blieb und durch die halboffene Tür in die Gaststube spähend hineinblickte, verbarg sich Jankal geschickt in dem Eingange eines gegenüberstehenden Hauses. Er konnte dies um so bequemer ausführen, als die enge und kurze Gasse augenblicklich vollkommen menschenleer war. Die lichtscheuen Bewohner dieser Häuser waren jedenfalls nach den verschiedenen Schauplätzen der öffentlichen Bewegung geeilt, welche heute Turin erfüllte. Bei solchen Gelegenheiten feiern die ehrsamen Brüder von der Spitzbubengilde inmitten der erregten Massen ihre Feste, zumal die Augen der Polizei bei solchen Gelegenheiten mit zu vielen anderen Dingen zu tun haben, als den Taschendieben und Bravis genau auf die Finger zu sehen.
Kaum war jedoch Il Bieco im Innern der Gaststube verschwunden, als Jankal auf die Straße hinaustrat und mit raschem Späherblicke die Lokalität musterte. Sein Blick fiel auf den schmalen Gang zwischen der Gartenmauer und dem nächstfolgenden Hause. Der Madagasse war ebensowenig langsam im Überlegen, wie zaghaft im Unternehmen. Mit Blitzesschnelle war er in dem Gange und befand sich der nicht allzuhohen Gartenmauer gegenüber. Es war der Gelenkigkeit dieses einstigen Sohnes der Wildnis natürlich ein Leichtes, sich über die Mauer zu erheben und mit raschem Auge das Terrain zu rekognoszieren.
Die grauenhaften Szenen, die der treue Madagasse seiner Zeit auf dem Tavoliere di Puglia erlebt, die Rolle, welche der Schielende in denselben gespielt, alles das stand ihm lebhaft genug vor Augen, um ohne weiteres zur Annahme gelangen zu können, daß der schmächtige Abruzzensohn böse Dinge im Schilde führe. Das sonderbare und keineswegs unverdächtige Benehmen des letzteren, beim Anblick des Richters, zeigte fernerhin deutlich genug, daß derselbe es ganz speziell auf die Person des unter den neapolitanischen Briganten »bestgehaßten« Simone Moretto abgesehen hatte, und daß endlich seine rasche Retraite nach diesem Hause, in den übelberüchtigten Straßen Turins, mit seinen Absichten in irgend einer Weise in Zusammenhang stehen mußte. Nun war es möglich, das Tun und Treiben dieses Burschen, dessen Gefährlichkeit Jankal in vollstem Maße zu würdigen verstand, in dem Hause zu belauschen, und, so gefährlich und schwer durchführbar auch dies Unternehmen im ersten Augenblicke erscheinen mußte, Jankal vertraute auf seinen Mut, seine körperliche Gewandtheit, welche an das Fabelhafte grenzte, und, last not least, auf seine natürliche Schlauheit, die auf den abenteuerlichen Fahrten, in Gesellschaft seines ehemaligen Meisters Signore Lorenzo, nicht minder schwere Nüsse zu knacken gehabt hatte, als die vorliegende war.
Es mußte offenbar irgendein Zugang zu dem Hause durch den Garten existieren, und letzterer sowohl, wie der hintere Teil des Hauses sah so still und weltverlassen aus, daß es nicht allzu schwer erschien, auf diesem Wege unbemerkt ins Haus zu gelangen und daselbst auf gut Glück sich ein wohlverstecktes Lauscherplätzchen auszusuchen.
Mit einem raschen Sprunge war der Madagasse über die Gartenmauer hinweg und schlich mit der Geschicklichkeit eines auf dem Kriegspfade befindlichen Indianers durch die verwahrlosten, aber sehr zugunsten des Kundschafters von dichtbelaubten Kastanien beschatteten Alleen des Gartens dem Hause zu. Es konnte selbst in der der Straße zu gelegenen Osteria »Zur diebischen Elster« nicht sehr lebhaft zugehen, denn Jankal fand alles ringsum mäuschenstill. Alsbald stand er vor einer kleinen Freitreppe auf der Hinterseite des Hauses, welche zu einer scheinbar verschlossenen Eingangstür führte. Unterhalb dieser Treppe befand sich gleichfalls ein Eingang, anscheinend in die Souterrainräume führend. Instinktiv wählte Jankal den letzteren. Die kleine, mit einer halbverrosteten Klinke ausgestattete Tür gab einem leichten Drucke seiner Hand nach, und Jankal befand sich in einem niedrigen Kellergange, der größtenteils mit zerbrochenem Mobiliar und Gerümpel der verschiedensten Art angefüllt zu sein schien. Während er auf diesem Gange behutsam vorwärts schlich, blieb er von Zeit zu Zeit vorsichtig lauschend stehen. Sein Ohr konnte anfangs keinen andern Laut vernehmen, als das häßliche Pfeifen und Poltern scheuer Ratten, welche der ungewohnte Laut, wenn auch noch so leiser, menschlicher Schritte zu einer angstvollen Hetzjagd in dem Chaos des alten Gerümpels veranlaßte.
Im Dunkeln tappend, erkannte der Madagasse vermöge seiner scharfen Sinne recht wohl, daß hier und da Seitengänge von dem Hauptgange sich abzweigten, welche allem Anscheine nach zu verschiedenen verschließbaren Kellergewölben führten, wovon sich Jankal auf einem kleinen Abstecher in einen dieser Gänge überzeugte. Er kehrte jedoch alsbald zu dem zuerst betretenen Hauptgange zurück. Sein Ziel waren die vorderen Räume des Hauses, in welchen sich die Osteria befand. Er hoffte dicht unter derselben irgendeinen geeigneten Lauscherplatz zu finden.
Sein feiner Instinkt sollte ihn nicht täuschen. Er blieb atemlos lauschend stehen. War es bisher mäuschenstill gewesen, so drangen jetzt deutlich genug die gedämpften Laute von Menschenstimmen und Gläserklingen an sein Ohr. Er mußte sich entweder direkt unter oder doch ganz in der Nähe des Schenkzimmers befinden. Noch einige Schritte vorwärts, und ein schwacher Schimmer von Tageslicht erhellte seinen Weg. Er befand sich in der Tat an der Frontseite des Hauses und der Lichtschimmer fiel von der Straße aus durch die kaum fußhohen, blinden und mit starken Eisengittern verwahrten Fenster des Kellergewölbes. Ein mit Holzplatten abgegrenzter und durch ein mächtiges Vorlegeschloß verwahrter Raum, in welchem sich eine Anzahl Fässer und Flaschen befanden, zeigte ihm, daß er an dem Vorratskeller des Schankwirtes angelangt sei. In der Tat führte rechts von diesem Raume eine schmale Treppe nach dem Erdgeschoß hinauf, und, am Fuße dieser Treppe stehend, konnte Jankal deutlich lautes Sprechen, Gelächter und Klirren von Gläsern und Eßgeschirr hören. Freilich war damit noch nichts gewonnen, denn es waren eben nur verworrene Laute, die an sein Ohr drangen; auch lag es dem Madagassen viel daran, zu sehen, nicht bloß zu hören, wenn anders er irgend etwas erlauschen wollte, was seinem Zwecke, der Errettung seines, wie er mit Sicherheit annahm, bedrohten Gebieters, irgendwie dienlich sei.
An dem Aufgange zu dem Schenkzimmer konnte er schon aus dem Grunde nicht stehen bleiben, weil er sich der Gefahr der Entdeckung aussetzte, falls jemand herunter kam. Hinauf zu steigen war aus gleichem Grunde kaum ratsam. So stand denn Jankal für den Augenblick ratlos da, an einem kritischen Punkte seiner allerdings etwas voreilig und auf sehr vagem Fundament unternommenen Expedition angelangt. Während sein Blick durch den mit schwachem Dämmerlicht erfüllten Raum schweifte, fiel es ihm plötzlich auf, daß in den vorerwähnten Lattenverschlag durch eine Ritze oder Öffnung in der Decke ein heller Schimmer von Tageslicht fiel. Sofort war sein Plan gefaßt, an dessen Ausführung er die besten Hoffnungen zur Erreichung seines Zweckes knüpfte.
Behutsam, und ohne irgendwelches Geräusch zu verursachen, begann er eine Untersuchung des Verschlages. Das Schloß war fest und sicher, und auf diesem natürlichen Wege konnte er somit nicht in den Raum gelangen. Er rüttelte an den Holzlatten. Nach geduldigem Suchen gelang es ihm in der Tat, eine Latte zu finden, welche morsch genug war, um unter einem leichten Drucke seiner nervigen Faust nachzugeben. Jetzt hatte er gewonnenes Spiel. Nachdem er vorsichtig das morsche Brett herausgebrochen, konnte er mit Leichtigkeit sich in das Innere des Raumes hineinzwängen.
Jankal sah nunmehr auch deutlich, welchem Umstande er den durch die Decke des niedrigen Gewölbes fallenden Lichtstrahl zu verdanken hatte. In einer Ecke des Lattenverschlages führte eine kleine Holztreppe nach der Decke empor. Oben befand sich eine Schiebetür, welche offenbar die direkte Verbindung zwischen dem Vorratskeller und dem Schenkzimmer herstellen sollte, um das Heraufschaffen kleinerer Fässer und sonstiger leicht transportabler Gegenstände direkt in das Gastzimmer, mit Vermeidung der steinernen Kellertreppe, möglichst bequem zu machen. Lag es nun an der Gunst des Zufalles, lag es daran, daß die Einwirkung der feuchten Kellerluft auf die Bohlen der keineswegs dicken Dielung der Schenkstube, ein vollständiges Schließen der Schiebetüre unmöglich machte, – so viel steht fest, daß der Spalt in dem Fußboden der Schenkstube weit genug war, um nicht nur dem Tageslicht Durchgang in den Kellerraum zu gewähren, sondern auch einem scharfen Auge einen ganz prächtigen Überblick über die Trinkstube und alles, was darin vorging, zu verschaffen.
Jankal zögerte keinen Augenblick, den sich ihm bietenden Vorteil nach Kräften auszunützen. Bald hockte er auf der obersten Stufe der gebrechlichen Holztreppe, welche eher den Namen einer Hühnerleiter verdiente, und drückte sein braunes Gesicht dicht an die Öffnung, um zunächst einen Blick auf die in der Gaststube befindlichen Personen werfen zu können. Er schien nach einer Weile von seiner Inspektion befriedigt. Alsdann hielt er das Ohr an den Spalt und lauschte mit atemloser Spannung. Es war ein Glück, daß Jankal die italienische Sprache, wie wir bereits in einem früheren Kapitel bemerkt, genügend verstand, und überdies im Laufe der zwei Jahre, während welcher wir ihn aus den Augen verloren hatten, sich noch mehr in dem Verständnisse dieses Idioms vervollständigt hatte. Er vermochte, unterstützt von seinem überaus feinen Gehör, wenn auch nicht jedes einzelne Wort, so doch bequem genug den Sinn des Gesprochenen zu verstehen. Und daß das Gehörte für den Madagassen von bedeutendem Interesse war, davon zeugte die buchstäblich atemlose Spannung, die sich in seinem Gesicht ausprägte, das unheimliche Glühen seiner Augen und von Zeit zu Zeit ein heftiger Griff nach einem formidablen Revolver, welchen er zu diesem Zwecke aus der Tasche zog, als jucke es ihn in den Fingern, durch den Spalt in der Decke ein Stückchen tödliches Blei unter die oben konferierende Gesellschaft zu senden.
* * *
Der Schielende trat atemlos unter seine Kameraden, die in der Schenkstube der Osteria versammelt waren. Es waren fünf konfiszierte Banditengesichter. Eine lebendige Verbrechergalerie, bestehend aus wahren Musterexemplaren, auf deren Gesichtern die Spuren der niedrigsten Leidenschaften, welche das Menschenherz zu bewegen vermögen, in unverlöschlichen Zügen eingegraben waren.
Der Ostiere Gastwirt. war eine jener aufgedunsenen, halb süßlich, halb boshaft lächelnden, verschmitzt dreinblickenden Gestalten, wie sie unter der Klasse der Herbergsväter zweifelhaften Charakters typisch sind. Die kleinen Schlitzaugen waren unter den buschigen Brauen kaum zu sehen, und wenn einmal ein Strahl aus denselben hervorzuckte, dann konnte sich derjenige, welchen er traf, eines unheimlichen Gefühles nicht erwehren. Es lag etwas Basiliskenhaftes in diesem Blicke.
Wir wollen den Leser nicht mit einer eingehenden Personalbeschreibung der fünf Gäste dieses ehrenwerten Ostiere, welcher, die Hände in den Hosentaschen, an den Schenktisch gelehnt, erstere mit lauerndem Blicke betrachtete, ermüden. Nur eines unter diesen Subjekten verdient eine besondere Erwähnung.
Nennt man das Gesicht des Wirtes abschreckend, so fehlt es uns für die Physiognomie des jungen Mannes, welcher etwas abseits von den andern in der Nähe des Schenktisches, eine lange Virginiazigarre zwischen den dünnen Lippen haltend, anscheinend in Nachdenken versunken saß, an einem ausreichenden Superlativ.
Der Bursche war bei weitem nicht so absolut häßlich, wie der Ostiere von der »geschwätzigen Elster«, und doch lag in dieser Galgenphysiognomie, mit den fuchsroten Haaren, dem spitz zugeschnittenen, von Sommersprossen besäeten Gesicht, mit der bleichen Hautfarbe, den kleinen, aber leidenschaftlich blitzenden Augen, deren Pupillen wie die eines »Kakerlaken« oszillierten, noch unschöner gemacht durch den fast vollständigen Mangel an Augenbrauen und Wimpern, ein Ensemble von solcher Niederträchtigkeit, daß man nicht ohne ein leises Grauen die dürre, schmächtige Gestalt, welche in diesem Punkte der des »Schielenden« glich, anblicken konnte. Auffällig war dabei, daß dieser häßliche Strolch sich in seiner Kleidung ganz wesentlich von seinen Genossen unterschied. Während jene den Stempel ihres Gewerbes – der Räuberei mit und ohne Messer – auch in ihrer offenbar auf Kosten des Eigentumsrechtes ihrer Mitmenschen zusammengewürfelten Kleidung zur Schau trugen, affektierte der Rotkopf in jeder Beziehung den Gentleman. Er war in einen feinen, schwarzen Leibrock gekleidet, unter dem eine gleichfarbige, weit ausgeschnittene Weste sichtbar ward, während helle, enganliegende Beinkleider mit Stegen, die sich zierlich um die feinen Lackstiefel legten, die elegante Harmonie vervollständigten, die einem Löwen der Pariser Boulevards alle Ehre gemacht haben würden. In dem weißen Chemisette blitzten ein Paar unechte Brillanten und eine unglaubliche Menge von Talmiringen zierten die mageren Finger dieses Galgenvogels, welcher vielleicht eine komische Figur abgegeben hätte, wäre nicht der abscheuerregende Ausdruck seines hohlwangigen Totenkopfgesichtes überwiegend gewesen.
Der Schielende war ein guter Bekannter aus einem früheren Teile unserer Erzählung, der – » Zerbinotto« ist's nicht minder.
Er schien mit dem Wirte auf vertrauterem Fuße zu stehen, als die andern, denn er hielt sich beständig in dessen Nähe auf, und die beiden flüsterten oft in sehr vertraulicher Weise miteinander.
Wir sagten schon, daß der »Schielende« atemlos in die Schenkstube eintrat, in demselben Augenblicke, als Jankal draußen über die Straße eilte, um in dem dunklen Gange längs der Gartenmauer zu verschwinden.
» Eccolà il bieco!« rief einer der Strolche, der sich nebst drei anderen Genossen mit einem Spiele schmutziger Karten ergötzte. »Kommst ja verteufelt früh zurück! Fürchtest wohl, daß dir im Gedränge, das heute in Turin herrscht, deine dünnen Knochen im Leibe zusammengedrückt werden?«
Ein lautes Gelächter lohnte diese freundschaftlichen Begrüßungsworte.
»Halt's Maul, Dummkopf,« rief der Schielende ärgerlich. »Kümmere du dich um deine eigenen Knochen und sieh dich vor, daß dir Seine Hochwürden Pater Anselmo nicht selbst eines schönen Tages die Knochen im Leibe zusammenschlagen läßt, weil du Saufaus den Mund nicht halten kannst, wenn dir der Fusel im Kopfe sitzt, und du mehr als einmal mit deiner vermaledeiten Zunge unsere gute Sache in Gefahr gebracht hast.«
Der so abgefertigte Bandit griff nach dem Messer. Doch der dicke Wirt sprang behende dazwischen und warf den Schielenden mit einem raschen Schwunge, der auf eine riesige Körperkraft schließen ließ, hinter den Schenktisch.
» Ferma, ferma, Signori!« rief er mit seiner krähenden Stimme, während seine kleinen Schweinsaugen zornig zu dem kartenspielenden Banditen hinüber blitzten. »Mein Haus ist keine Arena für Hahnenkämpfe. Weshalb reitet euch der Teufel, Martino, den Bieco zu beleidigen? Was habt Ihr denn für Heldentaten vollbracht, daß Ihr gerade den Mund so besonders voll zu nehmen hättet?«
Brummend setzte sich der Bandit wieder nieder. Der Ostiere schien eine gewisse Autorität über diese Gesellschaft von Galgenvögeln auszuüben. Ohne diese wäre es aller Wahrscheinlichkeit zu einem ernsten Kampfe zwischen den beiden saubern Brüdern gekommen, die sich von Zeit zu Zeit mit sehr vielsagenden Blicken verbissener Wut maßen.
In diesem Augenblick erschien jedoch eine Persönlichkeit auf der Szene, welche wohl geeignet war, die Aufmerksamkeit von dergleichen inneren Streitigkeiten, die nach der alten Regel: »Pack schlägt sich, Pack verträgt sich,« unter dieser Genossenschaft keineswegs selten waren, einigermaßen abzulenken.
Es war ein junges, kaum sechzehnjähriges Mädchen von entzückender Schönheit. Die südliche Sonne Italiens läßt die unter ihr wandelnden Mädchen schneller emporblühen und reifen, als unser deutscher Norden. Kein Wunder also, wenn dies offenbar noch blutjunge Geschöpf die weichen, vollen Formen und das ausgeprägte, charaktervolle Gesicht einer Erwachsenen, eines vollreifen Mädchens zur Schau trug.
