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Alle, die Eleonora Duse in den Ländern, deren Sprache sie selber nicht kannte, auf der Bühne erlebt haben, haben sie so sehr als fraulich-menschliche Repräsentantin von gerade sie betreffenden Menschenschicksalen empfunden, daß sie darüber vergaßen, daß diese vielen Gestalten, deren Umrisse Dumas, Sardou, Ibsen, Gorkij und Sudermann und andere gezeichnet hatten, Italienisch sprachen und daß in ihnen das Blut eines fernen, fremden Volkes pochte. So scheint es uns in dieser deutenden Darstellung eines durch Kraft und Gnade weitest gespannten Daseins nötig zu sein, in den innersten Kreis seiner Bedingtheiten einen Blick zu tun und ein wenig von dem Italien Eleonora Duses zu sprechen, aus dem sie in die Welt ging und in das sie, die viele, viele fremde Länder und Städte als die Ihrige erlebt hatten, weltreicher und doch vielleicht noch mehr als Italienerin zurückkehrte. So unbedingt uns heute, da wir die Summe eines Daseins ziehen, endlich Sein und Wirken dieses heilig glühenden Herzens erscheinen wollen, so bedingt sehen wir es, indem wir dem Nacheinander jener Wechselwirkung von Außen und Innen folgen, das das Tun und Leiden in einer Lebensgeschichte darstellt. Mancherlei triebmäßige Abhängigkeiten sind nun schon angedeutet worden. Aber auf etwas Bestimmtes, Eigentümlichstes ihrer Zusammensetzung gilt es noch vom Italienischen eines ganz bestimmten Italiens her einen Augenblick lang hinzuweisen. Dieses Italienische, das wir meinen, ließe sich als eine sonderbare Ungemischtheit menschlicher Eigentümlichkeiten umschreiben, als eine Unverschmolzenheit von primitiven und kulturellen Elementen, welche das Fehlen vieler der Spitzenwirkungen, die bei den nördlicheren Völkern manche zu starke Entladung vermeiden helfen, mit sich bringt und in diesem Lande eine gewitterndere Atmosphäre schafft, in der nichts Gemütliches, Behagliches (wofür die italienische Sprache gar kein Wort hat) gedeihen kann. Diese Atmosphäre mag es mit sich bringen, daß hier noch immer der frommen wie der bösen, der heißen und vielfordernden Herzen mehr sind als der lauen. Nirgends ist daher auch die Menge so unberechenbar, so sprungbereit, zu zerreißen, so trunken im Zujubeln. Wohl ist etwas von Theater und Gestenfreudigkeit in vielem; aber daß sie dies selber ernst nehmen, daß sie, die böser höhnen können als jedes andere Volk, gerade hier nicht höhnen, liegt daran, daß im nächsten Augenblicke jeder werden kann, was er eben noch gespielt hat.
Zu begreifen wären diese Gegensätzlichkeiten daraus, daß dieses summarisch das Italienische genannte Volkswesen ja aus mannigfachem Blut, aus heterogenen Kulturen, aus vielgestaltigen geographischen und sozialen Bedingtheiten und aus einer Menge in sich ruhender Sprachen und Sitten erwachsen ist. Es kann hier nicht von dem wunderlichen Ensemble von Dialekten und Eigentümlichkeiten, von Landschaften im geographischen und menschlichen Sinne, von den alle Formen des Zusammenlebens prägenden, alles Ständische durchdringenden Kräften des italienischen Regionalismus gesprochen werden, der im Grunde die einzelnen Kapitel der politischen und geistigen Geschichte der vielen in sich geschlossenen Gebilde des geeinigten Königreichs ausmacht. Erwähnt muß jedoch in ein paar Worten werden, daß in jedem Einzelfalle eines italienischen Menschen zu dem mehr oder minder klimatisch und rassenmäßig gegebenen Allgemein-Italienischen sich das Besondere seines Landschafts- und Kulturkreises bestimmend hinzufügt.
