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6. Kapitel

Wie ein kleiner Zaubergarten tauchte inmitten noch unbebauter und verkäuflicher Grundstücksparzellen die Villa Wesenthal empor, deren Vorderfront von den Wellen der Havel bespült war. Reseden, Rosen und Levkojen strömten ihren weichen, berauschenden Duft durch die offenen Fenster in die Zimmer. Es war so still und idyllisch bei Wesenthals, daß weder der Vater noch Käthe die große Welt vermißten. So kam es auch, daß Käthe von ihr nicht viel mehr wußte, als was sie aus den Büchern las, die ihr ihr Vater zu lesen gab.

Seit ihrer Rückkehr aus Tirol und der Schweiz jedoch war mit Käthe eine sonderbare Veränderung vorgegangen.

Diese Veränderung in Käthes Benehmen, ihr träumerisches Wesen, diese unüberwindliche Trauer konnten Herrn von Wesenthal nicht entgehen. Er litt darunter unsagbar, da er genötigt war, sich einzugestehen, daß sie durch ihn um seinetwillen litt.

Doch nicht nur dies verursachte Wesenthal unsagbaren Schmerz. Jeder Tag, jeder Augenblick brachte ihm eine neue Qual und neue Foltern. Seine Tochter hörte seit damals nicht auf, ihn über jenes unheilvolle Verbrechen von damals zu befragen. Sie wollte alle Details desselben kennen. Im Anfange sträubte er sich dagegen und weigerte sich, ihr zu antworten; aber dann hatte er Angst, daß sie sich über seine Beharrlichkeit, ihr nicht zu antworten, wundern könnte. Waren denn diese Fragen nicht auch vollkommen natürlich? Hatte sie ihm nicht offen erklärt, daß sie nicht aufhören würde, Rudolf zu lieben und zu hoffen, daß er einst die Mörder seiner Mutter entdecken würde, um dann abermals vor den Vater hinzutreten und nochmals bei ihm um ihre Hand zu werben?

*

Ebenso einsam und zurückgezogen von aller Welt wie Wesenthals lebte auch Professor Kleinthal. Deshalb war Eva Kleinthal heute überaus verwundert, als ihr Vater zu ihr beim Frühstück sagte:

»Ich habe heute gute Lust, den schönen Tag zu benützen und einen ziemlich weit entlegenen Besuch zu machen.«

»Einen Besuch, Vater? Du?« fragte Eva überrascht, die dachte, es handle sich um einen Krankenbesuch. »Das darfst du nicht. Du hast jetzt Ferien.«

»Blödsinn,« brummte der Professor. »Es handelt sich um keinen Patienten. Ich will bloß mein Versprechen halten und Herrn von Wesenthal endlich einmal aufsuchen. Du weißt doch, jener Herr, den wir in der Schweiz kennen gelernt haben.« –

»Natürlich kann ich mich daran erinnern,« erwiderte Eva. »Rudolf hat mir ja genug von seinem Aufenthalt bei Wesenthal erzählt und von dessen Tochter, an die er sein Herz verloren hat. Dein Gedanke ist ausgezeichnet, und Rudolf würde sich so sehr freuen, wenn du ihm heute abend mitteiltest, daß du sie gesehen hast. Er darf ihr ja jetzt nicht einmal mehr schreiben. Und Fräulein von Wesenthal ihrerseits kann das nicht tun. Aber du wirst mit ihrem Vater sprechen. Du bist ganz der Mann dazu, ihm seine Einwilligung abzulocken. Was wären wir glücklich, wenn dein Pflegesohn dir auch dieses Glück zu verdanken hätte! Also rasch! Ziehe deinen hübschen Gehrock an, und ich werde mich inzwischen rasch umkleiden.«

»Du willst mich begleiten?«

»Aber gewiß! Ich kenne doch auch Käthe von Wesenthal, wenn ich auch nur einige Worte mit ihr gewechselt habe. Sie ist mir außerordentlich sympathisch, und ich würde mich freuen, mit ihr etwas näher bekannt zu werden.«