Aber der liebliche Zauber der zartesten Jungfräulichkeit war über die zierliche Gestalt ausgegossen und strahlte aus den dunkeln, ein wenig melancholischen Augen, welche – eine seltene Schönheit – in intensivem Blau unter dem tiefen Dunkel der die liebliche, weiße Stirn einrahmenden Haare hervorlugten. Die reizende Mädchengestalt, die sich seltsam genug in dieser wenig einladenden Gesellschaft von Galgenvögeln ausnahm, zeigte deutlich die nationalen Züge der Italienerin. Und doch lag etwas in diesem mehr runden als ovalen Gesicht, mit dem Willensstärke und Energie verratenden Mund, dessen volle, kaum merklich vorgeschobene Unterlippe demselben einen äußerst interessanten, charakteristischen Zug verlieh, doch in der Grazie und dabei fast männlichen Raschheit und Sicherheit der Bewegungen etwas, was an einen Nationalschlag von Frauen erinnerte, der wohl geeignet ist, die ungemischteste Bewunderung der Männerwelt herauszufordern – wir meinen die Mädchenblumen des großen, atlantischen Kontinents, die entzückenden » pretty girls« von Nordamerika. Ja, der Rassenkenner mußte unfehlbar sich bei Betrachtung dieser kleinen » beauty« nach dem Zentral-Park von Neuyork oder einer der fashionablen Straßen der »Königin des Westens« versetzt fühlen. Und doch – es war wiederum auch ein italienisches Gesicht und es trug, wie sich bei näherer und aufmerksamerer Betrachtung ergab, eine wundersame Ähnlichkeit mit dem höchsten und populärsten, und doch an jenem Tage vielleicht meistgeschmähten Sohne der bella Italia zur Schau.
Wie eine Huldgöttin erschien unter keifenden Dämonen die liebliche Gestalt, durch ihre bloße Gegenwart Ruhe erheischend. Die Blicke der rohen Gesellen wandten sich ihr zu und blickten mit sehr deutlich zur Schau getragenem Wohlgefallen auf die entzückende Gestalt.
Ein grämlicher Blick des Wirtes streifte das junge Mädchen bei seinem Eintritt.
»Wo, zum Teufel, hast du wieder den ganzen Morgen gesteckt, Violetta?« rief er ihr in keineswegs sehr freundlichem Tone entgegen. »Wenn das Haus am vollsten ist, läßt du mich immer allein wirtschaften!«
»Ihr wißt, Oheim,« erwiderte das Mädchen, indem ein sehr deutlicher Blick des Widerwillens über das »volle Haus« flog, »daß Signora Ginevra mich schon längst gebeten hatte, sie zu besuchen, weil sie mit mir über meine Zukunft sprechen wollte, und da ich heute einmal in die Nähe der Strada Bianca kam, so suchte ich die Signora auf. Ich sehe, Ihr seid auch ohne mich fertig geworden.«
Und mit diesen Worten machte sie sich lächelnd mit den Gläsern hinter dem Schenktisch zu schaffen.
» Maledetta!« polterte der Schenkwirt ärgerlich. »Möchte wohl wissen, welcher Teufel dich dieser Donna in die Arme laufen lassen mußte. Mag dir schöne Raupen über deine Zukunft in den Kopf setzen!«
Das Mädchen antwortete nur mit einem Achselzucken und einem etwas verächtlichen Aufwerfen der roten Lippen.
»Ihr seid doch ein alter Barbar,« rief einer der würdigen Gäste vom Kartentisch dem Wirte zu. »Bei der heiligen Jungfrau, solltet Euch freuen, daß das Mädel, mit diesen teuflisch hübschen Augen, nicht längst auf und davon gelaufen ist. Rate Euch wahrhaftig, Alter, sie ein bißchen sanfter anzufassen.«
»Bei meinem Schutzpatron!« rief ein anderer. »Mich solltet Ihr nicht wieder in Eurer Spelunke sehen, wenn die reizende Violetta Euch verließe. Komme ja doch nur hierher, weil ich Tag für Tag auf die Erlaubnis warte, einen Kuß auf diese süßen, roten Lippen drücken zu können. Oh – Ihr Glückspilz! Seid wohl freundlicher zu dem hübschen Nichtchen, wenn Ihr allein seid? Ha, ha, ha.«
Schallendes Gelächter begleitete diese rohen Witze und Anspielungen. Nur eine kaum merkliche Röte, welche den zarten Teint des hübschen Mädchens färbte, zeugte von dem Eindrucke, den die Worte der wüsten Gesellen auf sie machten. Sie preßte, wie um den in ihr aufsteigenden Unwillen zu bekämpfen, trotzig die Lippen zusammen, äußerte jedoch kein Wort.
Der Wirt war indessen auf sie zugetreten, nachdem er, ohne den Reden seiner Gäste irgendwelche Beachtung zu schenken, einige leise Worte mit dem »Zerbinotto« geflüstert. Die übrigen, mit Ausnahme des Schielenden, welcher an dem Schenktisch gelehnt, auf eine Gelegenheit zu warten schien, um mit dem Zerbinotto sprechen zu können, wandten sich mit vollem Eifer wieder dem Spiele zu.
»Mädel,« herrschte der Alte seine Nichte an, »du bist heute zum letzten Male bei dieser auf der Straße aufgefischten Signora gewesen!«
»Weshalb, Oheim?«
Und ein Ausdruck von leiser Angst, gemischt mit Erstaunen, sprach aus den schönen, tiefblauen Augen.
»Weil ich's nicht haben will, daß dir unsinnige Ideen in den Kopf gesetzt werden!«
»Meint Ihr, daß die Gesellschaft Eurer Gäste besser für ein junges Mädchen paßt?« erwiderte Violetta mit spöttischem Lächeln.
»Ich meine, daß ich diese Frau nicht kenne,« erwiderte der Alte scharf, »welche dir irgendein Zufall in den Weg geführt hat, und daß ich daher deine plötzliche, auffällige Freundschaft zu ihr nicht dulden werde. Deine Zukunft, von der du sprichst, liegt hier in diesem Hause, und hierher gehörst du einzig und allein! Du weißt, was ich neulich zu dir gesprochen habe?«
Eine auffällige Blässe überzog bei diesen letzten, in eindringlichem Tone gesprochenen Worten das feine Gesicht des jungen Mädchens, und wie unwillkürlich flog ihr Blick zu der abscheulichen Fratze des Zerbinotto hinüber, der von dem Augenblicke an, wo das liebliche Geschöpf die Gaststube betreten hatte, seine in sinnlicher Leidenschaft glühenden Augen nicht einen Augenblick von der Gestalt des jungen Mädchens verwandt hatte. Ihre Augen begegneten sich und – die Röte der Scham und der tiefsten Empörung färbte die auf einen Moment bleich gewordenen Wangen des jungen Mädchens, vor diesem glühenden, frechen Blicke des rotköpfigen Gesellen.
Ein Zug von Trotz und Entschlossenheit erschien in ihrem Gesichte, und mit einem ernsten Blicke dem Blicke des sie aufmerksam beobachtenden Oheims begegnend, sagte sie mit leiser Stimme:
»Ihr wißt meine Meinung über den Punkt, auf welchen Ihr soeben anspieltet, Oheim.«
»Ich weiß nur, was ein dummes und unerfahrenes Mädel mir im ersten Augenblick der Überraschung auf meinen vernünftigen und wohlgemeinten Vorschlag geantwortet hat,« entgegnete der Wirt, indem ein boshafter Blick aus seinen kleinen Augen auf das Mädchen schoß.
»Diese Antwort war nicht für den ersten Augenblick gegeben. Sie gilt für immer!« lautete die kurze Antwort.
»Einfältige Dirne,« zischte der Oheim. »Ich werde dich zu zwingen wissen!«
»Das könnt Ihr nicht!«
»Nicht? Meinst du?« entgegnete mit kurzem, höhnischem Auflachen der Alte. »Es käme auf den Versuch an!«
Ein flammender Blick aus den großen Augen des Mädchens traf sein zur höhnischen Grimasse verzogenes Gesicht.
»Oheim,« sagte sie nach einer kurzen Pause, während welcher ihr Busen in stürmischer Erregung auf- und niederwogte, »Oheim – Ihr habt mich als arme Waise ins Haus genommen und – ich bin Euch Dank schuldig. Ihr wißt auch recht wohl, daß ich Euch meine Dankbarkeit in jeder Weise gezeigt, daß ich Euch in allen Stücken gehorsam gewesen bin. Ich will das auch weiterhin tun. Verlangt alles, alles von mir, aber, bei der heiligen Mutter Gottes, ich spränge eher in den Po, ehe ich diesem Menschen angehörte!«
Ein Blick unbeschreiblichen Grauens streifte bei diesen Worten das bleiche Gesicht des Rotkopfes, der mit satanischem Grinsen auf das im Zorne noch verschönte Mädchen blickte.
» Cospetto di bacco!« sagte er, sich von seinem Sitze erhebend und auf die beiden zutretend. »Bin ich dir nicht gut und schön genug, kleine, niedliche Katze? Euer werter Oheim wird wohl besser wissen, als du, schöne Signorina, was an mir ist, und ob ich imstande bin, dich glücklich zu machen oder nicht. Oder wartest du bis ein Kavaliere von Turin in die Osterie della Gazza Ladra sich hinein verläuft, sich in deine roten Lippen verliebt und dich zu seiner Frau oder seiner – Konkubina macht?«
Ein Blick namenlosester Verachtung aus den Augen des Mädchens fiel auf den frechen Schurken, doch kein Wort der Erwiderung kam über ihre fest zusammengepreßten Lippen. Ein aufmerksamer Beobachter hätte indessen aus den raschen Atemzügen und dem glühenden Auge des Mädchens den leidenschaftlichen Zorn lesen können, welcher ihr Inneres durchwühlte.
»Glaube nicht, einfältige Närrin,« herrschte sie der Oheim an, »daß ich in dieser Angelegenheit spaße. Ich habe meine wohlerwogenen Gründe dafür, daß ich dich als Frau dieses Signore hier zu sehen wünsche, und ich werde meinen Willen durchsetzen, trotz deines Starrkopfes!«
» Diavolo!« warf der Rotkopf ein. »Wenn du gern hoch hinaus willst, Signorina, und meinst, daß dein hübsches Lärvchen nur für einen Edelmann gut genug ist, so will ich dir nur zu deiner Beruhigung sagen, daß ich selbst ein halber Kavalier bin. Affè di Dio, schöne Violetta, in meinen Adern fließt das Blut eines echten, adeligen Beefsteak-Essers, eines großbritannischen Lords vom reinsten Wasser. Ha, ha, ha!«
Unter häßlichem Lachen zerrte der Bursche, seine magere Gestalt in die Höhe reckend und sich mit widerwärtiger Koketterie in den Hüften wiegend, an den kaum sichtbaren Spitzen seines rötlichen Schnurrbart-Flaumes, der in Dimension keineswegs zugenommen, seit wir denselben zum ersten Male zu bewundern das Vergnügen hatten.
»Laßt die dummen Witze bleiben,« wandte sich der Wirt mit halb ärgerlichem, halb drohendem Blicke zu dem Rotkopf. »Damit macht Ihr das Mädel nur störrischer und erschwert mir die Arbeit.«
»Nun – seht zu, daß Ihr besser mit ihr fertig werdet, Signor Ostiere,« zischelte boshaft der »Zerbinotto«, indem er seinen häßlichen Kopf dem Ohre des Wirtes näherte. »Vergeßt nicht, Freund, daß, wenn Violetta nicht noch im Laufe dieser Woche mein wird, die heilige Kirche durch den Pater Anselmo die Hand von Euch wegzieht und Eure saubere Wirtschaft hier dem Herrn Polizeipräfekten von Turin schonungslos aufdeckt. Ihr kennt ja meinen Einfluß so einigermaßen, Signor, nicht wahr?«
Ein böser Blick traf den Zierbengel. Hätte der Blick die kräftige Wirkung eines Dolches oder eines gut wirkenden Giftes besessen – mit dem »Einflusse« des Zerbinotto, auf den er sich so viel zugute zu tun schien, wäre es für diese Welt sehr rasch vorbei gewesen.
Doch der würdige Gastwirt schien seine Gründe dafür zu haben, mit dem Zerbinotto nicht weiter anzubinden. Er ließ es daher bei diesem Blicke und einem leise zwischen den Zähnen gemurmelten Fluche bewenden, und ballte die Faust in der Tasche. Sein Zorn entlud sich über dem Haupte der unglücklichen Violetta.
»In des Teufels Namen, Mädchen, ich sage dir,« rief er, indem er den vollen Arm des jungen Mädchens erfaßte und in roher Weise kräftig schüttelte, »gib diesen Trotz und dieses verbissene Wesen auf, oder ich vergesse, daß du ein Frauenzimmer bist. Antworte mir, ob du bereit bist, meinen Wunsch zu erfüllen?«
Das Mädchen faßte tief aufatmend mit der rechten Hand nach dem Arme des Mannes, welcher ihre Linke in festem Griffe umspannt hielt, und riß mit auffälliger Kraft die Hand des Oheims von sich los. Das Zaghafte, das Melancholische, das wir in ihrem Wesen bemerkten, war völlig verschwunden. Hoch und stolz, eine wahrhaft junonische Gestalt, stand sie flammenden Blickes vor dem Oheim, und ihre blauen Augen schienen die Gestalt des verblüfften Mannes durchbohren zu wollen.
»Zurück,« rief sie so laut, daß selbst die Kartenspieler in ihrer lärmenden Konversation innehielten und gespannt nach der Gruppe am Schenktische hinblickten. – »Ihr vergeßt schon jetzt, Oheim, daß Ihr ein Mädchen vor Euch habt. Wir sind quitt und ich schulde Euch von dem Augenblicke an, wo Ihr mir Eure Roheit zeigt, keine Dankbarkeit mehr. Meine Antwort will ich Euch geben, obgleich Ihr sie längst wissen könntet. Niemals, bei der Heiligen Mutter Gottes, niemals werde ich das Weib dieses rothaarigen Mörders und Diebes. Nun wißt Ihr, woran Ihr seid, und – richtet Euch danach!«
Mit diesen Worten maß sie noch einmal den Oheim mit einem stolzen Blick, und, ohne daß einer der Anwesenden, die durch den Zauber ihrer imponierenden Erscheinung wie an ihre Plätze gebannt waren, auch nur den leisesten Versuch gemacht hätte, sie zurückzuhalten, war sie hinter der das Schenkzimmer von den Wohnräumen trennenden Türe verschwunden.
Es dauerte einige Sekunden, ehe die Zechbrüder am Spieltische auf Kosten des wütenden Zerbinotto in ein lautes Gelächter ausbrachen.
»Bravo, Bravo,« rief der kurz vorher von dem Wirt so derb abgefertigte Spitzbube, indem er mit seiner mächtigen Faust donnernd auf den Tisch schlug. »Da hast du etwas zu kauen, Freund Volpicino! Hast dir ein verteufelt stachlichtes Bräutchen ausgesucht! Sieh dich für deine roten Haare vor, wenn die einmal deine Padrona wird!«
Der Verspottete erwiderte die spitzen Reden, welche es von allen Seiten auf ihn hinein regnete, nur mit wütenden Blicken aus seinen boshaften Augen. Seine Gegner hatten derbe Fäuste, und wir wissen aus seinen Antezedenzien, daß Tapferkeit keineswegs zu den Mannestugenden des schmächtigen Mordgesellen gehörte. Der Wirt starrte nachdenklich die Tür an, hinter welcher seine ebenso trotzige, wie schöne Nichte verschwunden war.
»Zerbinotto, schaut nicht so grimmig drein, ich glaube ich kann Euch einen kleinen Trost geben!« tönte eine Stimme.
Es war der »Schielende«, welcher auf den rotköpfigen Briganten zugetreten war.
»Scher' dich zum Teufel, Vieco,« erwiderte übellaunig der abgewiesene Liebhaber, sich von ihm abwendend, »und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!«
Der Schielende schien sich durch diese etwas unhöfliche Abweisung keineswegs beleidigt zu fühlen.
»Sachte, sachte, Kamerad,« entgegnete er lächelnd. »Vielleicht sind in diesem Falle, über welchen ich mit dir eben sprechen will, meine Angelegenheiten gewissermaßen zugleich deine Angelegenheiten.«
Es mochte etwas Geheimnisvolles, Lauerndes in der Miene des Schielenden liegen, was ein sympathisches Gefühl in dem edlen Busen des Streiters für Thron und Altar erregte. Er blickte mit einiger Aufmerksamkeit in das Gesicht seines Kollegen und fragte dann:
»Was gibt's denn? Sprich, – aber mach's kurz, denn ich habe noch ein Hühnchen mit der Schlafmütze von Ostiere zu rupfen, der sich von dieser eingebildeten Metze auf der Nase herumtanzen läßt.«
Beide waren inzwischen so nahe an die, wie wir wissen, nicht ganz geschlossene Öffnung in der Diele des Zimmers getreten, daß der unter derselben verborgene Jankal, obgleich sie nicht überlaut sprachen, fast jedes Wort mit ziemlicher Deutlichkeit hören mußte.
»Sage mal, Kamerad, wie hieß doch gleich die Signora, welche unsere reizende Violetta zu besuchen beliebt? Sie nannte vorhin einen Namen, der, wenn ich recht verstanden habe, mir einigermaßen zu denken gibt!«
»Was, zum Henker, hat der Name dieses Frauenzimmers mit deiner Angelegenheit zu schaffen?«
» Cospetto! Sage mir doch nur, ob ich recht gehört habe. Das weitere wirst du ja wohl sehen. Sagte sie nicht: Signora Ginevra?«
»Nun ja – und was dann?«
»Erweckt dieser Name keinerlei Erinnerung in dir, Kamerad?«
»Ich glaube, du bist übergeschnappt, Bieco. Bei der Seele des Papstes, ich habe mein Lebtag –«
» Ferma, ferma, Bruderherz! Erinnerst du dich einer Szene in der Tavoliere di Puglia, im Gehöfte eines gewissen Taddeo Martini, von der du mir manch' liebes Mal erzählt hast, und der Ereignisse, die sich später an jene Szene knüpften?«
Der Zerbinotto horchte auf.
»Wo zum Teufel zielst du nur hin? Bei der Madonna, ich erinnere mich jener Ereignisse besser, als irgendwelcher anderer in meinem Leben. Ist mir's doch, als fühlte ich noch heute meine Zähne in den Hals dieses Schurken von Giudice eindringen, dessen ketzerische Seele für alle Ewigkeit im Fegefeuer rösten möge!«
Und dabei fletschte er seine fledermausartigen, gelben Zähne in so abschreckender Weise, daß selbst der Schielende sich eines leisen Grauens beim Anblicke dieser unnennbar abschreckenden Fratze nicht erwehren konnte.
» Bene!« erwiderte letzterer nach einer kurzen Pause. »Wenn dir jene Szene so lebhaft vor Augen steht, so wirst du dich auch noch erinnern, aus welcher Veranlassung der verdammte Giudice, für den ich gerade so viel Freundschaft fühle, wie du, dich angegriffen hat.«
» Sangue di Dio! Ob ich das noch weiß! Es war wegen des verteufelten Frauenzimmers, die sich nicht ruhig verhalten wollte, und die mit ihren hübschen – doch halt, zum Teufel, die nannte ja der Richter Ginevra!«
»Siehst du, jetzt kommen wir der Sache schon näher. Und diese Signora, welche deiner Violetta allerlei Raupen in den Kopf zu setzen scheint, nennt sich auch Ginevra. Kannst du dir einen Reim darauf machen?«
Der Rotkopf zuckte die Achseln.