Der Einzelfall nun, um den es hier geht, ist unverkennbar dem mächtig prägenden venezianischen Daseinskreise angehörig, der reinst erhaltengebliebenen Rasse dieser Seefahrerwelt, die noch ihre besonderen Gegensätzlichkeiten hat, – der Welt, die die großen Symboliker des Sinnlichen, Giovanni Bellini und Giorgone, die fernesüchtigsten Seehelden, die großen Kurtisanen und die holdeste Komödie, die Goldoni und Gozzi, und auch Giacomo Casanova hervorgebracht hat – und über all das hinaus das Wunder der phantastischesten Stadt der Erde, die Meer und Land, Elementarisches und Menschenwerk zugleich und dazu einzigartiges Zeugnis gestaltsuchenden fremdartigsten Daseinsabenteuers ist. In diese Stadt, die Wunderstadt ihres inneren Herzens, ist ja die Unstete immer wiedergekehrt, zu Triumphen und Leiden und endlich zur Erfüllung ihres Frauenschicksals. Da die Heimlose das erstemal an ein Zuhause dachte, war ein Haus in Venedig der Traum, und in den späteren Jahren ihres Lebens war es eine Dachstube in Venedig, die fast einem Seemannsheim glich, von der Freunde sagten, daß diese außer ihrem Asolo ihr innigstes Zuhause gewesen sei. Aber nicht die Liebe zu dieser Stadt machte ihr cuore veneziano aus, sondern daß in ihr so viel von den Kräften und Gegensätzlichkeiten weiterwirkt, die den zutiefst venezianischen Menschen in Wesen und Schicksal hineinspielen. Dieses Venedig, das mit seinen spielenden, guardi-funkelnden Lichtern aufgestanden war, wenn sie die Goldonische Mirandolina gespielt hatte, und mit all den Unheimlichkeiten seiner Smara, wenn sie die Anna in der »Città morta« gewesen war, war in ihr, ja sie war selber so sehr Venedig, wie ein Liebender die ganze Liebe ist.
So ist es nicht nur ihre Zeitgenossenschaft allein, wie ihre zeitverliebten Kritiker gern betonen, was sie die Rollen voll der Leidenschaften Verfallsgezeichneter und absteigend übersteigerter Leben suchen läßt. Es ist der venezianische Akzent ihres Wesens, der in ihr weiterspricht, der Blick glühend verfallenden Lebens, einer groß gewollten und klein gewordenen Welt, der noch aus der Rebekka West und selbst der Gorkijschen Wasilissa die dunkle, leibgewordene Schwermut Venedigs weitersprechen läßt.
Nun ist diesen Andeutungen ihrer sozusagen räumlichen Bedingtheit noch hinzuzufügen, daß sie freilich auch so sehr durch ihre Zeit bestimmt war, wie jeder es ist, der dazu ausersehen ist, daß endlich seine Zeit auch durch ihn bestimmt werde. Es ist die Zeit nach dem Risorgimento und der Einigung Italiens, aus der wir sie emporkommen sehen, jene Epoche nach dem heroischen Ineinandermünden all der heterogenen Kräfte von Piemont bis Sizilien, das dann mit der Erreichung des politischen Zieles Italien atemholend einhält. Nun löst sich das in hoher Begeisterung zusammengeglühte Kollektivum des Gefühls wieder. Die Anspannung läßt nach, und die Haltung wird da und dort schon zur Attitüde. Nun spricht in dem Einzelnen auch wieder die Besinnung an die eigenen Notwendigkeiten – und die in einer heldischen Gemeinschaft gebunden Gewesenen kehren in die individualistische Isolation, in Klasse, Kaste, Masse zurück, in die Familie, die sie vor der Einsamkeit ihrer sie nur durch die Leidenschaft an den Nächsten bindenden Instinkte retten soll. Freilich mag nun auch schon ein Hauch europäischer Problematik, von deren schmerzlich wissendem Wesen die Desillusionsdichtung Frankreichs und am stärksten Nietzsche Zeugnis ablegen, in diese in einem verspäteten Romantismus sich gefallende verbürgerlichte