»Wenn wir nur nicht umsonst hinfahren! Dieser Wesenthal ist ein ganz eigentümlicher Kauz. Er liebt es, nicht gestört zu werden. In dem Verlag, dessen Mitarbeiter auch ich bin, hat ihn noch kein Mensch persönlich gesehen. Ich glaube, er ist bisher bloß ein einziges Mal zum Verleger selbst gegangen, um sich mit ihm über die Bedingungen zu einigen. Seitdem schickt er alle vierzehn Tage seine kritischen und historischen Aufsätze hin, die er niemals mit seinem wirklichen Namen unterzeichnet. Ich hatte alle erdenkliche Mühe, seinen Namen herauszukriegen, um ihm für eine famose Kritik zu danken, die er über eins meiner Werke geschrieben. Unter uns gesagt, bezweifle ich, daß er sich über unseren Besuch besonders freuen wird, – wenn er uns überhaupt empfängt.«

»Dann treffen wir vielleicht seine Tochter an,« erwiderte Eva. »Sie wird sich sicher über unsern Besuch freuen. Und du wirst schon ein Mittel finden, diesen Sesam zu öffnen.«

Als sie nach Potsdam gekommen waren und endlich die kleine Wesenthalsche Villa gefunden hatten, empfing sie ein altes, schwer zugängliches Mädchen, das steif und fest behauptete, der »Herr Baron« wäre nicht zu Haus.

Doch Käthe, die allein in ihrem Zimmer saß, hatte im Garten fremde Stimmen vernommen. Sie hob etwas den Store hoch, sah in den Garten hinunter und erkannte sofort jenen alten Herrn, durch den ihr vor einigen Monaten Rudolf Melmström vorgestellt worden war. Im ersten Augenblick blieb ihr der Atem stocken, dann verließ sie rasch ihr Zimmer und eilte die Treppe herab, um so rasch wie möglich dem Besuch in den Garten nachzueilen.

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung,« redete sie mit vor Verlegenheit gerötetem Gesicht den alten Herrn an. »Es wurde Ihnen wohl gesagt, daß wir nicht zu Hause seien, verzeihen Sie diese Lüge; mein Vater arbeitet außerordentlich viel und schließt sich immer ein. Aber Sie – Sie wird er ganz bestimmt empfangen. Wollen Sie mir folgen?«

Da Käthe befürchtete, daß ihr Vater sich weigern würde, den Besuch zu empfangen, wenn man ihm denselben vorher anmeldete, ließ sie Professor Kleinthal und Eva sofort in das Arbeitszimmer ihres Vaters ein.

»Papa, Professor Kleinthal und seine Tochter machen uns die Freude.«

Wesenthal hob lebhaft den Kopf, unterdrückte eine ärgerliche Bewegung und begrüßte seinen unerwarteten Besuch.

Nachdem man über den Aufenthalt in Montreux und von verschiedenen ziemlich belanglosen Dingen gesprochen hatte, erhob sich Käthe, die wohl ahnte, was den alten Professor hierher geführt hatte, und erbot sich, Eva die Einrichtung der Villa und den Garten zu zeigen.

Der Professor hatte nur auf diesen Augenblick gewartet, um sich auszusprechen, und begann sofort, sobald er mit Herrn von Wesenthal allein war:

»Sie werden sich wohl denken, lieber Herr von Wesenthal, daß ich nicht zu Ihnen herausgekommen bin, um Ihnen bloß einen formellen Besuch zu machen und einem Manne wie Sie die kostbare Zeit zu rauben. Natürlich freue ich mich, Sie wieder einmal persönlich begrüßen zu können. Ich komme, um für einen jungen Mann zu plädieren, den ich die Ehre hatte, Ihnen diesen Sommer vorzustellen, Herrn Rudolf Melmström.«