»Pah – als ob's bloß eine Ginevra auf der Welt gäbe!«
»Hm – ganz richtig, es kann mehrere geben. Aber – glaubst du, daß es auch mehrere Giudici, namens Simone Moretto, gibt, und daß, wenn dies der Fall ist, diese sämtlich mit tiefen, roten Bißnarben am Halse in der Welt umherlaufen?«
»Mensch, in des Teufels Namen, sprich deutlich! Was soll das Geschwätz? Wo willst du hinaus?«
» Ebbene, ich will sehr deutlich sein, Kamerad. Simone Moretto läuft hier wohl und munter in Turin herum!«
In höchster Erregung faßte der Rotkopf den Schielenden am Arm.
»Ist das Wahrheit, was du sagst, oder träumst du, oder willst du mich zum Narren halten?« rief er, während eine leichte Röte über sein fahlgelbes, häßliches Vampyrgesicht flog.
»Ha, ha!« lachte der Schielende. »Dachte mir's wohl, daß dir diese Nachricht das Blut durch die Adern treiben und dich für den Augenblick den Trotzkopf von Frauenzimmer vergessen lassen würde. Bei der Madonna, 's ist so wahr, wie daß ich hier vor dir stehe. Habe ich doch den schwarzbärtigen, aufgeblasenen Halunken mit meinen eigenen Augen keine dreißig Schritte vor mir vorbeigehen sehen. Oder glaubst du, ich hätte die Gelegenheit, in dem Gedränge meine kleinen Nebengeschäftchen zu machen, so leicht ohne besonderen Grund aufgegeben? Deshalb bin ich ja spornstreichs hierher geeilt, um dir die gute Nachricht, daß wir nun den saubern Vogel leicht ins Garn bekommen und unser Mütchen an ihm kühlen können, möglichst rasch zu überbringen. 's ist nur jammerschade, daß wir ihm die frommen Väter nicht über den Hals bringen können, denn er scheint bei der Volkspartei zu stehen und Brandreden gegen diese verrückte Residenzverlegungsgeschichte an das Volk zu halten, und Pater Anselmo hat ausdrücklich gesagt, daß wir diesmal den Mazzinisten, die den ganzen Aufruhr angestiftet zu haben scheinen, ausnahmsweise das Handwerk nicht verderben sollen.«
»Hölle und Teufel!« rief der Zerbinotto, indem ein wahrhaft satanisches Lächeln über sein Gesicht zuckte. »Wollen uns auch schön hüten, uns diesen Braten entgehen zu lassen. Hier wollen wir einmal ein bißchen Rache auf eigene Faust und ohne Beihilfe der frommen Väter spielen. Was war's doch gleich mit Ginevra?«
»Mit Ginevra? Nun, das ist doch sonnenklar,« grinste der Schielende. »Die beiden waren ja verteufelt süß zueinander, und ist er hier in Turin, wird sie wohl nicht weit davon sein, denn daß sie sich geheiratet haben, das weiß ich ganz genau. Wäre es darum so verwunderlich, wenn diese Ginevra, von der Violetta sprach, eben dieselbe Ginevra ist, die du dir damals bei der Geschichte im Prugnolo-Gehöfte beinahe etwas näher angesehen hättest, wäre dir Signor Amoroso nicht mit seinen Fäusten zur unrechten Zeit dazwischen gekommen.«
»Ich glaube wahrhaftig, du hast recht, Bieco,« erwiderte der »Volpicino« – »und wir werden Gelegenheit haben, zwei Fliegen mit einem Schlage zu töten. Jetzt gilt's vor allem, den Kerl nicht aus den Augen zu verlieren. Wo hast du ihn gelassen? Warum bist du ihm nicht nachgegangen?«
»Oh,« lachte der Schielende, »der ist vorläufig gut und sicher innerhalb einer Menge von einem Paar Tausend Köpfen auf der Piazza del Castello eingeschlossen und kann uns so schnell nicht entrinnen. Übrigens genügt es zu wissen, daß er in Turin ist.«
»Zum Teufel!« rief der Rotkopf, mit dem Fuße stampfend. »Das genügt nicht, Schwachkopf. Wir müssen uns sofort aufmachen und seiner Spur folgen. Bei der Madonna, ich ruhe nicht eher, als bis ich mit meinen Zähnen dem Schurken die Halsnarbe weiter aufgerissen habe, daß er sich daran verblutet, und bis seine feine Frau oder Amorosa – – –«
Es ist nicht auszusprechen und zu beschreiben, welche Rache das Scheusal der unglücklichen Ginevra, der unfreiwilligen Veranlasserin des Kampfes zwischen ihm und dem Richter, zudachte.
»Hallo, Ostiere, kommt rasch hierher,« rief der Stutzer eilig. »Noch ein Wort zu Euch in aller Eile. Ich habe mit dem Bieco hier ein dringendes Geschäft abzumachen. Paßt auf, Mann – wenn Ihr Eure Nichte nicht bis – –«
Ein dumpfer Lärm, der aus dem Erdgeschosse des Hauses zu kommen schien, unterbrach ihn plötzlich in seiner Rede. Es klang wie der Ton mehrerer Stimmen und der eilige Tritt von Füßen auf den Steinfließen des Souterrains. Gleich darauf fiel ein Schuß. Die hintere Türe des Schenkzimmers wurde gleich darauf eilig aufgerissen und das bleiche Gesicht einer alten Frau, anscheinend eine Dienerin des Ostiere, erschien in derselben.
»Santa Maria – – helft, helft, Signor, – Pater Anselmo! – Sie schießen!«
* * *
Kurz bevor die geschilderte Szene in dem Gastzimmer der Osteria sich abzuspielen begonnen und ehe Jankal, der mit atemloser Spannung und anerkennenswerter Ausdauer auf seinem keineswegs bequemen, unterirdischen Lauscherposten ausharrte, den Garten und das Haus betreten hatte, etwa zu derselben Zeit, als der Schielende seinem fuchsigen Kameraden jene interessanten Mitteilungen über sein Auffinden des verhaßten Simone Moretto machte, fuhr ein geschlossener Wagen vor einem Hause derjenigen Straße vor, auf welche der dem Leser schon bekannte, schmale Gang, entlang der Gartenmauer, auslief, also auf der Parallelstraße zu der, welcher die Osteria della Gazza Ladra angehörte.
Dem Wagen entstiegen drei Personen, ein hagerer Mann mit nicht unschönem, aber ernstem und finsterem Gesicht, in der schwarzen Soutane eines Priesters, eine Gestalt vom Schlage des Paters Mariano, nur kräftiger und frischer, ferner eine tiefverschleierte Dame in äußerst eleganter Toilette, deren schlanke, ebenmäßige Gestalt und elastischer Gang unwillkürlich in dem Auge des Beschauers die Überzeugung erwecken mußte, daß hinter diesem Schleier nur ein jugendlich schönes Gesicht verborgen sein könne, und endlich – ein junger Mann, der, seinem bartlosen, fast mädchenhaft-rosigen Gesicht nach zu urteilen, kaum dem Knabenalter entwachsen zu sein schien.
Der Priester gab dem Kutscher einen Wink, rief ihm dabei einige Worte zu und der Wagen fuhr in langsamem Tempo fort.
Der Geistliche bot hierauf, mit einem eigentümlichen Verziehen der Mundwinkel seines ernsten Gesichtes, was bei ihm jedenfalls ein Lächeln vorstellen sollte, der Dame seinen Arm und schritt, begleitet von dem jungen Manne, auf den engen Gang zu.
»Haben Sie lange auf mich an dem bezeichneten Orte gewartet, Madame?« fragte der Priester in trefflichstem Englisch seine Begleiterin.
»Oh, keineswegs,« erwiderte diese mit klangvoller Stimme. »Im übrigen hat mir der junge – Gentleman hier, den ich in dem Café traf und Ihrer Beschreibung nach sofort erkannte, trotz seiner Melancholie nach Kräften die Zeit zu vertreiben gesucht.«
»Melancholie? Wie meinen Sie das?« fragte der Geistliche und blickte nicht ohne ein gewisses Erstaunen auf den jungen Mann, der an seiner Seite einherging. »Das wäre eine Gemütsverfassung, die ich an Ihnen, Signor, noch nicht zu beobachten Gelegenheit gehabt habe.«
Das hübsche Gesicht des jungen Mannes war auffällig bleich und die dunkelblauen Augen zeigten in der Tat einen bemerkenswerten Grad von Schwermut, der nicht recht zu diesem jugendlichen Gesicht passen wollte.
Er schien durch die Frage des Priesters wie aus einem Traum aufgeschreckt und erwiderte offenbar zerstreut:
»Finden Sie das wirklich, Hochwürden?«
»Ei, ei – mein junger Freund. Mrs. Campbell scheint in der Tat recht zu haben. Ihre Gedanken wandern und Sie sind heute verändert. Darf man fragen, was auf Ihrem sonst so übermütig-heiteren Gemüte lastet?«
Ehe der Gefragte antworten konnte, warf die Dame, am Arme des Geistlichen, mit etwas spöttischem Ton ein:
» Goodness gracious, Hochwürden, man sieht doch gleich, was dieses asketische Leben eines Priesters den Geist von dem Verständnisse für weltliche Dinge ablenkt! Bedarf es noch einer besonderen Katechisierung, um die Ursachen herauszufinden, wenn ein sonst heiterer Jüngling schwermütig die Augen zu Boden schlägt?«
Ein unendlich malitiöses Lächeln umspielte bei diesem Einwande den Mund des Priesters, und selbst der junge Mann schien sich bei dieser Anspielung auf den Status seines Herzens einer Rückkehr seiner ursprünglichen Heiterkeit kaum erwehren zu können.
Doch es bot sich zunächst keine Gelegenheit zur Fortsetzung dieser interessanten Konversation noch zu irgendwelchen Aufschlüssen über den Gemütszustand des jungen Mannes, denn das Trio war während dieses kurzen Gespräches an einer kleinen, in der Gartenmauer befindlichen Pforte angekommen, welche der Geistliche aufschloß, mit dem Bemerken:
»Und nun, meine Herrschaften, folgen Sie mir in das obere Stockwerk dieses Gebäudes, wo wir unsere Geschäfte völlig ungestört abwickeln können. Dies ist das Haus, Mrs. Campbell, welches mir, um einen militärischen Vergleich zu gebrauchen, zum Hauptquartier dient, wo ich, ohne Aufsehen zu erregen, sämtliche Besuche in unseren Angelegenheiten empfange, und wo ich auch gleich eine Anzahl von willenlosen Werkzeugen niederen Grades stets bei der Hand habe, um etwaige – – hm – etwaige nötige Schritte zu tun, die der Kampf zur Ehre des allmächtigen Gottes und für die heilige katholische Kirche erheischt.«
Die drei legten nun denselben Weg zurück, welchen etwa eine halbe Stunde später Jankal einschlug, um zu seinem Versteck in dem Vorratskeller der Osteria zu gelangen. Der einzige Unterschied bestand darin, daß sie jene Treppe, welche dicht an dem Eingange zu dem Lattenverschlage ausmündete, hinaufstiegen, und so in die hinter der Schankstube gelegenen Räume gelangten, von welchen wiederum eine breite Treppe nach dem oberen Stockwerk führte, das in dem goldenen Zeitalter dieses Gebäudes als ein »fashionables« Balllokal für die jeunesse dorée zweiter Klasse von Turin gedient hatte, ehe »die diebische Elster« in dieser interessanten Klause ihr Nest gebaut hatte.
Es war ein einfenstriges Zimmer, höchst einfach, im Charakter eines Studierzimmers mit den anspruchslosen, für ein solches nötigen Utensilien ausgestattet, das der Priester mit seinen beiden Begleitern betrat. Die dünne Holzwand, welche auf der einen Seite das Zimmer begrenzte, ließ erkennen, daß letzteres provisorisch abgeteilt war von dem Tanzsaal, vermutlich speziell für die Zwecke des würdigen Dieners der Kirche, welche dieser soeben der ihn begleitenden Albionstochter flüchtig angedeutet hatte. An der Wand hingen verschiedene Pläne und Karten aller erdenklichen Länder, welche auffällige Ähnlichkeit mit Eisenbahnfahrplänen zeigten. Ein Netz von roten und blauen Linien wob sich über die Karten, und Nadeln mit verschieden gefärbten Köpfen waren an gewissen Punkten angebracht. Diese, ein mosaikartiges Bild höchst seltsamer Natur darbietende Wand zierte außerdem ein ziemlich hohes Repositorium, welches von oben bis unten in kleine Fächer geteilt war, über denen sämtliche Buchstaben des Alphabets und überdies eine große Anzahl von Städtenamen aus den verschiedensten Gegenden der Erdkugel, auf schmalen Papierstreifen geschrieben, zu lesen waren. Ein klerikal-politisches Laboratorium eigener Art!
»So,« sagte der Geistliche, der Engländerin einen der wenigen Stühle dieses » Study« darbietend, »nun haben Sie die Güte, Platz zu nehmen, Mrs. Campbell. Signore Marietti darf unserer Unterredung ruhig beiwohnen, er ist ohnehin genügend eingeweiht, und ich habe mit ihm nachher auch noch zu verhandeln. Nur, Madam, lassen Sie uns kurz sein, denn meine Zeit ist kostbar.«
Die verschleierte Dame folgte dem Beispiel des Priesters und nahm Platz, während der als Signore Marietti bezeichnete junge Mann an das Fenster trat und nachdenklich auf die Straße hinausblickte. Sein Gebahren war in der Tat ein eigentümliches. Kaum ein Wort kam über seine Lippen, von Zeit zu Zeit strich er sich, als wolle er einen Sturm quälender Gedanken beschwichtigen, über die von kurzen, braunen Locken umrahmte Stirn, und ein aufmerksamer Beobachter hätte bemerken können, daß zuweilen ein nervöses Zucken, wie verursacht durch Fieberschauer, durch seine Glieder ging.
Die Dame hatte inzwischen ihren Schleier zurückgeschlagen. Ein marmorbleiches Gesicht, von wunderbarer, ätherischer Schönheit, war den Augen des Priesters enthüllt, der, trotz der ernsten, asketischen Miene, welche vorherrschend an ihm zu sehen war, doch momentan einen deutlichen Ausdruck der Bewunderung nicht verbergen konnte. Eine Beschreibung dieser rotblonden Schönheit ist überflüssig, denn schon einmal ist uns, und zwar in einer nicht unähnlichen Situation, diese sirenenhafte Tochter Albions begegnet. Auch damals hatte die pikante Tochter der Sünde Gelegenheit, ihre berückende Schönheit in Kontrast zu bringen mit dem weltentsagenden Gesichte eines »frommen« Soutanenträgers. Damals Harriet contra Pater Mariano, heute Mrs. Mary Campbell contra Pater Anselmo. Wir sehen also, daß dieser jesuitische Lockvogel, an dessen wunderbar schönem Antlitz übrigens die zwei Jahre mit all ihren – Sorgen und Lasten spurlos vorübergegangen zu sein schienen, noch immer auf demselben Gebiet tätig war, und nach wie vor in dem goldigen Netze ihrer mannigfachen Reize, »zur größeren Ehre Gottes« und im speziellen Lohn und Brot der schlauen Loyolajünger, politische Gimpel aller Art umfing, um » by hook or by crook«, wie ihre Landsleute sagen, interessante kleine Geheimnisse aus ihnen auszupressen, die in der Hand der schwarzen Brüderschaft nicht selten zu den furchtbarsten Waffen wurden.
»Sie werden sich gewundert haben, mein Kind,« sagte der Priester, »daß ich Ihnen, seit Sie hierher dirigiert worden sind, sämtliche Instruktionen schriftlich habe zugehen lassen? Jedoch –«
» I beg your pardon,« unterbrach ihn mit kaltem Lächeln die Engländerin. »Sie wissen, daß ich aus der Schule des Pater Mariano stamme und demgemäß – mich über gar nichts wundere.«.
»Desto besser,« erwiderte der Priester mit ernstem Kopfnicken. »Der Grund liegt übrigens auf der Hand. Wir durften uns, ehe Sie die erste Staffel zur Erreichung unsere Zwecke erklommen, selbst mit Anwendung der größten Vorsicht nicht der Gefahr aussetzen, zusammen gesehen zu werden. Es ist Ihnen also gelungen, den König für Sie zu interessieren?«
»Ja. Leicht war es freilich nicht.«
»Hm, offen gestanden, das wundert mich. Dieser gekrönte galantuomo hat doch sehr guten Geschmack.«
»Sehr verbunden für dieses Kompliment. Sie sind viel galanter, als Pater Mariano, Hochwürden,« entgegnete die Engländerin, die weißen Perlenzähne zeigend. »Allein das lag wohl weniger an dem guten König, als an anderen Personen. Man scheint sehr vorsichtig zu sein in Moncolieri sowohl, wie in Turin.«
»Haben Sie Zeichen von Argwohn bemerkt?«
» Plenty! Man muß auf irgendeine Weise eine kleine Idee von meinen Antezedenzien bekommen haben, denn ich weiß genau, daß ich beobachtet worden bin, wie eine Verbrecherin von den Detektivs, die hinter ihr her sind. Kurz nachdem ich im Park von Moncalieri dem König zufälligerweise begegnete – ich hatte mir, natürlich auch rein zufälligerweise, den Fuß verstaucht und wurde auf Veranlassung des galanten Monarchen in einer königlichen Karosse nach meiner Behausung expediert – erhielt ich Besuch von einem sehr feinen, sehr höflichen – aber sehr neugierigen Herrn. Oh my gracious! Ich weiß, wie Detektivaugen aussehen und erkannte sehr bald, was hinter den teilnehmenden Fragen nach meinem Befinden und hinter der galanten Bewunderung meines verletzten Füßchens, daß ich, um die Komödie voll zu machen, gehörig bandagiert auf dem Sofa ausgestreckt, zu suchen hatte.«
»Aha – Paolini,« bemerkte kurz der Priester.
»Ganz recht, Pater Amselmo, Paolini nannte sich dieser chevalereske Policeman. Well, Sie können sich denken, wie vorsichtig ich war. Ich mußte, um ihn ganz sicher zu machen, damit er nicht irgendwelche Absichtlichkeit wittere, wozu er sehr geneigt schien, auf einige Wochen nach Genua retirieren, als ginge mich der Residenzort Sr. Majestät gar nichts an.«
»Das war sehr klug und richtig. Nun, und die zweite Begegnung mit dem Könige, von der Sie mir schrieben?«
» Oh, indeed – die war erfolgreicher,« sagte die Engländerin mit kurzem Auflachen.
