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Seit ihrer ersten Begegnung sahen sich die beiden Mädchen – Käthe und Eva – öfter, das heißt, wenn Eva nach Potsdam fuhr, um ihre Freundin zu besuchen. Wesenthal freute sich, daß seine Tochter einen so netten Verkehr gefunden hatte.
Es verstand sich von selbst, daß Käthe nicht zu Kleinthals fuhr, da sie dort leicht hätte mit Melmström zusammentreffen können. Käthe wäre – selbst mit Erlaubnis ihres Vaters – einer solchen Begegnung auf alle Fälle aus dem Wege gegangen. So kam denn Eva Kleinthal fast jede Woche einmal über den ganzen Tag nach Potsdam, um mit Käthe weite Spaziergänge längs der Havel zu unternehmen, aus denen sie sich so recht ihr Herz ausschütteten, indem sich Käthe von Rudolf erzählen ließ.
Wesenthal inzwischen versenkte sich mit einer Art von Verzückung in seine Arbeit; war er doch dann gänzlich ungestört.
Seit einiger Zeit war er etwas ruhiger geworden. Daß ihn Melmströms Haushälterin nicht wiedererkannt hatte, erfüllte ihn mit unendlicher Sicherheit. Wen sollte er sonst noch fürchten?
Heute war ihm sonderbar leicht zumute. Käthe war schon seit dem Morgen mit Eva nach Moorlake gegangen – und so hatte er volle Muße, seinen Artikel, der von einer Zeitschrift schon seit Wochen bestellt war, und der heute vormittag durch einen Redaktionsbeamten geholt werden sollte, noch genau durchzusehen.
Eben war er mit seiner Arbeit fertig geworden, als er die Klingel gehen hörte. Das konnte nur der Redaktionsbote sein. Da seine alte Wirtschafterin mit den beiden Mädchen nach Moorlake gegangen war, mußte er schon selbst öffnen.
Ein Herr von etwa 50 Jahren, klein, mager, kränklich aussehend, stand vor der Tür.
»Sie kommen wohl von der Redaktion, den Artikel abzuholen?« sagte Wesenthal, ohne sich den Menschen erst genauer anzusehen.
»Sie scheinen mich nicht mehr zu kennen, lieber Wesenthal? Ich bin der Graf von Straußberg. Sie entsinnen sich doch noch meines Namens?«
Kein Schrei – kein Laut entrang sich Wesenthals Lippen. Das Kuvert fiel zu Boden – Wesenthal blieb erstarrt auf dem Flecke stehen, auf dem er stand, unfähig, weder vor-, noch rückwärts zu gehen. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.
So stand er – regungslos – einige Sekunden.
Endlich brach es dumpf und halberstickt von seinen Lippen:
»Sie! Sie! Elender!«
Der Graf, erst erschreckt, fand sofort seine Fassung wieder, um in leichtestem Konversationstone zu beginnen:
»Ich bereue es wirklich, allein zu Ihnen gekommen zu sein. Es wäre besser gewesen, ich hätte Amadini mitgebracht.«
»Er lebt also auch noch! Er auch!« murmelte Wesenthal, sich mit einer Hand auf seinen Schreibtisch stützend. »Was wollt Ihr von mir?« fragte er, kaum imstande, zu reden und schwer atmend. »Wollt Ihr mir ein neues Verbrechen vorschlagen?«
»Auch nicht im geringsten. Ich will mich nur mit Ihnen über das alte unterhalten. Amadini sitzt in einer Droschke, die gar nicht weit von Ihrer Villa hält. Nebenbei gesagt, eine sehr niedliche Villa das! – Wenn er mich nicht zurückkommen sähe, käme er mir sofort zur Hilfe; und vielleicht ziehen Sie es vor, so wenig Aufsehens wie möglich von der Sache zu machen.«
»Also reden Sie! Weshalb sind Sie gekommen – und was wollen Sie?«
Straußberg lächelte über die Energie Wesenthals, an die er nicht glaubte: »Das sollen Sie sogleich erfahren. Es handelt sich um Herrn Rudolf Melmström, den Sie ja kennen. Sie wissen ohne Zweifel, daß Herr Melmström die Mörder seiner Mutter immer noch mit gleicher Energie sucht,« fuhr der Graf fort, sich in einen Fauteuil niederlassend und seine Beine bequem übereinanderschlagend.