Welt hineinwehen. Aber sie versteht ihn auf ihre italienische Art und tragiert Europa auf ihre, von ihrem wunderlich jungen und alten Blute vorgezeichnete Schicksalsweise. Die Helden von gestern sind nun wieder italienische Menschen in dem schweren Leben eines großen, doch armen Landes, Leute voll Wirklichkeitssinn und Tatsachenblick – und dennoch machen ihrer viele die absonderlichsten Anstrengungen, diese ihre Wirklichkeit zugunsten einer pathetischeren, beinahe alfierihaften zu verleugnen und nicht wahrhaben zu wollen (was ihre Denker und Staatsmänner von dem großen Mazzini bis zu dem spartanisch-männlichen Francesco Crispi so leidend klar gewußt haben): daß die Jünglinge, die antikischen Feuers voll und wie von den alten Göttern geführt die Schlachten geschlagen haben, nun alternde Männer geworden waren, die sich dareinfügen mußten, in einer Welt zu leben, in der ökonomische Gesetze walten und ordnen. Trotz dem gnädigeren Himmel und der üppigeren Erde gibt es nun in Italien viele kleine Nöte, bürgerliches Darben und die Dehors wahrende Ärmlichkeit – aber die Edlen der Nation, die würdigen Erben des Risorgimentos, wissen auch der kleinen Armut zu begegnen, indem sie ihr ihren Stolz entgegensetzen, diesen schönen Stolz, in dem große lateinische Virtus weiterlebt. In dem Lande, an dem der reisende Fremde Lazzaronitum, Bettelunwesen und Theatralik des Verfalls als hervorstechende Merkmale zu sehen liebte, gab es in diesen Jahrzehnten ein Wiedererwachen wahrhafter Römertugenden, gab es die vielen Männer, die nach einem Leben machtvollen politischen Wirkens arm, wie sie begonnen hatten, abtraten, gab es, was alles Widerspruchsvolle dieses Volkscharakters immer wieder in den mannigfaltigen Gestaltungen der italienischen Menschennatur adelt: den Stolz als tragische Tugend, die Ehrenhaftigkeit des echten leidenschaftlichen Herzens. Sie ist in dem Vater, dem großen Arzte Murri, der den geliebten einzigen Sohn, der aus edelstem Antriebe, um die mißhandelte Schwester zu retten, zum Mörder geworden ist, zwingt, sich der menschlichen Gerechtigkeit zu stellen; sie durchglänzt die klare Schärfe des italienischen humanistischen Denkens, das kein Paktieren kennt, sie ist das, was alle die Regionalismen und Gegensätzlichkeiten zu dem neuen Italienischen eint und ihm seine Würde gibt.
Aber wir haben es uns vorgesetzt, hier von Eleonora Duses zeitlicher Bedingtheit zu sprechen, so scheint es uns nötig, noch ein Moment ihres inneren persönlichen Schicksals (jenes, das endlich in d'Annunzios Welt aufs stärkste aufglühte und dann erlosch) in Verbindung mit einer Grundverfassung ebendieser italienischen Nachrisorgimentozeit zu bringen. Wir meinen jene Lebensstimmung ihres dritten und vierten Daseinsjahrzehnts, die wir früher einmal heidnisch genannt haben. Deren Intensität ist zwar durch persönliche und nationale Leidenschaftlichkeit bestimmt, in ihrem Grunde mag auch etwas vom lateinischen Erbe weiterwirken, aber in ihrer Form ist dieses Heidentum recht zeitlich-allzuzeitlich. In ihm ist das triumphierende Bürgertum der achtziger und neunziger Jahre mit seinem Protest gegen die endlich besiegte »Pfaffenherrschaft«, in ihm ist aber auch der Protest gegen ebendieses Bürgertum, das liberal in den Meinungen und unduldsamer als die Kirche selber in seinen Lebenspostulaten ist. Es ist kurz gesagt das Heidentum eines sinnlichen und zugleich seelenhaften Menschen in einer wesentlich unheidnischen Zeit des Ressentiments und deren aus lauter Protesten und Konstruktionen