»Inwiefern?«
Ein leichtes Rot färbte auf einen Moment die bleichen Wangen des schönen Mädchens, und die weißen Zähne gruben sich tief in die volle, rosige Unterlippe.
»Sie sind etwas neugierig, Pater,« sagte sie in dem gewöhnlichen, ruhig-kalten Tone, nachdem dieses momentane Aufwallen der besseren weiblichen Natur vorüber war. »Es gibt Details, die –«
»Gut, gut, mein Kind,« unterbrach sie, mit einem zynischen Lächeln auf den Lippen, der würdige Kollege des Pater Mariano. »Ich habe, wie Sie sehen, die Stola nicht umgehängt und beabsichtige nicht, Sie zu einer pikanten Ohrenbeichte zu veranlassen. Das Faktum an sich genügt, daß Sie das Mißtrauen dieses Schlaukopfes Paolini überwunden haben –«
»Um aus dem Regen in die Traufe zu kommen,« ergänzte die Engländerin, »und mich abermals, ohne meinem Ziele auch nur um einen Schritt näher gelangt zu sein, etwas aus der nächsten Nähe des galanten Königs zurückziehen zu müssen.«
»Was in alter Welt konnte nun noch dazwischen treten, nachdem Paolini seine allergnädigste Sanktion gegeben hatte?« fragte erstaunt der Priester.
»Sehr einfach,« erwiderte Harriet. »Signore Paolini spionierte aus Interesse für die Sicherheit des Königs, seine Nachfolger unter meiner Gegnerschaft spionierten – im Lohne der Eifersucht!«
»Oh – aus dem Hauptquartiere der schönen Rosina, wenn ich Sie recht verstehe?«
» Certainly!« erwiderte lachend die Engländerin. »Ich darf mir schmeicheln, daß mein plain english face in den Augen der Gräfin Mirafiori allzu gefährlich für die Solidität ihres königlichen Geliebten dünkte. Denn diesem Umstande einzig und allein verdanke ich, sofort nach meiner Rückkehr aus Genua nach Turin, den Besuch eines gewissen Signor Aghemo.«
»Aghemo?« wiederholte der Priester, die Augenbrauen in die Höhe ziehend. »Der Chef des königlichen Privatkabinetts?«
» Exactly so. Niemand Geringeres, als der Kabinettschef des Königs und allergetreuestes Faktotum der schönen Rosina wie man mir mitgeteilt hat.«
Der Jesuit war aufgestanden und an das Repositorium getreten. Nach einem raschen Überblick über die zahlreichen Fächer ergriff er ein Bündel Papiere, welche chiffrierte Charaktere als Aufschriften trugen, und begann letztere aufmerksam zu prüfen.
»Ich bitte, Mrs. Campbell, lassen Sie sich in Ihren Auseinandersetzungen nicht stören. Mein Gehör steht zu Ihrer Disposition, während meine Augen hier beschäftigt sind. Sagen Sie mir doch, welches Anliegen Signor Aghemo hatte.«
»Pah – natürlich ein ganz ähnliches Anliegen, wie seinerzeit sein Kollege und Todfeind Paolini; mit dem einzigen Unterschiede, daß er weniger höflich war, als Paolini, und weniger wie die Katze um den heißen Brei herumging. Er polterte vielmehr ziemlich ungeschminkt mit dem Anerbieten einer Abfindungssumme heraus, – angeblich im Namen des Königs.«
Der Jesuit blickte mit sonderbarem Gesichtsausdrucke von seinen Papieren auf.
»Abfindungssumme? Wie soll ich das verstehen? Wußte er denn, daß –«
» Goodness gracious, Pater, tun Sie doch nicht, als ob Sie nicht wüßten, was Hofklatschereien sind, zumal wenn eine eifersüchtige Donna über die Moralität ihres sweet-heart wacht und sich zu diesem Behufe eine beliebige Anzahl scharfer Ohren und noch schärferer Zungen kaufen kann. Natürlich sagte Signor Aghemo nicht, was er wußte, aber er gab mir doch zu verstehen, daß man meine Entfernung aus der Nähe des leicht entzündbaren Herzens Sr. Majestät mit einer ganz erklecklichen Summe zu erkaufen bereit sei!«
»Und Ihre Antwort?« fragte der Jesuit gespannt. »Nahmen Sie scheinbar an?«
Ein stolzer Blitz aus den wunderbaren, meerblauen Sirenenaugen der Albionstochter traf den Pater.
» Well, Sir,« sagte sie, den Griff ihres eleganten Sonnenschirmes mit der feinbehandschuhten Rechten fester umspannend, als sei sie bereit, den harmlosen Schattenspender eventuell als Waffe zu gebrauchen, »eine Britin vermag sich wohl, wie Sie an mir sehen, im Interesse einer großartigen Sache bis zur Opferung ihrer Frauenehre herzugeben, aber von einem arroganten Höfling sich durch undelikate Worte beleidigen lassen – das wird sie niemals dulden.«
» Ebbene, meine Tochter, das glaube ich ja gern,« erwiderte der Pfaffe, welcher inzwischen schon wieder in seinem Sessel, gegenüber der schönen Harriet, Platz genommen, »aber um so gespannter bin ich auf die Antwort, die Sie diesem saubern Parasiten am königlichen Säckel und würdigen Schwager der Gräfin Mirafiori gegeben haben.«
»Gar keine Antwort, Pater,« erwiderte lachend Harriet. »Sie müßten es denn als eine Antwort betrachten, daß ich meinem galonierten Johnny, welchen ich, dank Ihrer Munifizenz, mir zu halten in der Lage bin, klingelte und durch ihn dem Signor Aghemo in unzweideutiger Weise die Türe meines Boudoirs öffnen ließ.«
Der Priester konnte sich eines lauten Gelächters nicht erwehren, aus welchem deutlich die Befriedigung über die resolute Handlungsweise Harriets hervortönte.
»Ich sehe aus Ihrer Heiterkeit, Hochwürden,« nahm Harriet ihre Rede wieder auf, »daß Sie mit meiner Handlungsweise zufrieden sind.«
» Indeed, my dearest daughter, indeed!« entgegnete der Jesuit, mit dem Kopfe nickend. »Ich sehe, daß mir mein ehrwürdiger Bruder, Pater Mariano, mit vollstem Rechte Ihre seltene Energie empfohlen hat, und ich hege nicht den geringsten Zweifel,« setzte er, die Engländerin mit einem scharfen, eindringlichen Blicke betrachtend, hinzu, »daß Sie die kleine Scharte, welche Sie durch ein wenig Eigenmächtigkeit, seiner Zeit in Biarritz, Ihrem esteem unter unserem Orden beigebracht, trefflich wieder auswetzen werden.«
Harriet beugte, um ein leichtes Erröten, das wiederum ihren Alabasterteint färbte, zu verbergen, einen Augenblick den Kopf nieder. Doch gleich darauf sagte sie mit der ihr eigenen ruhigen Kälte:
»Ihre gute Meinung von meiner Qualifikation ist mir erfreulich zu hören, Pater Anselmo. Ich fürchtete fast, Sie würden mein etwas schroffes Benehmen, gegenüber diesem Aghemo, als unklug bezeichnen. Denn, daran ist kein Zweifel, ich habe mir durch dieses energische Zitieren meines Grooms zwei unversöhnliche Feinde in der Umgebung des Königs gemacht: den Herrn Kabinettssekretär und seine schöne Schwägerin.«
Der Jesuit blickte mit einem flüchtigen, kaum bemerkbaren Lächeln auf das mit Chiffern bedeckte Papier, das er in der Hand hielt.
»Im allgemeinen, meine Tochter,« sagte er, »verlangen es die hohen Aufgaben, welche wir im Namen der heiligen Kirche zu erfüllen haben, sehr oft, daß wir Unbilden, die uns von anderer Seite zugefügt werden, scheinbar ruhig dulden und der politischen Klugheit den Sieg über unsere Leidenschaften lassen. Indessen dies deutliche Zeichen von Energie und Mut, das Sie hierbei abgelegt haben, erscheint mir dennoch wertvoll für die Beurteilung der Art und Weise, wie Sie Ihre weitere Aufgabe lösen werden, und überdies« – hier blickte der Jesuit wieder mit demselben versteckten Lächeln auf die chiffrierten Schriftzüge in seiner Hand – »in diesem Falle kommt die Abtrumpfung des Signor Aghemo ganz à propos. Von seiner Feindschaft werden Sie sehr wenig zu fürchten haben, sobald er ein wenig darüber informiert ist, auf welche Fundamente die Aufmerksamkeit oder, wenn Sie wollen, Liebe,« fügte er mit Ironie hinzu, »die Sie Sr. Majestät dem Könige Vittore Emmanuele schenken, sich stützt. Wollen Sie sich einen Augenblick gedulden. Sie sollen sogleich einen Talisman haben.«
Mit diesen Worten rückte er seinen Sessel näher an den übrigens durch musterhafte Ordnung sich auszeichnenden Schreibtisch, – denn es lag auffälligerweise, außer den nötigsten Schreibmaterialien nicht ein einziges Blättchen beschriebenen Papier auf demselben, – zog ein weißes Blatt Papier aus einem Fache und begann eifrig zu schreiben. Nachdem er geendet, las er das Geschriebene nochmals aufmerksam durch, faltete es zusammen und drückte mit Hilfe eines Ringes, den er von seinem Finger zog, ein Siegel auf den zusammengefalteten Brief, und versah denselben mit einer Aufschrift.
»So,« sagte er dann, seinen Sessel wieder in die Nähe Harriets rückend und ihr den Brief überreichend. Sein Gesicht hatte die ernsteste Ausdrucksnuance angenommen und sah fast finster drohend aus. »So, Mrs. Campbell, hier ist ein Brief, welchen ich Sie bitte, sobald als möglich, doch ohne irgendwelches Aufsehen zu erregen, in die Hände des Signor Aghemo spielen zu wollen. Ich hege die feste Überzeugung, daß Sie alsdann soweit diese Seite in Betracht kommt, Ihren Weg alsbald geebnet finden werden. Sollte wider Erwarten dieses Schreiben nicht den beabsichtigten Erfolg haben, dann lassen Sie es mich unverzüglich wissen. Wir werden Mittel und Wege finden, den Herrn Kabinettssekretär zu zwingen, unsern Willen zu tun, indem wir ihn an einige Umstände erinnern, welche er vielleicht vergessen hat. Schlimmstenfalls werden wir kein Mittel scheuen. Sie verstehen mich, Harriet?«
Es lag etwas Furchtbares in dem Gesichtsausdrucke, welcher diese Worte des Jesuiten begleitete, wie auch in der Stimme, welche zu einem heisern Flüstern herabgesunken war. Harriet konnte sich offenbar dem unheimlichen Eindrücke dieser Miene und dieses Tones nicht entziehen, und schien wohl zu wissen, welche furchtbare Drohung hinter diesen anscheinend harmlosen Worten verborgen war. Ihre Hand zitterte merklich, als sie den »Talisman«, wie der Jesuit das Schreiben zu bezeichnen beliebt hatte, ergriff und in ihrem Busen verbarg.
Der Priester war jedoch sofort wieder der Alte und sein Gesicht glättete sich blitzschnell wieder zu der undurchdringlich ruhigen, ernsten Jesuitenphysiognomie par excellence.
» Well, Mrs. Campbell,« sagte er. »Die Hauptsache bleibt also die: nachdem Sie, wie ich sehe, die Anknüpfung mit dem König in trefflicher Weise gemacht, und nachdem wir nunmehr auch auf den Signor Aghemo in ausreichender Weise zu wirken fähig sein werden, – müssen Sie alles daran setzen, in den Besitz der bewußten Papiere zu gelangen, oder wenigstens sich so in das Vertrauen des Königs einzuschleichen, daß er sich ein wenig offenherzig zu Ihnen in politischen Angelegenheiten zeigt. Wer ist gegenwärtig in Berlin?«
» From the fair sex?« Vom schönen Geschlechte? fragte lächelnd die goldhaarige Sirene.
»Von beiden.«
»Ein gewisser Benno von P. und die sogenannte ›böhmische Gräfin‹, ihr Name ist mir augenblicklich entfallen, welche mit ihrem reizenden Backfisch von Tochter sich Eingang in alle erdenklichen Kreise verschafft.«
Der Pater war während dieser Worte aufgestanden und an eine Karte von Deutschland, die an der Wand hing, getreten, auf welcher gleichfalls jene vorhin erwähnten Nadeln mit buntfarbigen Köpfen in beträchtlicher Anzahl paradierten.
»Ganz recht,« erwiderte er. »Das macht eine kleine Veränderung nötig.«
Und er versetzte eine der Nadeln von einem Platz auf den andern, warf nochmals einen prüfenden Blick auf die Karte und setzte sich wiederum nieder.
»Wie lange waren Sie in Berlin?«
»Fast zwei Jahre. Ich wurde wenige Tage nach meiner letzten nächtlichen Unterredung mit dem Pater Mariano in der Via del Gesù von Rom aus dorthin gesandt.«
»Ganz recht. Und Sie haben sich natürlich in den politischen Kreisen daselbst vollständig informiert und einflußreiche Bekanntschaften angeknüpft.«
» Oh I bet you, I have!« lachte das schöne Weib. »Die Opernhausbälle, auch einige Hofbälle, bis herunter zu den reizenden Reunions der Ratten vom Corps de Ballet beim unsterblichen Kroll, können von meinen Triumphen erzählen.«
»Vortrefflich. Sie werden also vor dem Könige nach einiger Zeit sich ganz au fait über sämtliche Berliner politischen Verhältnisse zeigen, und ihm vor allem über Ihre Bekanntschaft mit Bismarck – welche doch in Wahrheit existiert? –«
»Allerdings,« unterbrach ihn Harriet mit einem komischen Seufzer. »Die Bekanntschaft mit einer eisernen Natur, die sich gegen die Reize unseres liebenswürdigen Geschlechtes besser zu wappnen versteht, als ich dies sonst bei den Herren Politikern zu finden Gelegenheit gehabt habe –«
»Ganz gleich. Die Hauptsache ist. Sie kennen Bismarck, Sie zeigen dem Könige Ihre diplomatische Geschicklichkeit, prahlen fleißig mit verschiedenen Kenntnissen von geheimen Transaktionen und Machinationen, namentlich mit Ihrer Vertrautheit auf dem Gebiete der jesuitischen Intrigen, von denen ich Ihnen jederzeit beliebiges, interessantes Material, so viel Sie wollen, zur Verfügung stellen werde. Selbstverständlich fassen Sie selbst diese Intrigen von ihrer verwerflichsten Seite auf und lassen ziemlich deutlich durchblicken, daß es für Sie persönlich ein wahrer Genuß wäre, in der Zerreißung aller derartiger Gewebe eine hervorragende Rolle zu spielen. Vorsicht brauche ich einer Diplomatin Ihres Schlages wohl kaum anzuempfehlen. Natürlich kommt es ganz darauf an, wie der König diese Andeutungen und Mitteilungen aufnimmt. Geht er auf Ihre Ideen einigermaßen ein, beginnt er auf Ihre Vertrautheit mit allerlei politischen Kulissengeheimnissen aufmerksam zu werden – well, dann haben wir gewonnenes Spiel, und Sie können mit etwas größerer Energie und weniger Reserve vorgehen. Der Endzweck selbst ist Ihnen durch die Instruktionen des Pater Mariano bekannt?«
»Allerdings,« lautete die Antwort.
»Sie haben dieselben schriftlich erhalten?«
»Schriftlich und zwar sehr ausführlich, auf Grund meiner eigenen Berichte von Berlin aus.«
»Hm. Haben Sie die Instruktionen vielleicht zufällig bei sich?«
» Zufällig, nicht,« antwortete Harriet lächelnd, »aber absichtlich. Obgleich dieselben chiffriert sind, ziehe ich es dennoch vor, sie stets so nahe wie möglich bei mir zu haben.«
»Sehr weise Vorsicht,« erwiderte der Jesuit, befriedigt mit dem Kopfe nickend. »Darf ich fragen, welche Schlüsselnummer Sie haben?«
»Fünfzehn.«
Der Priester nahm wieder seine Zuflucht zu dem Aktenschrank.
» All right,« sagte er, zu seinem Sitze zurückkehrend. »Dann bitte ich Sie, mich einen Blick auf das Memorandum werfen zu lassen.«
»Mit Vergnügen.«
Und die Engländerin überreichte dem Jesuiten ein zusammengefaltetes Papier, welches dieser aufmerksam durchlas. Nachdem er zu Ende war, sagte er, das Blatt noch immer fest in der Hand haltend:
»Ich darf voraussetzen, Mrs. Campbell, daß Sie den Inhalt nahezu auswendig kennen.«
»Ich sollte meinen, Pater Anselmo. Oft genug habe ich den Brief studiert. Sie wissen, daß Pater Mariano ein großer Freund der peinlichsten Akkuratesse ist.«
»Denn erlauben Sie, daß ich in geeigneter Weise über das Papier verfüge.«
Und ehe Harriet etwas erwidern konnte, hatte der Jesuit eine auf dem Schreibtische stehende Kerze entzündet, an deren Flamme er das Blatt Papier hielt, bis es in seiner Hand zu Asche verbrannt war.
»Ihre Mission,« sagte er nach Beendigung dieses Autodafé, welches die Engländerin nicht ohne Verwunderung verfolgte, »ist von so delikater, ja gefährlicher Natur, daß ich diese Vorsicht für notwendig halte. Sie haben eine Chiffrenummer, die unter unseren Leuten etwas allgemein ist und daher nicht genügende Sicherheit bietet.«
Nach einem flüchtigen Blicke auf den jungen Mann, welcher während der ganzen Unterredung offenbar teilnahmlos, auf einem Sessel am Fenster sitzend, auf die menschenleere Gasse hinausgestarrt hatte, neigte der Priester den Kopf dicht zu dem Gesichte Harriets und sagte in leisestem Flüstertone:
»Die Tatsache, daß Briefe zwischen Herrn von Bismarck und dem Könige in der bewußten Angelegenheit gewechselt worden sind, haben Sie als ganz feststehend in Erfahrung gebracht?«
»Es ist kein Zweifel daran,« erwiderte Harriet ebenso leise.
»Und es sind dabei Andeutungen über die Möglichkeit eines preußisch-österreichischen Konfliktes gefallen?«
»Allerdings, Pater, und ich dächte, das läge nicht fern. Schleswig-Holstein muß über kurz oder lang zum Zankapfel werden, trotz der augenblicklichen Einigkeit.«
Der Priester nickte ernst mit dem Kopfe.