»Sie haben nur nicht nur seinen wahren Namen verheimlicht,« erwiderte Wesenthal ziemlich trockenen Tones, »sondern haben mir auch sein großes Vermögen, seine ganze gesellschaftliche Stellung verschwiegen.«

»Ich kann mir nicht denken, daß Sie ihm dieses Vermögen, das er bisher nur im besten Sinne verwendet hat und fürderhin noch besser verwenden wird, falls er Ihr Schwiegersohn würde, wirklich zum Vorwurf machen können.«

»Nein, das tue ich auch gar nicht,« erwiderte Wesenthal kühl, um durch seine ablehnende Haltung zu verbergen, wie peinlich ihm dies Thema war.

»Schön. Also machen Sie ihm etwa zum Vorwurf, daß er die Mörder seiner Mutter aufsuchen und bestrafen will?«

»Keineswegs. Das geht mich übrigens gar nichts an. Ich behaupte bloß, daß diese unausgesetzten Nachforschungen der Liebe, die er meinem Kinde schenken will, nicht gerade vorteilhaft wären. Und wenn er Erfolg damit hat und die Schuldigen eigenhändig straft, wie er die Absicht hat, so kann das Komplikationen und Umstände nach sich ziehen, die mich für meine Tochter mit Sorge und Unruhe erfüllen.«

»Das ist alles? Sie haben also nichts gegen ihn?«

»Aber durchaus nicht.«

»Dann also kann ich Ihnen sagen, mein verehrter Herr, daß heute nichts mehr im Wege steht, ihm Ihre Einwilligung zu geben.«

»Weshalb?«

»Rudolf Melmström verzichtet auf weitere Nachforschungen und Verfolgungen, ebenso auch auf die beabsichtigte Bestrafung, die Sie so erschreckt, und bringt seine Rachegedanken seiner Liebe zum Opfer.«

In der festen Ueberzeugung, daß Wesenthal andere Motive als die genannten hatte, um seine Einwilligung zur Heirat seiner Tochter mit Rudolf nicht zu geben, hatte Professor Kleinthal diese Notlüge erfunden, in der Hoffnung, ihn dadurch zu zwingen, die Karten aufzudecken, das heißt: ihn die wirklichen Gründe seiner Zurückweisung wissen zu lassen.

Der Professor hatte erreicht, was er wollte. Was sollte ihm Wesenthal darauf erwidern? Er hatte dieser Heirat wohl einen Hinderungsgrund entgegengesetzt, und dieses Hindernis war jetzt verschwunden. Was sollte er nun sagen? Was sollte er nun Neues erfinden?

»Ihr Stillschweigen soll wohl eine Einwilligung bedeuten, nicht wahr, mein lieber Kollege?« fragte der Professor nach einer kurzen Pause.

»Nein, nein und tausendmal nein,« rief Wesenthal mit aller Energie.

»Sie willigen nicht ein? Nun aber verstehe ich Sie wirklich nicht mehr! Sie lassen Ihre Tochter leiden – –?«

»Ueberlassen Sie, verehrter Herr Professor, die Pflege meiner Tochter mir selbst. Ich hoffe, sie zu heilen, ohne daß sie genötigt sein wird, mich zu verlassen, ohne daß ich mich von ihr zu trennen brauche.«

»Ohne sich von ihr zu trennen!! ... Ah, nun verstehe ich, nun errate ich die wirklichen Gründe Ihrer Weigerung! Sie wollen einfach deshalb nicht Ihre Tochter einem Manne geben, weil sie Sie dann verlassen müßte, und Sie vollkommen allein blieben.«

Wesenthal begriff, daß er den Irrtum seines Besuches, der ihn des väterlichen Egoismus zieh, ausnützen mußte.