zusammengesetzten Lebensform. Daß ein unkritischer, unhistorischer, mit allen seinen Kräften nach künstlerischer Form drängender Mensch dem Einflusse dieser Zeit unterliegt, ist selbstverständlich – aber ebenso selbstverständlich ist es, daß dessen eigentliches Leben in seinen schöpferischen Äußerungen dann eitel Widerspruch gegen diese vermeintliche Weltanschauung darstellt. Eine reiche und bereite Natur nahm auf, was die Umwelt zu bieten schien. Und selbst der vergeistigende Lehrer Arrigo Boito, hierin allzusehr Sohn seiner Zeit (wie seine künstlerischen Gegenstände, über die freilich seine Kunst selber hinauswuchs, es bestätigen), schien sie in diesem Heidnischen zu bestärken. So konnte es denn geschehen, daß sie, die in all ihrer erdverliebten Leibvergöttlichung schon das seelenhafteste Theater eines Menschenalters geschaffen hatte, in ihrem Daseinsstoffe selber endlich dennoch der süßesten und stärksten Verführung dieses bürgerlich-romantischen Heidentums, seinem großen Dichter, unterlag und unterliegend sich selbstzerstörerisch und endlich gegen ihr besseres Wissen so schmerzsüchtig hineinverwühlte, als ob sie mit diesem Leiden nicht nur ein Ich, sondern eine Welt bewahren könnte, von der ihr schon ahnen wollte, daß es nicht mehr die ihre war.
Diesen Anmerkungen über nationale und zeitliche Bedingtheit, die freilich nur auf das Ganze der Biographie bezogen ihren Sinn haben, glauben wir nun noch eine andere, gleichfalls fragmentarische hinzufügen zu müssen. Alles Gedankliche, wie es hier angedeutet wurde, hatte für Eleonora Duse bis zu dem Zeitpunkte, da sie aus dem tiefsten Abgrunde des Leidens emporsteigend den Weg der Verwandlung beschritt, nur soweit Sinn und Wirklichkeit, als es in Tun und Leben erfüllbar war. Noch ist ihr wesentlichstes Tun Theaterspielen, so muß hier einiges von der Schauspielerin Eleonora Duse und ihrem Theater in seiner Zeit allgemeiner angemerkt werden.
Wer das Leben eines schöpferischen Menschen zu schreiben unternimmt, dessen Gestaltungstrieb sich in Dichtung, in einer der bildenden Künste oder selbst in der so sehr abgerückten Sphäre der Musik auswirkt, dem hilft das dagebliebene Werk, das die einzelnen Phasen eines Künstlerlebens dokumentiert. Ihm helfen die Methoden der Kunstwissenschaften mit ihren vielzieligen Analysen, und ihm steht eine ausgebildete Psychologie zu Gebote, die sich um die Erforschung der Beziehungen zwischen Künstler und Kunstwerk bemüht. Freilich wird keine dieser Methoden imstande sein, das Eigentliche von Gnade und Ingenium noch die geheimnisvolle Tatsache selbst zu erklären, die die Existenz des schöpferischen Menschen darstellt. Immerhin aber wird sich beim »produzierenden« Künstler Lebensgang und Schaffen eben durch das Vorhandensein des Werkes irgendwie zu einer Einheit fügen lassen, während es dem Lebensbeschreiber eines »reproduzierenden« Künstlermenschen ein wenig so geht wie etwa einem, der von einem Maler erzählen wollte, dessen Name zwar noch von einer Gloriole von Größe umgeben weiterlebte, dessen Werke jedoch sämtlich durch irgendeine Katastrophe zugrunde gegangen wären. Er würde die Berichte derer aufzählen können, die diese Bilder noch gesehen haben, würde Beschreibungen anführen können – aber wenn es gar ein großer Maler gewesen wäre, dessen Werk etwa eine ganze Epoche erschüttert hätte, würde trotz all der Zeugnisse der späte Leser seiner Lebensbeschreibung dieser fernher klingenden Begeisterung gegenüber etwas wie eine leichte Verlegenheit empfinden.