»Nun wohl,« sagte er, »sehen Sie zu, was Sie über die Haltung des Königs in dieser Affäre erfahren können. Es ist von höchster Wichtigkeit. Venetien dürfte unter Umständen allzu leicht in die Tasche des Re Galantuomo gespielt werden. Also Vorsicht und – Energie. Doch,« fügte er, seine Uhr zu Rate ziehend, laut hinzu, »die Zeit ist bei dieser interessanten Causerie rascher verflogen, als ich glaubte. Signore Marietti, entschuldigen Sie, wenn ich Sie aus Ihren Träumereien wecke. Hören Sie Lärm draußen? Sie scheinen heute ein besonderes Augenmerk auf die Außenwelt zu richten!«
Der junge Mann wandte sein bleiches Gesicht den beiden zum ersten Male zu, seit sie das Zimmer betreten.
»Es scheint bisher alles ruhig zu sein,« sagte er, »wenigstens in dieser Gegend. Sie wissen, Pater, daß zunächst wohl in der Nähe des Palazzo Madama die Sache ihren Anfang nehmen wird.«
Ein malitiöses Lächeln zuckte über das Gesicht des Priesters.
» Ebbene – die Herren Mazzinisten sollen diesmal von uns in ihrem Vergnügen nicht gestört werden. Diese kleine Bewegung kann uns jetzt gerade recht sein. Sie wird das Selbstvertrauen des guten Vittore einigermaßen erschüttern.«
»Wer weiß, ob die Sache nicht blutiger ablaufen wird, als Ihnen und uns allen recht ist!«
Der Jesuit zuckte mit den Achseln.
»Pah, wir leben in einer bewegten Zeit. Wenn sich das Kreuz von Savoyen über das Kreuz des Welterlösers zu erheben vermißt, so muß naturgemäß die Menschheit darunter leiden, und das Blut derer, die in diesem Kampfe fallen, kommt einzig und allein über die Ketzer und Neuerer, die an der Autorität der heiligen Kirche zu rütteln wagen. In Ihrem melancholischen Zustande, mein junger Freund, sehen Sie zu schwarz. Es sind notwendige Opfer, die gebracht werden.«
Der junge Mann erwiderte nichts, sondern blickte zu Boden.
»Pater Anselmo,« sagte er nach einer kurzen Pause, »Sie sind mit meinen Diensten stets zufrieden gewesen?«
Der Jesuit blickte halb mißtrauisch, halb erstaunt in das Gesicht des Fragenden.
»Nun wahrlich, ich weiß nicht, was ich aus Ihnen machen soll. Sie sind von einer Feierlichkeit, die so mit Ihrem sonstigen Wesen kontrastiert, daß ich in der Tat anfange, besorgt zu werden. Ihre Frage klingt fast so wie die eines treuen Dienstboten, der seiner Herrschaft kündigen und dabei ein gutes Zeugnis herausschlagen will. Ich sage: klingt fast so,« fügte er in ernsterem Tone hinzu, »denn Sie wissen wohl, daß das Verhältnis, in dem Sie zu unserem heiligen Orden stehen, nur eine Macht lösen kann – –«
» Der Tod!« ergänzte der junge Mann mit einem sichtlichen Schauder und einem so sonderbaren Tone, daß sowohl der Jesuit, wie Harriet, ihn erstaunt und forschend anblickten.
»Ich muß Sie wirklich bitten, Mrs. Campbell,« sagte Pater Anselmo, zu der Engländerin gewendet, »daß Sie auf dem Heimwege Ihr Möglichstes tun, unseren Freund hier in eine andere Stimmung zu bringen. Wenn ich Zeit habe, werde ich Sie morgen zu einer Beichte veranlassen, Signore Marietti, und alsdann hoffentlich in der Lage sein, Ihnen Ihre trüben Gedanken auszureden.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet,« sagte ausweichend der junge Mann.
»Nun wohl – die ist leicht zu beantworten. Sie sehen aus meiner Unzufriedenheit über Ihre bedenkliche und unerklärliche Kopfhängerei, wie wertvoll mir Ihre Dienste erscheinen, deren Haupterfolg eben auf Ihrem bisher stets so elastischen und lebhaften Naturell beruhte. Ich könnte deutlicher sein, wenn Sie wollten, indes, ich weiß nicht –«
Der junge Mann schüttelte mit dem Kopfe.
» Ebbene, wie Sie wollen. Wenn wir demnächst das ganze Mazzinistennest hier in Turin ausheben, sobald wir erst hinter alle ihre geplanten Hauptcoups gekommen sind, so haben wir dies einzig und allein Ihrem Mute, Ihrer Energie und – Ihrer Schlauheit zu verdanken. Genügt Ihnen diese Anerkennung?«
»Sie genügt,« erwiderte ernst der junge Mann, »und nur eine Gefälligkeit verlange ich von Ihnen zur Bekräftigung Ihrer Zufriedenheit.«
»Verfügen Sie über mich,« erwiderte der Priester.
»Wenn Sie jemals an Ahnungen und Vorgefühle geglaubt haben, so könnten Sie, wenn Sie sich in meiner Lage befänden, auch die Gründe meiner Melancholie richtig beurteilen. Ich war heiter, ich war übermütig heiter, gewiß« – er sprach diese Worte mehr wie zu sich selbst, als zu andern – »aber die Hand Gottes selbst hat in mein Gemüt eingegriffen. Seit vorgestern abend« – abermals schien ein Schauder durch seine Glieder zu gehen und seine Augen richteten sich starr auf seine rechte Hand, mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke des Entsetzens, wie etwa die Augen eines Mörders, der Flecken vom Blute seines Opfers an seinen Fingern entdeckt, – »seit vorgestern abend – doch das gehört nicht hierher,« unterbrach er sich tief aufatmend. »Mit einem Worte, ich habe das Gefühl – als stünde ich nahe vor dem Ende meiner Tage und –«
»Im Namen der heiligen Dreieinigkeit« – – rief der Priester, offenbar ernstlich besorgt aufstehend und auf den jungen Mann zutretend; doch dieser ließ ihn nicht zu Worte kommen. Er streckte wie abwehrend seine Hand aus und sagte mit ernstem Tone:
»Unterbrechen Sie mich nicht, Panter Anselmo, ich muß mich kurz fassen, da mich, wie Sie wissen, meine – Pflicht heute noch nach dem Hotel Europa ruft. In diesem schreiben hier habe ich gewissermaßen mein Testament niedergelegt, wenn Sie es mit diesem Namen bezeichnen wollen, meinen letzten Willen, an dessen buchstäblicher Erfüllung mir, falls sich etwas Unerwartetes mit mir ereignen sollte, viel, sehr viel gelegen ist. Wenn ich Ihnen, Pater Anselmo, zu dem ich Vertrauen habe, dieses Schreiben übergebe, kann ich mich darauf verlassen, daß Sie nach – nach meinem Tode meine in demselben ausgesprochenen Wünsche ehren werden?«
Der junge Mann hatte während dieser Worte einen versiegelten Brief aus der Tasche gezogen, händigte jedoch denselben dem Priester noch nicht ein, sondern hielt ihn, dessen Antwort erwartend, in der Hand.
»Junger Freund,« sagte der Priester, und es lag ein fast strenger Ton in seinen Worten, »halten Sie sich für berechtigt, über Ihr Leben zu verfügen, wie Sie wollen?«
»Sie mißverstehen mich, Pater Anselmo. Sie mißverstehen mich vollständig,« sagte Marietti mit ruhiger Stimme. »Sie denken an Selbstmord, doch mir liegt dieser Gedanke fern. Glauben Sie mir, daß ich vollständig klaren Geistes bin, daß ich genau weiß, was ich tue und was ich spreche. Über meinem Haupte schwebt das Verhängnis und ich weiß es, denn eine überirdische Stimme hat es mir gesagt, so daß es meiner Hand wahrlich nicht bedarf, um meinem Leben ein Ende zu machen, wenn ich dies auch wollte. Die Hand Gottes wird schneller, als Sie vielleicht denken, ja möglicherweise schneller, als ich es selbst ahne, diesen Lebensfaden durchschneiden.«
Es lag etwas Erschütterndes in der Bestimmtheit, in der feierlichen Ruhe, mit welcher dieser junge Mann, aus dessen zarten, fast mädchenhaften Zügen die Vollkraft der Jugend und Gesundheit sprach, diese Worte äußerte.
Dieser Eindruck schien auch in der Tat mit voller Kraft auf den Priester sowohl, wie die schöne Jesuitenagentin zu wirken. Ersterer blickte einen Augenblick wortlos in das Gesicht Mariettis und eben öffnete er den Mund, um eine Erwiderung zu geben, als auf einmal aus dem Erdgeschosse das laute Kreischen einer Weiberstimme ertönte.
Nun wußte Pater Anselmo, daß in dem Erdgeschosse dieses Hauses, unter der Ägide des schlitzäugigen Ostiere, stets ein »Häuflein gewappneter Knechte« der Befehle harrte, welche von »oben«, wo oft Geschäfte höchst bedenklicher und namentlich für einen Gottesmann mindestens kompromittierender Natur gebraut wurden, von Zeit zu Zeit herabkamen. Auch kannte der Pater sehr wohl den moralischen Status quo dieser Leute und war daran gewöhnt, von Zeit zu Zeit in etwas derber, mit seinem geistlichen Kleide nicht vollständig harmonierenden Weise mit denselben zu verkehren. In der Tat war seine Autorität – selbst der out-law, unter einem so strikt katholischen Volke, wie die Italiener es sind, hat einen heillosen Respekt vor Kutte, Stola oder Soutane – zuweilen dringend nötig, um die wüste Bande in Ordnung zu halten, welche selbst dem Ostiere, der, dank seiner Körperfülle, den Spitznamen Addomine Schmeerbauch. führte, über den Kopf wuchs.
Der plötzliche Lärm ließ Pater Anselmo vermuten, daß wieder einmal einer der nicht seltenen Krawalle unter den saubern Brüdern im Zeichen der »diebischen Elster« ausgebrochen war, der seine Gegenwart erforderte. An Energie und körperlicher Beweglichkeit fehlte es dem Jesuiten nicht. Mit Blitzesschnelle war er aus dem Zimmer geeilt und stand im Erdgeschoß am Eingange zu den Wohnräumen des Ostiere »Addomine«. Die Kellertreppe herauf kam schreckensbleich, mit fliegendem Haar Azucena, die Köchin des Ostiere, ihm entgegen gestürzt.
»Rasch, was gibt's!« herrschte er sie an.
» O santa Maria!« stöhnte die Alte. »Pater Anselmo, uno spettro bruno nella cantina! Ajuto, ajuto!« Ein braunes Gespenst im Keller! Hilfe, Hilfe!
» Pazzie, Dummes Zeug! Alte!« rief der Priester. »Was hast du gesehen? Rasch!«
»Unten, unten im Keller! Er sprang die Holztreppe hinunter, als ich hereinkam.«
»Wo? Wer? Schnell, schnell zeige mir den Weg!«
» Misericordia di Dio!« – jammerte Azucena.
»Hör' auf mit dem Heulen und geh' ohne Furcht voran. Ich bin bewaffnet!« herrschte der Priester, der in diesem Momente, außer der schwarzen Soutane, jede Spur von seinem geistlichen Stande abgestreift hatte. Sein Auge blitzte und seine hagere, nervige Gestalt hatte sich stramm aufgerichtet, wie die eines zum Kampfe gerüsteten Soldaten.
Zitternd eilte die Alte die in den Keller führenden Treppenstufen hinunter. Eilig folgte ihr Pater Anselmo. Im schwachen Schimmer des in die Dunkelheit fallenden Tageslichtes sah der Priester die Riesengestalt Jankals behende durch den Hauptgang dem Ausgange zu schlüpfen, mit bewundernswertem Geschick, trotz der Eile, in welcher er sich befand, die im Wege liegenden Hindernisse überwindend.
Mit einem raschen, scharfen Blicke nach dem Holzverschlage und dem Spalt in der Decke des Kellers hatte der Jesuit die Sachlage erkannt.
»Halt, Spion, wenn dir dein Leben lieb ist!« schrie er dem Madagassen zu. »Halt, oder ich schieße dich nieder wie einen Hund!«
Mit diesen Worten zog er aus einer Tasche seiner Soutane einen sechsläufigen Revolver heraus, offenbar bereit, seine Drohung wahr zu machen.
Jankal drehte sich nur einen Moment um, ergriff ein altes, an der Seite liegendes Möbelstück und warf es mit Riesenkraft dem fast ebenso schnell, wie er, vordringenden Priester in den Weg, um ihn in seiner Verfolgung aufzuhalten.
In diesem Augenblicke erhob der Jesuit den Revolver. Ein rasches Zielen, soweit dies in dem hier unten herrschenden Halbdunkel möglich war, und – donnernd entlud sich der Schuß, in dem Labyrinth unterirdischer Gänge ein vielfaches, gellendes Echo findend. Der Pulverdampf erfüllte den schmalen Gang und ließ die Wirkung des Schusses nicht erkennen.
»Hinauf, Alte, rasch, rasch!« schrie der Jesuit der von Schrecken nahezu gelähmten Azucena zu. »Rufe den Wirt. Ein Paar Mann in den Garten, einen oder zwei hierher. Eile, Weib, oder –«
Es bedurfte wahrlich der vielsagenden Drohung, die in dem erhobenen Revolver lag, um Leben in die vor Schreck erstarrten Glieder der Alten zu bringen. Sie eilte davon, so rasch sie ihre Beine tragen wollten, und – der Leser weiß, in welch verworrener Weise sie sich in der Tür des Gastzimmers des ihr gewordenen Auftrages entledigte.
Es wurde rasch lebendig im Hause. Im Nu war »Addomine« an der Seite des Priesters und expedierte die ihm nachdringenden Männer nach dem schmalen Seitengange, außerhalb der Gartenmauer, um dem Flüchtling den Weg abzuschneiden. Eine absonderlich langsame, doch um so aufregendere Hetzjagd begann. So leicht sich es in dem Kellergange langsamen und vorsichtigen Schrittes gehen ließ, so beschwerlich traten die Hindernisse in Gestalt von Dunkelheit und Rumpelkram in den Weg, wollte man ein schnelleres Tempo einschlagen, wie dies in diesem Falle vonseiten der Verfolger, wie des Verfolgten geschah. Dies war der Grund, warum Jankal, der übrigens der mehr aufs Geratewohl abgefeuerten Kugel des Jesuiten glücklich entgangen, nicht bereits in den Händen der übermächtigen Feinde war.
»Was ist vorgefallen?« fragte eine helle Stimme an der Seite des Priesters, welcher eben aufs neue zu seiner Schußwaffe Zuflucht nehmen wollte.
»Was geht hier vor, Hochwürden?«
Er erblickte den jungen Marietti vor sich.
»Zurück!« rief er. »Ihr Platz ist nicht hier. Eilen Sie hinauf, um Mrs. Campbell in Sicherheit zu bringen; wer weiß, ob hier nicht noch mehr gefährliche Teufelei dahinter steckt.«
»Aber wie soll sie fort? Hier unten scheint der Weg versperrt zu sein und – durch die Gaststube werden Sie die Lady nicht gehen lassen wollen.«
» Diavolo!« rief der Pater, in ungeistlicher Wut mit dem Fuße stampfend. »Das ist wahr.«
»Sie wollen jemand aus dem oberen Stockwerk ins Freie bringen, Pater Anselmo?« fragte eilig der Wirt.
»Allerdings, und zwar so rasch, wie möglich.«
» Ebbene, da ist ja die Parterretür hier über dem Kellerausgange, den der Halunke dort bald erreichen wird, wenn wir uns nicht beeilen. Sie ist verschlossen. Hier ist der Schlüssel.«
»Vortrefflich!« rief der Jesuit. »Hier, Signore Marietti, eilen Sie, so rasch Sie können, nach dieser Hintertüre, und schließen Sie dieselbe vor allen Dingen auf. Verdammt, daß wir nicht eher daran gedacht haben. Wir hätten von dort aus dem Burschen den Kellerausgang versperren können, statt unsere Leute da draußen erst über die Gartenmauer voltigieren zu lassen. Eilen Sie, Signor, und Sie, Ostiere, laufen sofort und sagen einem der Kerle, daß er sofort die Freitreppe besetzt, zur Sicherung meiner Gäste.«
Marietti war bereits die Kellertreppe hinauf und der zum Garten führenden Hintertüre zugeeilt. In demselben Augenblicke, wo er die Tür aufschloß und, um sich zu orientieren, auf die kleine Steintreppe hinaustrat, sah er die Gestalt Jankals unter derselben emportauchen. Mit Blitzesschnelle durchfuhr ihn der Gedanke, daß er hier den Gegenstand der Verfolgung und der allgemeinen Verwirrung vor sich hatte. Ein kühner Entschluß kreuzte sein Hirn. So jugendlich sein Aussehen war, so schien doch eine Art von finsterem Todesmut ihn zu beseelen. Mit wenigen Sätzen stand er unten an der Treppe und schrie, einen Dolch aus der Brusttasche seines Rockes ziehend, dem überraschten Jankal ein drohendes Halt entgegen. Es war ein tollkühner Akt, offenbar entsprossen einer fast unnatürlichen Anwandlung von Todesverachtung: der junge, kaum dem Knabenalter entwachsene Mann der Gigantengestalt des madagassischen Natursohnes mit einem Dolche in der Hand entgegen tretend.
Rascher als unsere Feder die ganze Szene zu schildern vermochte, folgte das Verhängnis dem unbedachten Schritte.
Der Knall eines Revolverschusses in der Richtung Mariettis. – Ein zweiter, – ein dritter donnerte zweien der Osteria-Gäste, die auf den Kellereingang zugelaufen kamen, entgegen. Ein lauter Schrei ertönte, die schlanke Gestalt des jungen Mannes taumelte und stürzte zu Boden. Der vorderste der Galgenvögel krümmte sich stöhnend und fluchend in seinem Blute auf den Steinfließen vor der Kellertüre, der andere rang in furchtbarem Kampfe mit Jankal, dessen muskulöse Arme den Leib des nicht zu verachtenden Gegners mit eisernem Griffe umspannt hielten.
Dieses Schauspiel bot sich den Blicken des Jesuiten und des Ostiere dar, als sie aus der niedrigen Kellertür ins Freie traten. Der letztere stürzte auf die Ringenden zu, während der Priester zu dem regungslos, mit bleichem Antlitz und blutender Schulterwunde am Boden liegenden Marietti eilte.
»Lebendig, Filippo!« schrie er, neben dem jungen Manne niederkniend, mit einem raschen Blicke auf die Ringenden, dem Ostiere zu. »Weg mit dem Messer! Wir müssen den braunen Schurken lebendig fangen! Misericordia di Dio – ich glaube, er hat sie getötet!« Und er beugte sich tief auf die vor ihm liegende, leblose Gestalt nieder, seine Hand riß mit kräftigem Rucke Rock und Weste des Verwundeten auf – ein marmorweißer Frauenbusen kam darunter zum Vorschein.