»Nun denn, warum sollte ich es noch langer verheimlichen?« sagte er gesenkten Hauptes, als schäme er sich, dieses Geständnis zu machen; »Sie sind ja Vater wie ich und müssen mein Gefühl verstehen, wenn Sie es nicht gar mit mir teilen. Ich habe nur dies eine Kind. Niemals hat sie eine Schule besucht, niemals ist sie in einer Pension gewesen, niemals hat sie einen anderen Lehrer gehabt, als mich, mich allein. Ihr erster und letzter Kuß galten nur mir, und da wollen Sie, daß ich auf alle diese Freuden, auf dieses idyllische Beisammensein verzichten soll? Was sollte ich alter Mann allein in diesem Hause, in dem mich alles an mein Kind erinnert?«

Inzwischen unterhielten sich auch die beiden jungen Mädchen in Käthens kleinem, bescheidenem Zimmer, von dessen Fenster aus man einen prachtvollen Ausblick auf die Havel und die mit Menschen dicht besetzten Dampfer genoß, die bei Neu-Babelsberg anlegten.

»Mir ist, als kennte ich Sie schon seit Jahren,« sagte Eva. »Rudolf hat mir schon so viel von Ihnen erzählt. Er hat sich jetzt meinen Bruder zum Bundesgenossen gemacht, der allerdings etwas jung ist, jedenfalls aber Rudolf außerordentlich ergeben und treu. Sie suchen jetzt gemeinschaftlich und spüren wie die Bluthunde jeden geheimsten Winkel auf. Mein Bruder Egon kommt kaum mehr nach Hause.«

»Und ist er auf irgend einer Fährte?« fragte Käthe interessiert.

»Ich glaube noch nicht.«

»So weit ich ihn aber zu verstehen glaubte,« erwiderte Käthe, »gibt sich Herr Melmström insbesondere Mühe, namentlich jenen Mörder zu entdecken, dessen Blick auf ihn einen so furchtbaren Eindruck gemacht hatte. Wer sagt ihm aber, daß dieser Mensch noch existiert? Warum sucht Rudolf nicht auch gleichzeitig jenen andern Mörder, diesen Joseph Kammgarn? Er erinnert sich seiner nicht mehr, ebensowenig wie des ersten, aber verschiedene andere Zeugen haben diesen falschen Diener ganz genau gesehen. Vielleicht hat einer dieser Zeugen die Physiognomie dieses Mitschuldigen nicht vergessen und könnte seiner Erinnerung zu Hilfe kommen oder seine Nachforschungen unterstützen.«

»Sie bringen mich da auf einen Gedanken,« erwiderte Eva Kleinthal. »Rudolf hat heute noch die ehemalige Wirtschafterin seiner Mutter bei sich, mit Namen Marie. Sie war über eine Woche mit jenem Joseph Kammgarn zusammen im Dienste und behauptet, daß sie ihn immer noch im Gedächtnis habe und ihn sofort wiedererkennen würde, wenn sie ihn träfe.«

»Das ist die Person, die wir brauchen. Ach, wie gern möchte ich selbst mit dieser Wirtschafterin sprechen! Sie könnte mir gewisse Einzelheiten mitteilen, die mir noch fehlen.«

»Nichts einfacher als das: Ich werde sie hierher schicken. Rudolf wird sich ja nichts besseres wünschen können.«

»Recht so! Mein Papa wird sie auch empfangen und persönlich befragen, denn er kennt meine Ansicht über jenen Joseph Kammgarn, der – meiner Ansicht nach – der Schuldigste von den drei Mördern ist.«

In diesem Augenblick wurden sie von unten gerufen, sofort herabzukommen.

Der Professor hatte es, wenigstens für den Augenblick, aufgegeben, Herrn von Wesenthal zu überreden. Heute jedenfalls blieb ihm nichts weiter übrig, als sofort nach Berlin zurückzukehren.

Die Verstimmung des Vaters konnte Käthe nicht entgehen; doch sie wollte nicht fragen. Wozu auch? Was zwischen den beiden Herren erörtert worden war, konnte sie sich denken. Für den Augenblick allerdings brauchte sie sich keinen Illusionen hinzugeben. Aus dem wenig freundlichen Abschied des Professors ging so ziemlich deutlich hervor, daß sein Gang erfolglos war.