Ebendiese Verlegenheit nun müßte auch einer, der nicht lediglich zu theatergeschichtlichen Zwecken, sondern um einer Darstellung ihrer künstlerischen Persönlichkeit selber willen eine Biographie etwa der Sarah Bernhardt schriebe, sehr wohl befürchten (wofür im übrigen ja die Lektüre ihrer Autobiographie tatsächlich Zeugnis ablegt). Zwar ist auch ihr Andenken noch frisch, und ihre souveräne Technik und die geschmacksichere Diszipliniertheit ihres Spiels sind unvergessen. Aber sie ist ganz und gar und nur Schauspielerin gewesen, ihr Menschliches ging vollkommen im Theater auf, so daß, was nicht Theatergeschichte an ihr ist, als über die Bühne hinausgetragenes Theaterspiel wirkt. Und so ist um ihr Persönliches heute schon das Muffeln alter Parfüms und aus der Mode gekommener Roben. Und die Schauspielerin Eleonora Duse? Zwar sind, um uns dem früheren Gleichnisse wieder zu nähern, ihrem eigenen Worte »l'artista passa e non lascia traccia« zum Trotz noch in Hunderttausenden die hingegangenen Gestalten dieser großen Menschenbildnerin lebendig, und so fände, selbst wer von ihnen allein spräche, wohl mehr Zuhörer als wahrscheinlich der Biograph der Nur-Schauspielerin. – Aber wie sehr er auch die Eindringlichkeit und die Gewalt dieser Gestalten priese, sein Tun wäre endlich doch nur ein Beitrag zur Theatergeschichte und also ihr gegenüber ein halbes Tun. Denn so sehr Eleonora Duse vom Theater besessen war und sich im Theaterspielen der Welt kundtat, ihre Größe und das Geheimnis ihrer Wirkung war, daß sie mehr war als eine Schauspielerin. Ein Mittel dazu, dieses Mehr ahnen zu lassen, muß freilich vorerst auch noch das Erzählen von Theater und Schauspielerei bleiben.
Als Eleonora Duse schon das Theater verlassen hatte, spielte sie oftmals mit Marionetten, die sie in Berlin gekauft hatte. Sie spielte nicht Stücke, kaum Szenen – sie drückte lediglich im Gestus der Puppen aus, was in ihr selber vorging, und sah in diesen Bewegungen die einfachste Formel, auf die sich Innerliches sichtbar bringen läßt. Sie spielte zwar im Leben niemals und nirgends Theater, aber das Tragieren, das Gestalten von Menschen war so sehr ein Teil ihrer Natur, daß es sich, auch als anderes in ihrem Wesen und Schicksale sich dann den Verzicht auf das Theater erzwungen hatte, noch darin Bahn brach.