Dumpfes Keuchen, Zähneknirschen, leises, atemloses Fluchen in der Gruppe der Ringenden. Es waren beides kräftige und kampfgewohnte Männer, mit welchen Jankal sich zu messen hatte, und dennoch schien es, als sollte sich die Wagschale zugunsten des Madagassen neigen. Der Bandit, der ihn zuerst angegriffen, lag unter ihm, und die Faust Jankals hielt seine Kehle so fest umspannt, daß die Augen des nahezu Erstickten aus ihren Höhlen traten, während die gewaltige Körperlast des Gegners seine Arme machtlos zu Boden drückte. Mit dem andern Arm wehrte Jankal den Ostiere ab, der gleich bei seiner Annäherung einen so heftigen und wohlgezielten Schlag von der nervigen Faust des Madagassen zwischen seine kleinen, wulstigen Augen erhalten hatte, daß er, in halber Betäubung, nur einen geringen Teil seiner ursprünglichen Körperkräfte zur Befreiung seines Kameraden zu verwenden vermochte. In diesem Augenblicke kam unerwartete Hilfe. Die Gestalt des »Schielenden« und des Zerbinotto erschienen auf der Szene des Kampfes. Die beiden Kumpane hatten auf Anordnung des Wirtes den vorderen Ausgang des Hauses besetzt gehalten und waren durch die Schüsse und das Geschrei angelockt worden. Der Zerbinotto freilich, an Feigheit seinem schielenden Kollegen bei weitem überlegen, zog es vor, sich zunächst abwartend in angemessener Entfernung zu halten. Er benutzte die Gelegenheit, sich zu Pater Anselmo zu schleichen und, um nicht geradezu den müßigen Zuschauer zu spielen, ihm seine Hilfe bei dem, oder wie wir jetzt richtiger sagen müssen, bei der Verwundeten anzubieten.
Der Schielende jedoch hatte kaum das Gesicht Jankals erblickt, als er auch mit einem heiseren Schrei auf die Gruppe der Kämpfenden zustürzte, sich wie ein Tiger auf den Madagassen warf und – seine Zähne tief in die Muskeln des ausgespannten Armes versenkte. Mit einem dumpfen Schmerzenslaut ließ Jankal den Arm sinken. Filippo war dadurch frei geworden und konnte nun mit Hilfe des Schielenden den unter dem Madagassen liegenden, halberstickten Kameraden aus dem Eisengriffe der braunen Faust befreien und Jankal vollends überwältigen.
Der Priester hatte indessen mit Hilfe seines Taschentuches einen dürftigen Notverband an der blutenden Schulter der Verwundeten angebracht. Diese gab noch immer kein Lebenszeichen von sich. Es schien in der Tat, als habe die Kugel Jankals die trüben Ahnungen und Prophezeiungen des jungen Mädchens mit jäher Schnelligkeit wahr gemacht.
Ein Blick belehrte den Priester über den günstigen Ausgang des Kampfes mit Jankal.
»Filippo,« rief er dem Ostiere zu, indem er zugleich den sich mit widriger Zuvorkommenheit hilfsbereit herandrängenden Zerbinotto beiseite stieß, »holt Eure Nichte herbei, aber rasch, ich habe mit ihr zu sprechen, und –«
Ehe er seinen Satz vollenden konnte, ertönte die Stimme Violettas hinter ihm:
»Ich bin schon hier, Pater Anselmo. Worin kann ich Euch helfen. Santa Maria, ist die Signora tot?«
»Vortrefflich, Kind, daß du da bist! Ich hoffe, es ist noch Rettung möglich!« rief der Jesuit, sichtlich erfreut, weibliche Hilfe in der Nähe zu haben.
Das junge Mädchen war, erschreckt durch den Alarm im Hause und Garten, und durch das schreckensbleiche Gesicht der alten Azucena, deren Sprachwerkzeuge vor Angst so gelähmt waren, daß sie kaum imstande war, Violetta eine verständliche Erklärung dieser stürmischen Vorgänge zu geben, herbei geeilt und zum Teil Zeugin der aufregenden Szene gewesen. An der Türe hatte sie die Engländerin, welche der Lärm gleichfalls herbeigelockt, angetroffen; diese hatte sich ihr sofort angeschlossen und stand nun gleichfalls vor dem leblosen Körper des jungen Mädchens.
»Es tut mir leid, daß Sie Zeugin einer so grauenhaften Szene sein müssen,« rief der Priester, zur Engländerin gewandt, hastig. »Ich hoffe, es wird Ihnen leicht werden, sämtliche Details derselben rasch und für immer zu vergessen!«
Harriet verstand die versteckte Drohung, welche in diesen Worten des Priesters lag, recht wohl, und der Blick, welchen er bei denselben auf die Verwundete warf, war in der Tat nicht mißzuverstehen.
Sie konnte sich dennoch eines kalten Lächelns nicht erwehren. Die Furchtbarkeit der Szene hatte offenbar auf sie keinerlei bemerkenswerten Eindruck gemacht.
»Warum das Mißtrauen mir gegenüber?« erwiderte sie gleichfalls in englischer Sprache. »Ich dächte, meine Diskretion hätte andere Proben, als diese, glücklich bestanden. Oder haben Sie, Pater Anselmo, einen so unvollkommenen Begriff von dem Scharfblick eines Weibes, daß Sie auch nur einen Augenblick wirklich geglaubt haben, ich hätte die Maskerade dieses unglücklichen Mädchens hier nicht sofort durchschaut, als sie mir an dem bezeichneten Orte entgegen trat?«
»Und doch hätte ich gewünscht, daß Sie oben geblieben wären,« erwiderte der Priester, nachdenklich auf das leblose Mädchen blickend, dessen Kopf jetzt in dem Schoße Violettas lag. »Sie brauchen hier nicht gesehen zu werden. – Ebbene, was geschehen ist, ist geschehen! Violetta!« fügte er hinzu. »Hast du ein Zimmer und ein Bett für die Unglückliche?«
»Gewiß, Hochwürden, – mein Zimmer und mein Bett!«
Der Priester nickte mit dem Kopfe.
»Braves Mädchen,« sagte er, »du hast Kopf und Herz auf dem rechten Flecke. Hole die alte Azucena herbei. Sie soll dir helfen die Signora hinauftragen. Doch halt. Knöpfe die Weste wieder zu und decke dein Tuch darüber, so. Hörst du, Mädchen« – fügte er leiser hinzu – »du wirst im übrigen die Alte möglichst fern von dem Bette der Signora halten. Die alte Plaudertasche braucht nicht alles zu wissen und – dir ist nichts anderes bekannt, als daß dies hier ein junger Mann ist. Schwöre das beim heiligen Sakrament.«
»Ich schwöre es,« erwiderte ernst das junge Mädchen.
Doch während sie dies sagte, flog ihr Blick forschend nach der andern Gruppe hinüber und blieb mit einem Ausdrucke halb des Erstaunens, halb der Besorgnis auf Jankal ruhen.
Die Männer waren beschäftigt, den Riesen mit Stricken zu binden, und der »Schielende« tat dabei sein Möglichstes, den besiegten Madagassen fühlen zu lassen, daß er in den Händen unversöhnlicher Feinde sei.
»So, brauner Satan,« rief er höhnisch Jankal zu, der mit fest zusammengepreßten Lippen und anscheinend stoischer Ruhe alles mit sich geschehen ließ, »so, jetzt haben wir deine langen Beine in Sicherheit gebracht. Kannst ja mal versuchen, ob du rasch zu deinem würdigen Padrone gelangen kannst, um ihm zu erzählen, was du hier gesehen. Santa Maria – wird sich der Giudice grämen, wenn er merkt, daß ihm sein treuer Diener durchgegangen ist. Und Signora Ginevra so allein und ohne Schutz zu lassen, an einem solchen Tage, schäme dich, brauner Halunke!«
Unwillkürlich entrang sich ein schmerzliches Stöhnen der Brust des Madagassen bei Erwähnung des Namens seiner Herrin, und seine Augen schossen Blitze ohnmächtiger Wut auf den höhnenden Schurken.
»Also habe ich doch recht gehabt,« murmelte der Schielende, der die Bewegung in dem Gesichte Jankals recht wohl gemerkt hatte, zwischen den Zähnen. »Sie ist also hier in Turin. He, Zerbinotto, komm her und laß dir einen alten Freund vorstellen!«
Der Angeredete war in ein gieriges Anschauen der Verwundeten und Violettas versunken gewesen, welch letztere eben mit der immer noch am ganzen Leibe zitternden Azucena zurückgekehrt war und sich anschickte, das verwundete Mädchen fortzutragen. Dem scharfen Auge des rotköpfigen Burschen war es keineswegs entgangen, daß die am Boden Liegende ein verkleidetes Mädchen war und zwar ein solches, welches der Blicke aus seinen lüsternen Augen wohl würdig war.
Der Ruf des Schielenden weckte ihn aus seinen Betrachtungen und brachte ihn an die Seite Jankals, über den er nicht minder, wie sein Kamerad, eine Flut von giftigen Schmäh- und Hohnreden ausgoß.
Der Priester trat hinzu und befahl Filippo, der eben die letzte Hand bei der Fesselung des überwundenen Gegners anlegte, den Madagassen in ein sicheres Versteck des Hauses zu bringen und so lange wohl bewachen zu lassen, bis er zurückkehre und dem Gefangenen genauer auf den Zahn fühlen könne.
»Es dürfte Euch aber schwer fallen, Pater Anselmo, viel aus dem Burschen herauszukriegen,« erwiderte der Wirt, dem Gefesselten einen verächtlichen Fußtritt versetzend.
»Weshalb?«
» Ecco – der Kerl ist stumm, wie ein Fisch.«
»Woher wißt Ihr das, Filippo?«
»Es scheint ein alter Bekannter von dem Bieco hier zu sein.«
Der Priester wendete sich an den Schielenden.
»Was wißt Ihr von dem Unbekannten hier, Mann? Verschweigt nichts. Es ist für mich von höchster Wichtigkeit, so viel, wie möglich, über diesen Menschen zu erfahren. Er hat offenbar nicht auf eigene Faust gehandelt.«
» Ebbene, Hochwürden,« erwiderte der Gefragte, »was den braunen Halunken veranlaßt haben kann, in dieses Haus zu kommen, das ist mir ebensowenig klar, wie Ihnen. Aber wenn ihn jemand dazu angestiftet hat, so kann's, bei meiner Seligkeit, kein anderer gewesen sein, als sein sauberer Herr, ein Erz-Ketzer und Feind der heiligen Kirche.«
»Wer ist sein Herr und woher kennst du ihn?«
»O, Padre,« entgegnete der Schielende mit boshaftem Lächeln, »sein Herr scheint mir hier in Turin, beim Volke wenigstens, ganz gut bekannt und nicht minder gut angeschrieben zu sein. Ich habe mich davon heute überzeugen können, obgleich ich ihn nach langer Zeit zum erstenmal und nur auf kurze Zeit gesehen habe.«
»So sprich doch kurz und deutlich!« herrschte ihn der Jesuit ungeduldig, mit zornigem Augenfunkeln, an. »Wer ist es?«
»Simone Moretto heißt er, Padre Anselmo. Er war früher Richter im Neapolitanischen, in der Gegend der Tavoliere di Puglia, und hat diesen braunen Heiden von seinem alten Geizhalse von Onkel, der unweit Manfredonia wohnte, geerbt. Wird wohl das einzige Erbstück gewesen sein,« fügte er, höhnisch lächelnd und seine schielenden Augen halb auf den Priester, halb auf den auf dem Boden Liegenden gerichtet, hinzu, »denn das übrige Erbe ist einen andern Weg gewandert.«
Der Jesuit schien ihn recht gut zu verstehen, was nicht zu verwundern war, da ihm die saubern Antezedenzien des Schielenden bekannt waren. Bei Nennung des Namens Simone Moretto war er nachdenklich geworden.
»Dieser Name ist mir nicht unbekannt,« murmelte er, mehr für sich, als zu dem andern gewandt. »Erzähle mir alles über die Beziehungen dieser beiden Personen zueinander und wie du sie kennen gelernt hast. Du warst früher in Neapel?«
» Si padre,« sagte der Bandit, sich stolz aufrichtend, »ich habe für die heilige Kirche in Neapel gefochten, das kann Ihnen mein Freund, der Zerbinotto hier, bestätigen.«
Der Zerbinotto, dem an dieser »Freundschaft« gar nicht sonderlich viel gelegen zu sein schien, antwortete nur mit einem mürrischen, unverständlichen Knurren, und über das Gesicht des Jesuiten zuckte, unmerklich fast, ein malitiöses Lächeln.
»Schon gut, ich glaube dir's, mein Sohn,« erwiderte er darauf, »und der Segen des Herrn wird dafür mit dir sein, bis an dein Lebensende. Doch nun gib mir rasch und kurz die Auskunft, welche ich haben will.«
Der Schielende erzählte nun frei von der Leber weg einen Teil seiner Schandtaten, welche mit den dem geneigten Leser wohlbekannten Ereignissen im alten Kastell des Signore Lorenzo und der Meierei des alten Martini in Zusammenhang standen. Nur das Ende der alten Petronilla hielt er für angemessen zu verschweigen.
Der Jesuit horchte ihm mit gespanntester Aufmerksamkeit zu. Als der Schielende mit seiner Berichterstattung zu Ende war, nickte Pater Anselmo mehrmals befriedigt mit dem Kopfe.
Also stumm ist dieser Mensch? Hm, hm,« sagte er, »dann wird es freilich wenig nützen, ein Examen mit ihm anzustellen. Aber – es kommt darauf an, ob man nicht den Herrn zum Sprechen bringen kann, wenngleich der Diener stumm ist. Was meinst du dazu, Mann?« fügte er, zum Schielenden gewandt, hinzu.
Ein vortrefflicheres Entgegenkommen des Schicksals, eine bessere Förderung seiner und seines Genossen Rachepläne gegen Simone Moretto konnte sich der Schurke gar nicht wünschen, als in dieser Insinuation des Jesuiten lag. Mit einem raschen Blicke teuflischer Freude auf seinen Kumpan, den Zerbinotto, sagte er, anscheinend gleichgültig:
»Je nun, Hochwürden, es kann schon sein, daß es sich lohnt, den Giudice zur Stelle zu bringen. Er war schon in Neapel ein versteckter Feind Sr. Majestät des rechtmäßigen Königs und ein Verteidiger dieses Ketzers von Re galantuomo, und ich zweifle nicht, daß dieser braune, spionierende Halunke hier von seinem Herrn zu irgendeinem Zwecke hierher geschickt worden ist.«
»Und glaubst du wohl, jenen Giudice in Turin auffinden zu können?«
Ein rascher, halb warnender, halb verschmitzter Seitenblick flog aus den schielenden Augen zu dem Zerbinotto hinüber.
»Auffinden?« erwiderte er, scheinbar einen Moment nachdenkend. »Oh, ich denke, das Auffinden wird keine Schwierigkeiten machen. Aber – hm – Sie meinen doch, Pater Anselmo, daß, was geschehen soll, rasch geschehen muß?«
»Zweifellos, so rasch, wie möglich!«
»Also wohl heute noch?«
»Wenn es angeht, ja.«
»Hm, wenn es jemals geht, so geht's heute, wo in Turin der Teufel los ist!«
»Nun denn, was zögerst du denn noch, Bursche?« fragte ärgerlich der Priester. »Ist's wegen der Belohnung?«
» Misericordia di Dio! Wie können Sie so schlecht von mir denken, Pater Anselmo!« erwiderte der Schurke mit heuchlerischer Miene. »Ich kenne Ihre Freigebigkeit ja zu wohl und überdies bin ich durch meinen Eid so wie so verpflichtet, Ihnen zu gehorchen. Wenn Sie freilich für mich und meinen Kameraden hier, wegen des besonders gefahrvollen Auftrages –«
» Cospetto di bacco!« rief der Pater, mit dem Fuße aufstampfend. »Mach' die Sache kurz. Ich habe andere Dinge zu tun, als mich mit dir zu unterhalten. Eine Belohnung erhaltet ihr alle beide, wenn ihr mir den Moretto, ohne Aufsehen zu erregen, zur Stelle schafft. Nun, nach dieser ausdrücklichen Erklärung steht doch wohl weiter nichts im Wege!«
»Ja das ist's ja eben, Hochwürden, daß Sie mich mißverstanden haben. Es ist uns beileibe nicht ums Geld zu tun. Ich wollte nur sagen, daß es wohl leicht wäre, den Giudice rasch herbeizuschaffen, wenn's Ihnen nicht darauf ankommt, ob ihm ein Stückchen Blei zwischen den Rippen steckt. Wo das herkommt, würde heute in Turin, wenn's erst richtig losgegangen ist, doch niemand merken. Aber mit heiler Haut wird's schwerer halten, ihn so rasch fest zu kriegen. Denn er ist ein Freund dieses verrückten Turiner Volkes und beständig von einer Masse von Menschen umgeben. Indessen –«
Ein hämisches Lächeln glitt über das häßliche Gesicht des schmächtigen Burschen, während er eine kurze Pause des Nachdenkens machte.
»Nun – indessen?«
»Indessen – ich wüßte ein Mittelchen, um ihn sehr bald ganz von selbst dahin zu zitieren, wo Sie nur irgend hin wollen, Pater Anselmo.«
»Und das wäre?«
»Seine schöne Padrona ist hier in Turin, so wahr mich die Leute den Bieco schimpfen, und – wenn wir die haben, so haben wir nicht nur ihn, sondern können ihn auch leichter zwingen, alles zu sagen, was wir nur irgend wissen wollen.«
Der Pater blickte einen Augenblick nachdenklich zu Boden. Es war ein gefährliches Unternehmen, welches ihn, wenn nicht mit größter Vorsicht ausgeführt, leicht in den Augen der Turiner Polizei sehr bedenklich kompromittieren konnte. Und doch mußte er sich andererseits sagen, daß der Schielende mit seinem Einwande nicht unrecht hatte. Ihm, dem Priester, war der Name und der Ruf des wackeren Simone Moretto aus den geheimen Berichten der jesuitischen Spione wohlbekannt, und da er in der Tat glaubte, daß er die Gegenwart Jankals in diesem seinem wohlverborgenen Hauptquartier irgendwelchen Machinationen Morettos zu verdanken habe, so mußte ihm daher ungeheuer viel daran liegen, die Absichten und Pläne des Giudice kennen zu lernen. Versicherte er sich nun in gewöhnlicher Weise seiner Person, so konnte er von der Charakterfestigkeit Morettos erwarten, daß er ihm den wahren Grund der Absendung Jankals nicht sagen und am allerwenigstens ihm zu erkennen geben würde, was ihm über diesen Schlupfwinkel Turiner Bravis und jesuitischer Konspirateure bekannt sei. War er hingegen im Besitze Ginevras, welche, wie er aus der Erzählung des Schielenden mit Leichtigkeit ersah, von ihrem Gatten grenzenlos geliebt ward, so war der moralische Zwang ein viel größerer. Wurde Moretto die sofortige Befreiung Ginevras als Köder hingehalten, war es wohl eher möglich, ihn zu offenem Sprechen zu bewegen.