So sehr sie ihren Vater liebte, lenkte sie diesmal bei Tisch doch wieder ihr Gespräch auf ihr gewöhnliches Unterhaltungsthema.

»Ich habe heute etwas außerordentlich Interessantes vernommen,« begann Käthe.

»Was denn?« fragte Wesenthal und blickte etwas unsicher zu ihr empor. Er war schon derart nervös geworden, daß er immer in der Angst schwebte, abermals eine ungünstige Neuigkeit zu erfahren.

»Du entsinnst dich doch jener wichtigen Zeugin, jener Wirtschafterin von Frau Melmström, Marie, deren Aussagen seinerzeit von solcher Wichtigkeit gewesen waren – über die wir auch wiederholt in den alten Zeitungen gelesen haben?«

»Jawohl, ich erinnere mich,« stieß er verwirrt hervor.

»Sie lebt! Und weißt du, wo sie ist?«

»Nein, wo denn?«

»Bei Herrn Melmström, der sie aus Pietät für seine Mutter bei sich behalten hat. Sie wohnt noch in seinem Hause in der Königgrätzerstraße. Und wenn Rudolf meinen Rat befolgt, was ich nicht bezweifle, und seine Aufmerksamkeit schärfer auf diesen Joseph Kammgarn – den Diener – richtet, kann ihm diese alte Wirtschafterin von großem Nutzen sein.«

»Erinnert sie sich denn noch an ihn?« – Er fand kaum die Kraft, die Frage heraus zu bringen.

»Aber sehr gut, wie es scheint. Sie behauptet wenigstens, ihn heute noch vor sich zu sehen. Sie ist der Ueberzeugung, daß sie ihn sofort erkennen würde.«

»So? Sagt sie das?«

»Jawohl, und mir ist da der Gedanke gekommen, diese alte Frau selbst zu befragen.«

»Du! Du willst ...« Das Messer entfiel klirrend seiner Hand.

»Warum nicht? Auch die Untersuchungsrichter – wie du mir selbst gesagt hast – handeln so. Du kannst mir das nicht verargen, Vater, daß ich mich mit dieser Sache unausgesetzt beschäftige. Du weißt, welches Interesse ich daran habe, und daß ein Stück meines Lebens daran hängt.«

»Und wo willst du diese Frau sehen? Wo willst du mit ihr zusammenkommen?« fragte er sie plötzlich.

»Wo ich sie sehen will? Nun, ich kann doch nicht zu Herrn Melmström hingehen, um mich mit ihr dort zu unterhalten? Sie wird eben hierher kommen, zu uns.«

»Hierher?« Ihm war, als fühle er alles Blut in seinen Adern gerinnen; mit zitternder Hand stellte er das Glas auf den Tisch.

Jene Marie, die behauptete, Joseph Kammgarn sofort wieder zu erkennen, sollte hierher in seine Wohnung kommen und er konnte der Möglichkeit ausgesetzt sein, ihr gegenüber zu treten? Wesenthal hatte eine Bewegung des Schreckens, einen dumpfen Aufschrei kaum unterdrücken können. Er sah sofort ein, welche Unvorsichtigkeit er begangen hatte. Deshalb nahm er diesmal den Zorn zu Hilfe, – den Zorn, der schon seit langem dumpf in ihm wühlte und der sich nach und nach aus der Ueberreizung seiner Nerven entwickelt hatte.

Mit zorngeröteter Stirn erhob er sich und schlug mit der Hand auf den Tisch, zu welcher Heftigkeit er sich sonst niemals vergaß.

»Diese Frau wird nicht hierher kommen,« rief er mit bebender Stimme.

Erschreckt trat Käthe einige Schritte zurück, ohne gleich eine Antwort zu finden. Es war dies das erste Mal, daß sich ihr Vater derart hinreißen ließ.