»Das weiß ich, das ist auch sein gutes Recht.«
»Bis heutigentags hat er sie noch nicht gefunden. Doch habe ich allen Grund zur Befürchtung, daß die neu angestellten Nachforschungen ihn schließlich doch zu seinem Resultate führen könnten. Deshalb komme ich, um mit Ihnen, im Interesse von uns dreien, ein Mittel zu beratschlagen, wie Herr Melmström weiter in seiner Unkenntnis erhalten bleiben könnte.«
»Was soll ich dabei tun? Welche Hilfe könnte ich Ihnen dabei leisten?«
»Oh, eine sehr wertvolle Hilfe. Es ist etwas lang, Ihnen das auseinanderzusetzen und, wenn Sie wollen, können wir uns ja ein anderes Mal treffen.«
Wesenthal war gerade im Begriff, zu antworten, als es hinter seinem Rücken an der Scheibe klopfte. Ein Blick genügte ihm, zu erkennen, daß es Käthe war, die vergeblich versucht hatte, auf irgendeine Weise ins Haus zu kommen. Da aber alles sonderbarerweise verschlossen war, blieb ihr nichts anders übrig, als den Vater herauszuklopfen.
Er ging durch den Flurkorridor, entfernte sachte den Riegel und öffnete die Tür.
Als er Käthes Absicht bemerkte, direkt ins Schreibzimmer zu gehen, hielt er sie an: »Nein, nein, gehe inzwischen auf dein Zimmer. Ich habe noch mit einem Herrn von der Redaktion etwas Geschäftliches zu besprechen.«
Sobald Käthe im Oberstock verschwunden war, begab sich Wesenthal wieder zu Straußberg und flüsterte ihm hastig und leise zu:
»Jede weitere Unterredung ist für den Augenblick unmöglich. Ich werde Sie aufsuchen, wenn Sie wollen. Aber nur nicht hier.«
»Gut. Und wann?«
»Heute abend.«
»Schön. Und wo wünschen Sie, daß wir uns treffen sollen?«
»Das ist mir gleichgiltig. Bestimmen Sie.«
»Sagen wir zum Beispiel bei Lantzsch. Ich bin seit vielen Jahren Stammgast dort, und könnte ich das kleine Hinterzimmer reservieren, in dem wir von niemand gestört würden. Aber – wie Sie wollen.«
»Also gut – um neun Uhr abends bei Lantzsch!«
»Fragen Sie nur nach meinem Namen. Wir rechnen also auf Sie!«
Straußberg erhob sich und verließ mit kühlem Gruß das Zimmer, von Wesenthal bis an die Tür begleitet.
Sobald er sich allein wußte, ließ er sich schwer in seinen Voltairestuhl fallen. Da war es nun – das Verhängnis! Die, die er niemals wiederzusehen gehofft, standen auf einmal vor ihm – lebend, handelnd, wahrscheinlich wieder Verbrecherisches sinnend. Mit ihnen ward ihm wieder die Vergangenheit lebendig – er sah sich als der Wesenthal von einst, nicht der heutige – und wenn er auch fühlte, daß er nichts Gemeinsames mehr mit jenen Elenden hatte, so war er doch gezwungen, ihnen nachzugeben; denn sie hatten ihn mehr in Händen, als er sie; sie hatten keine Kinder. Aber er hatte eine Tochter. Wie konnte er ihr gegenübertreten, jetzt, nachdem ihn die Schuld wieder mit jenen Verbrechern zu verhandeln gezwungen hatte?