Dies war der Gedankenprozeß des Jesuiten.
»Glaubst du, die Signora finden zu können?« fragte er endlich den Schielenden.
» Ebbene, Pater Anselmo,« entgegnete der Spitzbube achselzuckend, »das ist nun freilich so leicht nicht. Es wäre weniger schwer, müßten wir nicht die beiden auseinander halten und wäre nicht Eile notwendig. Sonst wäre es ja ein Kinderspiel, dem Richter auf der Spur zu folgen, wenn er sich heim zu seiner Padrona begibt.«
Der Jesuit fühlte wohl, daß hinter diesem Zögern, hinter dieser Weitschweifigkeit des durchtriebenen Burschen irgend etwas anderes verborgen war. Er schien irgendeinen Plan zu haben, mit welchem er sich nicht so recht herauszurücken wagte. Er hielt es daher zur Beschleunigung der Angelegenheit, an deren Erledigung ihm mehr gelegen war, als er selbst offenbar machen wollte, für angemessen, einen andern Ton anzuschlagen. Seine Stimme klang hart und drohend, als er sagte:
»Höre, mein Bursche, – ich gebe dir fünf Minuten Bedenkzeit, um dich darüber zu vergewissern, ob es dir nicht möglich ist, klar und deutlich deine Absicht und deinen Plan auseinander zu setzen. Nach Ablauf dieser fünf Minuten werde ich, wenn du weitere Umschweife machen solltest, dich daran erinnern, welche Mittel ich in der Hand habe, einen Halunken, wie du, zu blindem, lautlosem Gehorsam zu zwingen!«
Der mit der Zunge zwar äußerst »fixe« und, wenn es darauf ankam, auch mit der Faust brutale und grausame, im Grunde seines Herzens aber ebenso feige Geselle zuckte unter diesem scharfen Lufthiebe der jesuitischen Sklavenpeitsche ersichtlich zusammen. Es schien der fünf Minuten Bedenkzeit nicht zu bedürfen. Mit der Miene eines Schuljungen, den eine gehörige Tracht Prügel zur Räson gebracht hat und der, diese Prügel abschüttelnd, sich plötzlich auf seine vergessene Lektion besinnt, sagte der Schielende:
» Perdone, Pater Anselmo, ich hatte bei allen Heiligen nicht die Absicht, Sie zu beleidigen. Was ich meinte, war das. Sie können besser ein kleines Briefchen zusammenbringen, als alle scrivani pubblici in Turin und in Rom zusammengenommen. Wie wär's, wenn ich mich in die Nähe des Signore Moretto machte, ihn genau beobachtete und auf irgendeine Weise abhielte, heim zu gehen. Dazu wird sich heute leicht irgendein Weg finden lassen. Sie schreiben nun ein biglietto, adressiert an die Signora Ginevra Moretto, worin Sie ihr mitteilen, daß ihrem padrone in dem Tumult etwas zugestoßen sei, daß Sie sich seiner für den Augenblick angenommen hätten und glaubten, es sei gut, wenn die Signora selbst einmal herkäme und sich nach ihrem verwundeten amoroso umsähe. Sie werden das schon gut auszudrücken verstehen, Vossignoria reverendissima, – besser als ich. Mit diesem Briefe schicken wir den Zerbinotto hin. Der sieht so geschniegelt und fein aus, wie ein Kavaliere vom Hofe Sr. Majestät des Re galantuomo, und, ich wette hundert Lire, das Täubchen wird so flink ins Netz fliegen, wie wir es nur wünschen können. Dabei geht alles ruhig ab, es macht kein Aufsehen und wir können nachher den Täuberich um den Finger wickeln. Hochwürden werden es einem armen Burschen, der sein Lebtag keine Feder in der Hand gehalten hat, nicht übel nehmen, wenn ich Sie hier mit hineinziehe. Aber, es ist ja nur das biglietto, alles andere besorgen wir allein, und ich glaube, es ist der beste Weg, den wir einschlagen können.«
Die Eidechsenaugen des durchtriebenen Burschen richteten sich kreuzweis mit lauerndem Ausdrucke auf das Gesicht des Priesters, als wolle er aus der Miene desselben herauslesen, welchen Eindruck dieses Produkt seiner Intrigenkunst auf diesen gemacht.
Doch ehe Pater Anselmo seine Meinung über den sicherlich schlau ersonnenen Plan äußern konnte, mischte sich der Zerbinotto, dem der Schielende so ohne weiteres und, wie wir gesehen haben, nicht ohne einen kleinen, spöttischen Seitenhieb, eine Rolle in diesem saubern Intrigenspiel oktroyiert hatte, in das Gespräch. Er schien, geärgert durch den vorwitzigen Ton seines Kameraden, diesem den Lorbeer nicht allein zu gönnen.
» Affè di Dio, man sollte meinen, deine Mutter habe dich die Weisheit mit der Milchflasche einsaugen lassen! Da hast du nun glücklich ausgeheckt, daß ich einen Brief des ehrwürdigen Pater Anselmo an diese Signora Ginevra abliefern soll; aber wo die ist, ob sie überhaupt in Turin ist, das hast du uns in deiner Weisheit mitzuteilen vergessen, pecorone!« Dummkopf.
Der Schieläugige, durch diese schmeichelhafte Erweiterung seines Registers von Liebesnamen keineswegs beleidigt, blinzelte wieder zu dem Priester hinüber, welcher mit nur wenig verhülltem Widerwillen diesen Wetteifer »für die gute Sache« auf Seiten seiner elenden Werkzeuge beobachtete.
»Hm – ich sollte meinen, du seiest besser bewandert über die Macht und den Einfluß der Herren, welchen wir zu dienen die Ehre haben, Freund Volpicino,« sagte er, halb zu Pater Anselmo, halb zu seinen Kameraden gewandt. »Ich weiß ganz genau, daß uns in diesem Punkte niemand besser helfen kann, als unser hochwürdiger Pater Anselmo.«
Sein schlaues Augenblinzeln schien den Jesuiten zu einer Antwort herauszufordern.
»Was soll ich dazu tun?« fragte er kurz.
»Ich weiß, Pater Anselmo, daß Sie binnen weniger denn einer Stunde erfahren können, ob sich eine Signora namens Ginevra Moretto in Turin aufhält und wo sie wohnt.«
»Wenn meine Zeit nun kostbarer wäre, als um euch in Ausführung eines Auftrages behilflich zu sein, den ihr auf meinen Wunsch und Befehl unter jeder Bedingung allein ausführen müßtet?«
» Ebbene, Pater,« entgegnete der Schielende. »Sie wissen aber so gut, wie wir, daß unsere Sache Eile hat. Und was Ihnen nur kurze Zeit kostet, würde uns vielleicht einen Tag rauben. Die Gelegenheit wird aber nie günstiger liegen, wie gerade heute.«
»Nun gut« sagte der Priester. »Mit deinem Plan bin ich im ganzen einverstanden, und wenn du und dein Kamerad ihn geschickt ausführen, so soll's an der Belohnung nicht fehlen. Filippo,« fügte er, zum Ostiere gewendet, hinzu, »in einer halben Stunde schicke einen zuverlässigen und harmlos aussehenden Boten, nicht etwa einen von der Gesellschaft hier im Hause, in meine Wohnung. Ich werde ihm einen Brief einhändigen. Du bleibst inzwischen hier,« zum Zerbinotto gewandt, »und erwartest den Boten. Durch ihn wirst du den Brief an die Gattin jenes Moretto erhalten. Du, Bieco, machst dich schleunig auf den Weg und siehst zu, daß du den Giudice nicht aus den Augen verlierst. Hörst du? Und vor dem Abend des heutigen Tages darf Simone Moretto sein Haus nicht betreten. Was dich, Zerbinetto, anbetrifft, so bist du mir als gewandter Bursche bekannt und es wird dir daher ein Leichtes sein, das Vertrauen der jungen Frau zu erringen, so daß sie dir nach Empfang des Briefes ohne weiteres folgt. Natürlich bringst du sie hierher. Doch nicht auf geradem Wege und nicht durch den vorderen Eingang des Hauses. Hast du mich verstanden?«
Ein hämisches Lächeln glitt über das Gesicht des Rotkopfes.
»Laßt mich nur sorgen, Pater Anselmo. Ich glaube, daß ich es recht wohl verstehe, mit Damen umzugehen. In einer halben Stunde werde ich so aussehen, daß mein Bruder mich nicht erkennen würde, und das schöne Täubchen wird keine Ahnung haben, wenn ich vor ihr stehe, daß wir alte Freunde von Neapel her sind. Weiß ich nur erst, wo die Donna zu finden ist, ist sie uns auch sicher.«
Der Jesuit schien vollkommen darüber beruhigt zu sein, daß die Ausführung dieses Unternehmens in guten Händen sei. Er gab dem Wirt seine weiteren Anordnungen betreffs des gefesselten Jankal. Dieser ward von den Banditen aufgehoben und unter rohen Schimpfworten, welche jedoch nicht eine Muskel in dem stoischen Gesichte des Madagassen zu rühren vermochten, ins Haus getragen, um in einem der zahlreichen Gelasse bis auf weitere Befehle seitens des Jesuiten unter Schloß und Riegel dingfest gemacht zu werden.
Die Leiche des erschossenen Banditen – Jankals Kugel hatte ihr Ziel nur zu gut zu treffen gewußt – wurde gleichfalls beiseite geschafft und der Priester bot Harriet, welche mit sehr gemischten Gefühlen Zeugin dieser aufregenden Szene gewesen war, seinen Arm, um sie zu dem Wagen zurück zu geleiten.
Das andere Opfer Jankals war inzwischen mit Hilfe der alten Azucena und Violettas in die Kammer der letzteren getragen worden.
»Filippo!« rief der Priester, noch im Weggehen, dem ihn dienstfertig bis an die Gartenpforte geleitenden Wirte zu. »Es wird bald ein Arzt erscheinen. Sende ihn sofort zu deiner Nichte, sie wird alles weitere veranlassen. Sorge dafür, daß die Burschen alle den Mund halten und laß es dem Verwundeten an nichts fehlen!« –
Oben in der kleinen, aber mit freundlichem Komfort ausgestatteten Kammer Violettas saß diese über das Lager des verwundeten Mädchens gebeugt. Mit dem Ausdrucke der innigsten Teilnahme hingen ihre Augen an dem bleichen, schönen Gesichte und bewachten jeden leisen Atemzug, jedes Wimperzucken der Verwundeten, harrend auf den Augenblick, wo das zurückkehrende Bewußtsein diese blassen, stummen Lippen wieder öffnen würde.
Trübe, schmerzvolle Gedanken durchkreuzten das Hirn der anmutigen Pflegerin. Ein Schauer durchrieselte aufs neue ihre Glieder. Sie dachte an die Szene in der Gaststube, an die Worte des Oheims, an die lüsternen Blicke und die für sie so furchtbaren Pläne des Zerbinotto. Und dann wiederum schweiften ihre Gedanken zu Jankal hinüber, den sie mit Schrecken erkannt hatte. Das Bild Ginevras tauchte vor ihr auf, des einzigen weiblichen Wesens, das in ihr, dem unter dem Joche eines rohen, schurkischen Oheims bedauerlich schmachtenden, inmitten der verworfensten Gesellschaft lebenden Mädchen, die zartesten und heiligsten Gefühle der Freundschaft und zugleich der unbegrenztesten Verehrung zu erwecken verstanden hatte. Ein ganz zufälliges Ereignis auf der Straße, eine Auskunft, welche Violetta der schönen, jungen Frau auf ihre freundliche Anfrage gegeben, hatte die beiden zusammengeführt, und ein Zug wunderbarer Sympathie hatte sie rasch miteinander verbunden. Interesse und Mitleid auf der einen, unbegrenzte Bewunderung und Hochachtung auf der anderen Seite – das waren die Gefühle, welche dieses Freundschaftsband sehr bald enger und enger geknüpft hatten. Für Violetta war eine ganz neue Welt aufgegangen, eine Welt, aus welcher niemals zuvor ein Lichtstrahl in die Spitzbubenhöhle gefallen war, in welcher das arme, schöne Geschöpf ihr junges Leben vertrauerte.
Kein Wunder, wenn ein Gefühl unbegrenzter Dankbarkeit sie an das Wesen kettete, welches die Veranlassung geworden, daß diese neue Welt, so fern von all dem unmoralischen Schmutz, der Roheit, Völlerei, der Verbrechen, welche ihre Umgebung den charakteristischen Stempel aufdrückten, sich ihr erschlossen hatte. Wieviel hatte der veredelnde Einfluß der Gattin des Giudice mit der zarten Teilnahme zu tun, welche sie jetzt der vor ihr auf dem Schmerzenslager, vielleicht auf dem Sterbebette liegenden Unbekannten widmete!
Und nun hatte sie Jankal, welchen sie sehr wohl als den treuen Diener Simone Morettos und seiner jungen Frau wieder erkannte, in den Händen ihres Oheims und seiner verbrecherischen Spießgesellen entdeckt. Sie erkannte die Antezedenzien und die gegenwärtige Beschäftigung dieser Söldner des Pater Anselmo recht wohl, und wußte, daß etwas Furchtbares im Hintergrunde lauern mußte, wo diese die Hände im Spiele hatten. Eine entsetzliche Angst bedrückte ihr Herz. Sie konnte sich des Gedankens nicht entschlagen, daß entweder Ginevra oder doch ihrem Gatten von dieser Seite irgendeine furchtbare Gefahr drohte, so wenig sie sich auch erklären konnte, worin diese bestand, und so unbegreiflich es ihr auch war, wie der Madagasse in dieses Haus gekommen und in die Hände der würdigen Stammgäste von der »diebischen Elster« gefallen war.
Eines stand bei ihr ohne weiteres fest, daß sie alles daran setzen müsse, der Sache auf den Grund zu kommen, und, wenn ihre Besorgnisse betreffs des Richters und Ginevras wirklich begründet waren, nichts versäumen durfte, um, sei es selbst mit Gefährdung des eigenen Lebens, die schwarzen Pläne der mörderischen Gesellen zu durchkreuzen. Ihre Hände waren freilich einigermaßen gebunden und ihre Lage schwieriger gemacht durch das Gelöbnis, das sie dem Priester abgelegt, für die Verwundete Sorge tragen zu wollen. Es war ihr klar, daß zunächst zweierlei nötig war: sie mußte versuchen, sich dem gefangenen Madagassen zu nähern, um, wenn irgend möglich, aus seiner Zeichensprache eine Erklärung dieses rätselhaften Ereignisses herauszulesen, und sie mußte auf irgendeine Weise Ginevra von dem Umstande in Kenntnis setzen, daß Jankal sich in der Gewalt ihres Oheims befand.
Beides ließ sich schwer mit der Aufgabe, die sie übernommen, vereinen. Überdies war ihr das Mißtrauen ihres Oheims gegen die ihm übrigens völlig unbekannte Ginevra wohlbekannt, und sie konnte sich nicht verhehlen, daß, wenn wirklich irgend etwas gegen die Familie des Simone Moretto im Werke sei, wenn ihr Oheim wußte, daß die Gattin desselben mit ihrer Freundin identisch sei – jeder ihrer Schritte mit Argusaugen bewacht werden und es ihr kaum möglich sein würde, das Haus zu verlassen.
Um wie viel schwerer wäre das Herz des wackeren, jungen Mädchens gewesen, würde sie imstande gewesen sein, zu belauschen, was in demselben Augenblicke unten in der Schenkstube der Zerbinotto zu ihrem Oheim sagte:
»Höre, Freund Filippo, – wenn dir deine heile Haut lieb ist, halte deine Augen gut aufgesperrt und sieh deiner schnippischen Nichte auf die Finger. Das Wild, auf dessen Fang ich jetzt ausgehe, ist niemand anderes, als die feine Donna, welche deiner Violetta den Kopf verdreht hat. Das weiß ich so gut wie gewiß, und wenn das Mädel etwa von der Sache Wind bekommt, könnte es möglich sein, daß sie alle Hebel ansetzt, um uns einen bösen Strich durch die Rechnung zu machen. Ich hätte sehr wohl durch die eingebildete Närrin erfahren können, wo sich das schöne, neapolitanische Täubchen hier aufhält, ohne den ehrwürdigen Pater und sein famoses Adreßbuch zu inkommodieren, aber ich habe wohlweislich darüber geschwiegen. Das Mädel mußte aus dem Spiel bleiben, sonst sind wir die Verlierer! Also aufgepaßt, Alter, wenn du dir die Gewogenheit des Pater Anselmo nicht für immer verscherzen willst!«
Für Violettas Ohr waren diese Worte nicht erreichbar und sie fuhr daher fort, über einen Plan zur Rettung der, wie sie mit Bestimmtheit annahm, bedrohten Freundin nachzusinnen.
Ein schwacher Laut von den Lippen der Verwundeten unterbrach ihren Gedankengang. Sie fuhr auf und beugte sich dicht über die Unbekannte.
Die Verwundete hatte die Augen geöffnet und blickte mit fieberhaft glänzenden Augen um sich. Doch sogleich sank der ein wenig erhobene Kopf wieder herab, die Lippen bewegten sich aufs neue und an das lauschende Ohr Violettas schlugen deutlich die in angstvollem Tone gesprochenen Worte:
» Ich rufe hernieder den Zorn des allmächtigen Gottes« – – –
Der Ton der Verzweiflung, der Herzensangst, in dem diese Worte gesprochen wurden, schnitt Violetta durch die Seele. So wenig sie sich den Zusammenhang derselben mit den Vorfällen des heutigen Tages klar zu machen vermochte, so tief empfand sie doch, daß hier ein Geheimnis, vielleicht furchtbarer Natur, zugrunde lag, welches schwer und quälend auf der Seele des unglücklichen Mädchens lastete.
Und wieder murmelte die Verwundete leise verworrene Worte:
» Und den Schimpf des Meineides.«
Violetta strich ihr mit der Hand das lockige Haar zurück und blickte mit dem Ausdrucke warmem Mitgefühls in die aufs neue geöffneten Augen.
»Fühlen Sie sich besser, Signora?« fragte sie leise. »Der Arzt wird bald hier sein und Sie sind inzwischen in guten Händen. Seien Sie unbesorgt.«
Es lag etwas so Sympathisches in dem sanften Tone dieser Mädchenstimme, daß sie einen belebenden Einfluß auf die Verwundete zu haben schien.
Es glitt ein leiser Schimmer von Lächeln über das bleiche Gesicht, während sie das über sie gebeugte Antlitz betrachtete, und sie strich sich mit der Hand über die Stirne, als wolle sie ihre Gedanken sammeln, um sich über ihre Lage klar zu werden.
»Pater Anselmo hat den Auftrag gegeben, daß es in Ihrer Pflege an nichts mangeln soll, Signora,« sagte Violetta freundlich. »Fühlen Sie große Schmerzen?«
Die Kranke, den Ton warmer Teilnahme recht wohl durchfühlend, drückte die Hand des jungen Mädchens.