»Ich wiederhole es dir, sie wird nicht hierher kommen. Ich will nicht, daß sie unser Haus betritt. Ich will nicht diesen Dienstboten dieses Herrn Melmström bei mir sehen, und ich begreife einfach nicht, wie er dieselbe herschicken kann, nach alledem, was zwischen uns vorgefallen ist.«

»Ich habe eben von Professor Kleinthal erfahren, daß er, Melmström, die Mörder seiner Mutter nur noch eifriger sucht als jemals.«

»So mag er sie von mir aus suchen!« stieß Wesenthal in sinnloser Wut hervor. »Aber ich werde nicht dulden, daß meine Tochter ihm dabei Vorschub leistet! Wenn ich mich einer Heirat widersetze, weil ich fürchte, daß du, als seine Frau, irgendwie in dieses Drama verwickelt werden könntest, glaubst du, ich werde dir heute gestatten, dich mit seiner Angelegenheit zu beschäftigen – dir, die du nicht einmal seine Verlobte bist? Wir haben schon viel zu viel Worte darüber verloren. Und was diese – diese Person anbetrifft – werde ich sofort den Auftrag geben, daß sie nicht vorgelassen wird, falls sie es doch wagen würde, herzukommen.«

»Ich werde selbst diesen Auftrag geben, Vater, wenn du gestattest,« erwiderte sie gefaßt, einen Augenblick schmerzlich die Augen schließend.

Sie klingelte und sagte zu dem eintretenden Mädchen:

»Wenn morgen oder diese Tage eine Frau oder Dame – wer immer – nach mir fragen sollte – ob Herr oder Dame – so sagen Sie, daß ich nicht zu Hause sei.« Und ohne ihrem Vater einen Kuß oder die Hand zu geben, verließ sie das Zimmer.

Alles erschreckte ihn jetzt, selbst das Unmögliche. Die bleiche Angst kam ihm wieder, wie damals, nach dem Tage des Mordes. Er fragte sich, ob nicht etwa auch der Graf von Straußberg und Amadini, seine Genossen von damals, von denen er niemals wieder etwas gehört hatte, plötzlich wieder vor ihm auftauchen würden, ebenso plötzlich, wie diese Marie auf einmal aufgetaucht war? Freilich hatte er kraft seiner väterlichen Autorität jener Person das Betreten seines Hauses untersagt. Aber konnte er ihr nicht anderswo begegnen, wo sie ihn erblicken und erkennen konnte? Seit zwanzig Jahren war es ihm geglückt, ihr auszuweichen und ihr zu entgehen. Aber heute, nach so vielen Jahren, konnte er dem Zufall mißtrauen, da doch auch der Sohn der Ermordeten seinen Weg auf so wunderbare Weise gekreuzt hatte!

Er überlegte, ob es unter diesen Umständen nicht geratener wäre, Berlin oder gar Deutschland für immer zu verlassen und sich irgendwo in der Fremde niederzulassen. Dort konnte er ohne Furcht seinen Aufenthalt nehmen, um dermaleinst in allem Frieden in den Armen seiner Tochter zu sterben, die ihn bis zu seinem Tode für einen anständigen Menschen halten würde. Und doch, könnte nicht gerade dieses Verschwinden Verdacht erregen?

Blieb ihm nur noch der Selbstmord. Es war nicht das erste Mal, daß er daran dachte. Aber ein Selbstmord unter den augenblicklichen Verhältnissen war so gut wie ein Geständnis. Aus dem Leben zu entfliehen ist manchmal gefährlicher, als sein bleibendes Domizil zu verlassen. Was sollte dann aus seiner Tochter werden, der er kein Vermögen und kein Hilfsmittel hinterließ? Würde Rudolf Melmström die Tochter eines Selbstmörders heiraten? Würde man nicht nach den Motiven forschen, die ihn zum Selbstmord getrieben hatten?


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