Ihr Theaterspielen ist von früh an nicht identisch mit dem, was sie, das Theaterkind, an Theater vorfindet. Eine große Natur voll Leidenschaft und Gegensätzlichkeiten und überdies unerhört mit dem begabt, was man gemeinhin Talent nennt, tritt unter den dargetanen nationalen Bedingtheiten in eine Zeit ein, die unheilig ist und die sehr viel von einem anderen Theater, in dem jeder Spieler und Zuschauer zugleich ist, in sich trägt. Es ist das innere Theater der Einsamkeit ohne Heimat im Ich, des unfromm sucherischen Geistes, des pathetisch-dekadenten Intellektualismus. Mit diesem Namen Intellektualismus benennen wir die Nichtidentität zwischen Denken und Tun, das Dissoziierte, die Schauspielerhaltung der Zwiespältigkeit, das Nichthomogene des gedachten und gelebten Lebens. In eine solche Welt eingetreten und durch Herkunft sowie jenes Talent auf das Theater verwiesen, muß diese leidensfähigste und leidenschaftliche Seele nun, um es zum Schauplatze ihrer inneren Gestalten machen zu können, aus der Naturkraft ihrer Instinkte jenes andere Theater von sich bannen. Es ist kein anderes Wissen in ihr, als daß sie auf der Bühne zu ihrer Verwirklichung und ihrem Sinne gelangen müsse, und so schafft sie sich ihre Welt, in der sie durch die tiefste Schauspielerei als Kunst die Schauspielerei als Leben überwindet. Und hier scheint uns jenes Mehr zu beginnen: daß die Schauspielerin Eleonora Duse kraft ihrer Natur mit den Mitteln ihrer Schauspielkunst die Mittelbarkeit, die Übersetztheit, die Zeittheatralik in der auf sie aufhorchenden Welt so schmerzlich fühlbar macht und aus den Erschütterten das Theatralische verjagt, wie der wirklich Erotische die Zote oder der Gläubige den Aberglauben verscheuchen.
Größe ist Verwirklichung, immer mit der Zeit und gegen die Zeit zugleich; und Eleonora Duse, die Schauspielerin war und mehr als Schauspielerin, stieg zu ihrer Größe auf, weil sie in ihrer unheiligen zerrissenen Zeit den Weg fand, auf dem sie fanatisch wie die großen Zerstörer und die großen Aufbauer, die heiligen und die besessenen Dichter, ihr Zeitalter als dessen hundertgestaltiges Sein und Leiden und Gewissen aus seiner Mittelmäßigkeit aufrüttelte. Sie schreit für die Lauen, die Wohlerzogenen, die Feigen, die sich in Herkommen und Gedanken verbergen, sie weint und lacht und rast und zerstört sich für alle die, die sich nicht wagen: und sie ist alle diese, die sie aufrüttelt, zugleich und noch um jenes Etwas mehr, was Kunst mehr als Leben ist, um jenes, das man Gestalt nennen mag gegenüber dem Ungestalten oder Sinn gegenüber dem Sinnlosen.
Aber mit alledem ist sie eine Schauspielerin, die Rollen lernt, Stücke sucht (oh, wie schwer sie es damit hat!), die alles auf sich nimmt, was eben zum Theater gehört – außer der Schminke und jeder Art von Kleinlichkeit –, die lange unkontrolliert, bedenkenlos, manisch sich vergeudet, sich in dieses Spiel von ein paar Stunden hineinwirft und dann schreit, schreit wie ein Tier, wie Besessene, wie Sterbende, wie die Verdammten schreien. Blutstürze gehören mit dazu, Zittern letzter Erschöpfung, das fast wie Epilepsie ist, grausigstes Rasen der Kreatur, Schlagen mit den Fäusten, mit dem Herzpochen, mit aller, aller Kraft gegen die Mauern, in denen Ich und Zeit zusammen eingekerkert sind. Sie selber hat es ein einziges Mal ausgesprochen, was ihr ihr Theater sei (denn vor den Worten hatte sie so sehr Scheu), als sie vom Apostolischen ihres Tuns sprach, von dem sie wußte, daß dieses für den größeren Teil ihres Lebens ihr Sichbewahrenmüssen, ihr Beten, Beichten und Sichentsühnen sei.
Nun dürfen wir wieder zu der Darstellung dieses Lebens selber und zum Erzählen von Schauspielerei zurückkehren und von Tourneen und Erfolgen, von Kritiken und Publikum, von großen Vermögen und Schulden und alledem sprechen, woraus die Bühnenlaufbahn Eleonora Duses sich zusammensetzte, jetzt, da wir einen Hinweis auf ein paar Bedingtheiten dieses Schauspielerdaseins gewagt haben, das so unbedingt Wirrnis und Ausweglosigkeit zweier Generationen in eine große Seele hineinnahm, um sie theaterspielend in die leidendste Tiefe hinabzuzwingen, aus der ihre Ahnung die Erlösung erwartete.
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