»Schmerzen?« sagte sie leise. »Nein, jetzt nicht, wenigstens keine körperlichen. Oh, ich wußte, ich wußte, daß es so kommen würde. Es ist der letzte Tag meines Lebens!«
»Sprechen Sie nicht so, Signorina. Der Arzt wird Sie bald eines besseren belehren. Ihr Wunde ist nicht gefährlich.«
»Ich weiß es besser,« sagte das Mädchen mit schmerzlichem Lächeln. »Mir kann der Arzt nicht mehr helfen, und doch – doch wünschte ich, daß er käme. Vielleicht kann seine Kunst mein Leben wenigstens noch auf Stunden verlängern. Ich habe noch Pflichten zu erfüllen, ehe ich scheide …« fügte sie, mehr zu sich selbst, als zu ihrer Pflegerin redend, hinzu.
Ihr Wunsch sollte so rasch erfüllt werden, wie er ausgesprochen war. Ein Klopfen an der Türe – und Azucena meldete den von Pater Anselmo gesandten Arzt, welcher alsbald eintrat. Es war ein würdig aussehender Greis, der offenbar in demselben Grade, wie Violetta, von der Lieblichkeit und der stillen Resignation der Verwundeten ergriffen, seines Amtes mit väterlicher Sorgsamkeit und unter freundlichen Trostzusprüchen wartete. Freilich straften die Blicke, welche er, während er die Wunde aufs neue verband, unbemerkt auf das Gesicht der Kranken heftete, seine hoffnungsvollen Worte einigermaßen Lügen. Denn es war ein Ausdruck unzweideutiger Besorgnis, mit dem er das Antlitz seiner schönen Patientin betrachtete, ein Ausdruck, in welchem die sein Gesicht aufmerksam beobachtende Violetta nur zu deutlich die Worte: so jung, so schön und doch dem Tode verfallen! – zu lesen glaubte.
Die Kranke sah zwar diese stumme Sprache des Arztes nicht, trotzdem schien sie zu fühlen, daß seine Worte nur dazu dienen sollten, sie über ihren wahren Zustand zu täuschen. Ihre Besinnung war vollständig zurückgekehrt und mit ihr eine leichte Röte, die ihre Wangen so anmutig färbte, daß, wäre nicht der unheimliche Fieberglanz der Augen gewesen, man hätte annehmen können, es sei die Röte blühender Gesundheit.
»Sie meinen also, dottore,« fragte sie mit einer gewissen Spannung von Ängstlichkeit, »daß nicht ein unmittelbares Ende bevorsteht?«
»Keine Sorge, figliuola mia,« entgegnete der alte Herr, ihr freundlich die Hand drückend. »Vom Ende kann überhaupt keine Rede sein. Sie stehen ja noch mitten drinnen, im Anfang, mein Kind!«
Das Mädchen lächelte schmerzlich.
»Ein trauriger und schlechter Anfang, der kein gutes Ende nehmen konnte,« murmelte sie leise vor sich hin.
Gleich darauf bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und brach in ein leises Weinen aus.
»Mein Vater und meine Mutter! – O Benno, Benno!« – – rang es sich leise von ihren Lippen.
Der Arzt erhob sich und drückte noch einmal dem jungen Mädchen in sichtlicher Bewegung die Hand. Dann sagte er, zu Violetta gewandt:
»Ich komme heute abend wieder. Sorgen Sie dafür, Kind, daß keine fremde Person dieses Zimmer betritt und unsere Patientin nicht die geringste Störung oder Aufregung erleidet.«
Seine Augen schweiften nochmals zu der Kranken, welche wieder das Gesicht mit den Händen bedeckte, und abermals glaubte Violetta in diesen Augen lesen zu können: » so schön, so jung und schon dem Tode verfallen.«
Als der Arzt das Zimmer verlassen, schien sich mit einem Male das Wesen der Patientin wunderbar zu beleben. Sie richtete sich zu sitzender Stellung im Bett auf und warf einen langen, prüfenden Blick auf die an ihrer Seite stehende Violetta. Die Prüfung schien sie zu befriedigen, denn ein überaus liebliches Lächeln verklärte ihr Gesicht und sie erfaßte die Hand ihrer jungen Pflegerin.
»Wie heißen Sie, Signora, und wer sind Sie?«
»Ich heiße Violetta und bin die Nichte des Mannes, in dessen Hause Sie sich befinden. Ich habe Sie schon öfter hier gesehen, ohne daß Sie mich bemerkt haben.«
»Ich bin also noch in der Osteria della Gazza Ladra?«
»Ja, und wollen Sie mir sagen, wie Sie heißen?«
»Mein Name ist Marianna,« erwiderte die Kranke, während ein Schatten über ihr Gesicht flog.
»Ein schöner Name. So schön und lieblich, wie Sie selbst.«
Es lag eine solche naive Herzlichkeit in dieser mit dem Tone der innigsten Überzeugung ausgesprochenen Schmeichelei, daß Marianna unwillkürlich die Hand, welche sie umschlungen hielt, fester preßte.
»Nenne mich nicht lieb und schön, mein gutes Mädchen!« rief sie fast heftig. »Mein Herz sagt mir, daß ich von dir verschieden bin, wie ein Teufel von einem Engel.«
» Maria Santissima!« rief Violetta, sich bekreuzigend. »Freveln Sie nicht, Signora. Ich bin ein schlichtes, armes Landmädchen und –«
»Rein, unschuldig, gut, treu, nicht eine meineidige Tochter der Sünde, wie ich!« unterbrach sie ungestüm Marianna.
»Allmächtiger Gott,« rief Violetta erschreckt, »was reden Sie, Signora? Regen Sie sich nicht auf! Sie hörten, was der Dottore gesagt hat. Gott ist gnädig und barmherzig und wir alle tragen unsere Sündenschuld mit uns herum. Sprechen Sie, wollen Sie einen Priester haben? Bedrückt Ihr Herz etwas, was Sie beichten möchten?«
»Nein, nein, nein!« wehrte Marianna leidenschaftlich ab. »Keinen Priester, keinen Priester! O hätte nie ein Priester an meinem Lager gestanden, vielleicht – doch, ich sehe, ich erschrecke dich, Kind. Fürchte dich nicht, ich glaube an einen Gott, ich habe es in den letzten zwei Tagen gelernt und ich weiß, daß er ein rächender, ein strafender Gott ist, aber auch ein milder und vergebender. Meinem Gotte will ich beichten, keinem Priester, keinem – Jesuiten!«
Ein Schauder schien ihren Körper zu durchbeben, als sie das letzte Wort aussprach.
Violetta war tränenden Auges vor dem Bette der Kranken auf die Knie niedergesunken.
»O sprechen Sie, Signora, sprechen Sie und sagen Sie mir, ob ich etwas für Sie tun kann. Bei der heiligen Jungfrau, es ist nicht Neugier, die mich dazu treibt, Sie um Ihr Vertrauen zu bitten. Auch ich bin unglücklich, auch ich weiß, was es heißt, niemanden zu haben, dem man sein Herz ausschütten kann, und mein Herz fühlt warme Teilnahme für Sie. Sprechen Sie, können Sie mir vertrauen?«
Marianna richtete sich mühsam noch weiter in ihrem Bette auf und schlang den Arm um den Hals des jungen Mädchens, ihr bleiches Antlitz dicht an die rosige Wange Violettas drückend.
Marianna entrollte vor der in letzter Stunde gewonnenen Freundin das ganze Bild ihres verfehlten Lebens und verschwieg auch nicht ein Moment desselben von dem ersten Fehltritt an, den sie in jugendlicher Vertrauensseligkeit, dank ihrem schurkischen Verführer, begonnen, bis zu jenem Momente, wo im Zeichen der Zypresse ihr das Symbol des rächenden Gottes erschienen war, in demselben Augenblicke, als sie die Hand zum – Meineid erhoben hatte.
Eine geraume Zeit noch saßen die Mädchen eng umschlungen, wortlos, ihre Tränen miteinander mengend, in derselben Stellung, bis endlich die künstlich aufgereizte Lebenskraft Mariannens unter den Folgen der heftigen Erregung nachgab und sie erschöpft, mit geschlossenen Augen, in die Kissen zurücksank.
Erst nach Verlauf von fast einer halben Stunde begann das langsam verlöschende Lebensflämmchen des unglücklichen jungen Mädchens noch einmal hell aufzuflackern. Die alte Energie leuchtete wieder in ihren Augen auf, als sie zu Violetta sagte:
»Und nun, mein liebes Mädchen, an meine letzte Aufgabe der Sühne.«
»Mein Gott, Signora, schonen Sie sich.«
»Weshalb sollte ich mich schonen, Kind?« erwiderte diese lächelnd. »Du weißt so gut wie ich, daß meine Stunden gezählt sind.«
Violetta senkte das Haupt, um ihre Bewegung zu verbergen.
»Weine nicht, Kind. Für mich ist der Tod eine Erlösung, und nimmer hätte ich geglaubt, in jenen Tagen, da ich wie ein übermütiger Dämon, mit allem, mit den ernstesten Dingen spielte, Menschenherzen lachend brechen half und dennoch die ganze Welt mir in rosigem Schimmer erschien, nimmer hätte ich damals geglaubt, daß mir der Tod ein willkommener Engel des Trostes und Friedens sein würde.«
»Doch höre,« fügte sie nach einer kurzen Pause des Nachdenkens hinzu, »ich sagte dir schon, daß ich nicht ruhig sterben kann, ehe ich wenigstens zum kleinsten Teil das gut gemacht habe, was ich verschuldet. Willst du mir darin beistehen?«
»Es mag freilich unter diesen Umständen eine schwere Aufgabe sein, ja ich weiß nicht einmal, ob es dir möglich sein wird, das zu tun, was ich von dir verlange. Du wirst streng in dem Hause deines Oheims gehalten?«
»Allerdings,« erwiderte Violetta mit dem Kopfe nickend, »doch, wenn ich dir einen Dienst erweisen kann, so will ich alles daransetzen.«
»Könntest du wohl einen Brief, – doch halt, – kannst du schreiben?«
Violetta mußte unwillkürlich lächeln. Sie hatte diese Kunst niemals glänzend bemeistert.
»Es kommt darauf an, Marianna, was du von meiner Feder verlangst.«
»Nur wenige Worte sind es, die ich dir in die Feder diktieren will. Ich fürchte, meine Hand ist bereits zu schwach zum Schreiben. Und ich muß eilen, denn ich fühle es, daß meine Stunden gezählt sind.«
»Gut, Signora –«
»Nenne mich Marianna, ich bitte dich!« unterbrach sie die Kranke. »Ich möchte in den letzten Stunden das Bewußtsein, eine liebe, vertraute Freundin zur Seite zu haben, voll und ganz genießen. Habe ich doch lange genug dieses Glück entbehrt.«
»Nun denn, Marianna!« erwiderte Violetta, dem unglücklichen Geschöpf gerührt die Hand drückend. »Ich will's versuchen, deinen Wunsch zu erfüllen.«
»Aber wirst du das Schreiben auch an den besorgen können, an den es adressiert ist?«
Einen Moment dachte Violetta verlegen nach, – dann blitzte ein Gedanke ihr rasch durchs Hirn. Wenn sie im Auftrage der Kranken, welche unter der direkten Protektion des allmächtigen Pater Anselmo stand, eine Besorgung in der Stadt zu verrichten hatte, konnte sich der Oheim dem nicht widersetzen, und sie konnte, ohne Verdacht zu erregen, nach der Casa Ginevra eilen, um die Gattin des Richters von der Gefangennahme Jankals in Kenntnis zu setzen.
»Ja, ich kann es und will es besorgen,« sagte sie rasch, »wenn du inzwischen mit der Pflege unserer alten Köchin Azucena fürlieb nehmen willst.«
»Gewiß, gewiß,« entgegnete Marianna hastig. »Komm und schreibe schnell, was ich dir diktiere.«
Rasch hatte Violetta Schreibzeug und Papier herbeigeschafft und setzte sich an ein dicht am Bette der Verwundeten stehendes Tischchen, aufmerksam den mit leiser und dabei hastiger Stimme hervorgestoßenen Worten der Sterbenden folgend.
Das Briefchen, welches sie schließlich zusammenfaltete und an ihrem Busen barg, lautete folgendermaßen:
An Heribert Hilgard!
Sie empfangen mit diesen Zeilen das letzte Bekenntnis einer Sterbenden, die vom Fluche des Meineids erreicht wurde. Lesen Sie das versiegelte Schreiben, das meine Lebensgeschichte und ein Vermächtnis an meine in Deutschland lebenden Verwandten enthält, wenn Sie Zeit und Lust haben. Doch vor allen Dingen handeln Sie auf Grund dessen rasch, was diese von Freundeshand geschriebenen Begleitzeilen Ihnen mitteilen. Möge meine Sterbestunde sühnen, was ich im Leben durch Falschheit und Doppelzüngigkeit verbrochen. Sie und sämtliche Anhänger Ihrer Partei in Turin sind in Gefahr. Man ist – durch meine unglückselige Beihilfe – allen Ihren Plänen, soweit sie mir bekannt waren, auf der Spur und kennt Ihren Versammlungsort auf der Strada di Giovanni. Die Jesuiten werden Sie alle binnen kurzem der Polizei denunzieren, wenn Sie ganz sicher gemacht sind. Hüten Sie sich vor dem Bäcker Asti. Er ist gleichfalls durch mein Zutun zum Verräter geworden. Warnen Sie vor allen Dingen die Principessa, auf welche es in erster Linie abgesehen ist. Noch ist es Zeit, wenn Sie Ihr Hauptquartier verlegen. Sie sind sonst sämtlich in Gefahr, an Ort und Stelle verhaftet zu werden.
Wundern Sie sich nicht, wenn ich meine Zeilen an Sie richte, der Sie mich nur einigemale gesehen haben. Sie sind ein Deutscher, wie ich eine Deutsche bin, und aus Ihrem Auge sprach mir gleich bei unserem ersten Zusammentreffen ein sympathisches Gefühl entgegen. Eine Sterbende braucht keine Zurückhaltung zu üben, und so scheue ich mich nicht, Ihnen zu sagen, daß ich glaube, bei Ihrem ersten Anblicke das Gefühl inniger Liebe zu Ihnen empfunden zu haben. Mein Herz war seit Jahren der Liebe verschlossen. Es hat sich derselben geöffnet, um für immer still zu stehen. Forschen Sie nicht nach meinem Aufenthalt. Halten Sie auch Signor Ormelli ab, dies zu tun. Ich bin durch einen unglücklichen Zufall tödlich verwundet worden. Denken Sie alle meiner in Milde und bitten Sie Gott, er möge mir gnädig sein.
Ihre
Marianna.
Erschöpft sank die Kranke in die Kissen zurück. Doch ein Strahl innerer Zufriedenheit, welcher aus ihren immer matter werdenden Augen brach, ließ erkennen, daß dieser Brief auf ihr Gemüt dieselbe Einwirkung hatte, wie etwa die letzte, herzerleichternde Beichte auf den aus dem Leben scheidenden Sünder.
»Und hier, Violetta,« flüsterte sie in das Ohr des sich dicht zu ihren Lippen herniederneigenden Mädchen, »dieser Brief muß im Hotel Europa an Signore Hilgard abgegeben werden. Aber er darf den Boten nicht sehen und nicht sprechen. Hörst du? Er darf keine Gelegenheit haben zu fragen, woher er kommt. Und gib mir rasch die Kleidungsstücke, die ich trug, als ich verwundet wurde. – – So – hier in der Tasche des Rockes findest du ein versiegeltes Schreiben. Schlage dies mit dem Briefe, den du geschrieben, in ein Papier ein und gib es zusammen ab. Doch eile, eile, ehe es zu spät ist. Gern möchte ich dich wieder an meinem Bette sehen, um aus deinem Munde zu erfahren, daß mein Auftrag besorgt ist. Ich fürchte – oh – –«
Ein Blutstrom quoll aus dem Munde der Verwundeten und färbte das Kissen purpurrot – während die Alabasterfarbe des nahenden Todes sich auf die Wangen des unglücklichen Mädchens legte. Die Kugel Jankals war durch die Schulter in den obersten Teil der Lunge gedrungen. Die Bewegung im Bette, die heftige Erregung, welche das Gespräch mit Violetta und insbesondere das Diktat des Briefes an Heribert verursacht, hatte ein Springen edlerer Blutgefäße zur Folge und – rasch ergoß sich der Quell dieses jungen Lebens über die weiße Decke, um für immer zu versiegen.
Violetta war vor dem Bette der Sterbenden auf die Knie niedergesunken und weinte leise. Sie hielt die erkaltende Hand Mariannas in der ihren und rief den Namen der so rasch gewonnenen und so rasch verlorenen Freundin. Doch Rufen und Beten konnte das rasch entfliehende Leben nicht mehr aufhalten.
Ihr Vermächtnis – den Versuch, im Sterben das gut zu machen, was das Leben verschuldet, – hatte die Hinscheidende gemacht; zwar bewegten sich die Lippen noch leise, als wollten sie der am Bette knienden Pflegerin noch eine letzte, dringende Mitteilung machen, zwar öffneten sich die Augen noch einmal mit einem festen, fast drohenden Ausdruck, als sähen sie hinter dem Engel des Todes noch eine Gestalt stehen, die der Sterbenden den Tod in Frieden und Versöhnung erschwerte, allein – die Seele war dem irdischen Leben schon zu weit entrückt, um noch einmal zurückkehren und den Körper beleben zu können. – – – Frei und leicht, gereinigt von den Flecken eines sündhaften Lebens, schwang sie sich empor zu den Regionen der Liebe und der Vergebung, einen Schimmer der Verklärung auf den Zügen derjenigen zurücklassend, in deren Leib sie gethront.
Das junge Mädchen, das, aufs tiefinnerste erschüttert, am Lager der Entseelten kniete, sie konnte ihre reinen, jungfräulichen Lippen getrost und ihrer Ehre unbeschadet auf den im Tode noch schönen Mund der Unglücklichen pressen. Gott hatte gerichtet – Gott hatte gesühnt, – ihrem warmen, liebenden Herzen lag es fern, in dieser weihevollen Stunde die strenge Richterin zu spielen:
Make no deep scrutiny
Into her mutiny,
Bash an undutiful, –
Past all dishonor,
Death has left on her
Only the Beautiful!
»Frage nicht, forsche nicht, worin sie gefehlt! Hart wär's und herzlos. Von ihr genommen ist die Schmach, – und die Schönheit nur ließ der Tod ihr zurück!«
Diese schönen Worte stammen aus einem ergreifenden Gedicht von Thomas Hood, das er zur Erinnerung an eine schöne Tochter der Sünde geschrieben, welche in den Fluten der Themse ihre Schande ertränkt hatte.