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Straightway I was 'ware, So weeping, how a mystic shape did move Behind me, and drew me backward by the hair; And a voice said in mastery, while I strove; ›Guess now who holds thee?‹ – ›Death‹, I said.
But there,
The silver answer rang ... ›Not Death, but Love.‹
Elizabeth Barrett Browning
Die Stadt Bologna hatte ihr eine Ehrung zugedacht, wie sie einer Schauspielerin selten zuteil geworden ist: das Theater, in das sie zu kurzem Gastspiele kam, sollte von nun ab ihr gewidmet sein, eine am Abende der Festvorstellung enthüllte Gedenktafel sollte diese Zueignung mit ihrem Namen den zukünftigen Zeiten bewahren. Und sie spielte auch an diesem Abende wieder das in Rom so schmählich aufgenommene Drama, den »Traum eines Frühlingsmorgens«.
Trotz Marmortafel und Verherrlichung durch eine ganze Welt: ihr Teil sei die Vergänglichkeit, das seine aber die Unsterblichkeit auf der geliebten Erde, deren künftigen Geschlechtern seine Stimme weiterreden würde von den tausend Gesichten seiner Begierde. Und der Vergängliche muß dem Unvergänglichen dienen. Daß sie liebte, »von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all ihren Kräften« liebte und daß doch kein Glauben mehr in dieser Liebe war, das war ein Ding, das nur sie selber mit ihrer Vergänglichkeit anging. Aber der andere Glaube, der an seine Sendung und seine Größe, war ihr geblieben, er wuchs noch in ihrem Leiden und war wie ein Sinn, er drang in jede Stelle ihres Wesens ein, wo vordem ihr Stolz gewohnt hatte, und wenn ihr schauderte, weil aus dem geliebten Menschen sie wieder und wieder das Unfaßliche wie eine Totenhand gestreift hatte, wenn sie, die Liebende, zu allem Verstehen Bereite, sich vor dem Unverständlichen zusammenduckte, hob sie ihren makellosen Glauben vor sich empor, das Gefäß, in dem nun alles Licht ihrer Seele gefangen war, und sagte: Ich darf ja dienen.
Jahrzehntelang vertraut gewesene Empfindungen kamen wieder, sie erkannte sie, und es war fast tröstlich, daß die schlimmen Begleiter ihres hingegangenen Lebens nun wieder lebendig dawaren. Fassungsloses Erschrecken vor Briefen oder Depeschen und im nächsten Augenblicke rasend aufglühende Hoffnung; das Auffahren in der Nacht und nicht im Bette, nicht im Zimmer Bleibenkönnen, das Herzklopfen, wenn von ferne her der Pfiff eines Zuges nachtwindgetragen zu ihr drang; die Augenblicke, in denen sie altvertraute Menschen oder die geliebten Zimmer da so fremd anschauten ... Und wie sie früher aus Reisen und Arbeit in die Stille der Landschaft geflohen war, floh sie jetzt aus der zerrissenen Stille der Landschaft in Reisen und Arbeit. Und wenn sie erst wieder unterwegs war, konnte sie für Tage meinen, es sei alles gut. Auch er wurde dann anders, näher. Es war fast, als ob ihn die lebendige Gegenwart ihrer Triumphe mit neuer Leidenschaft für sie erfüllte. Dann rauschte im Anblick von Landschaften und Kunstwerken oder in der Wiedererweckung des Gesehenen das volle Orgelwerk seiner Worte wieder auf. Und die furchtbare Zärtlichkeit der letzten Liebe bat den Geliebten um Vergebung für das, was sie von ihm wußte, verriet alles Wissen ihres Daseins an sein Wort, an die Umarmung.
Eine Freundin kam zu ihr; sie suchte ihre Blässe und die Male des Grauens aus dem tiefsten Abgrunde der Nacht hinter einem Lächeln zu verbergen. Aber die Freundin sah ahnend hinter das dünne Lächeln. Und sie sagte: »Du sollst dich nicht so quälen, Eleonora, du zerstörst dir selber deine Kräfte, und wenn du müde und widerstandslos bist, werden alle Übel noch schlimmer.« Und Eleonora erwiderte: »Ich bin jetzt bald eine alte Frau, ich bin viel krank gewesen in meinem Leben, ich habe seit der Kindheit schwer, schwer gearbeitet – dürfen da die Kräfte nicht von selber nachlassen?« Und die andere, selber nahe der Schwelle, an der die Jugend, die doch wie für immer gegeben geschienen hatte, schaudernd erlernen muß, daß auch ihr Welke und Verfall verhängt ist, die andere Frau erriet etwas von dem tiefverhehlten Geheimnis, und sie sagte: »Eleonora, du, und bald eine alte Frau? Du bist unser aller Jugend, es ist so viel Jugend in dir, daß viele, viele Menschen noch von dir Jungsein lernen könnten. Du tust schlecht daran, an die Jahre zu denken, damit machst du dich alt.« Da sah Eleonora sie mit einem großen Blicke, in dessen Traurigkeit fast etwas wie ein schmerzlicher Mutwille war, an, strich mit den Händen, die jetzt beinahe wie Mondschein schimmerten, das viele ungebärdige, ergrauende Haar von den Schläfen zurück und sagte: »Die sind wirklich alt, die sich bewahren wollen – so alt bin ich noch nicht. Willst du mir etwa raten, daß ich an jede Bewegung meines Gesichtes denken soll, damit ich nicht noch mehr Falten bekomme? Soll ich mir mein Haar färben, meinen Körper einschnüren oder zwölf Stunden jeden Tag mit allerlei Salben beschmiert und eingewickelt wie eine Mumie im Bett verbringen? Nein, Liebe, ich kann nicht sparen, ich muß geben, geben können, immer noch mehr geben – wenn ich mich dabei aufbrauche, dann geschieht mir recht, dann war ich eben ärmer, als ich es hätte sein dürfen. Nein, nicht mumifizieren, verbrennen, verbrennen!«
Die Kranken, deren ermattetes Herz, das Kreisen des Fieberblutes nicht mehr ertragend, zu flattern beginnt und gegen den Käfig des Leibes stößt, und die leidenschaftlichen Sehnsüchtigen, die nachts auffahrend ihr Zimmer wie einen Sarg gefühlt haben, kennen diese entsetzliche Angst vor der Enge, in der die Traumangst jener Poeschen Geschichte von dem Gefängnisse ist, dessen Wand sich nähert und nähert, die Angst vor dem Lebendigbegrabensein und das gejagte Laufen durch einen finsteren Wald, das gegen die Stämme Stoßen und keinen Ausweg Finden. Eleonora Duse hatte aus Fiebern des Leibes und der Sehnsucht dieses Schaurige oft und oft erfahren, aber ehedem hatte die Flucht in Reise, in das Sichverlieren in einer Gestalt oder in die Unendlichkeit einer Landschaft oder des Meeres sie davor gerettet. Und etwas von der Erinnerung an dieses Kerkergrauen hatte ihr Verlangen nach Weite und Freiheit noch größer gemacht. Sie hatte alles Engende des Herkommens, die Grenzen der Länder, den Kerker der Sprache durchbrochen, und nur ihr Wille hatte sie binden dürfen. Und jetzt, da der größte Ruhm, den ihr Zeitalter einer Frau zollte, um sie war, da sie über Reichtümer gebot, deren Bestehen selbst ihre Jugend kaum geahnt hatte, und da sie in ihrer Kunst selbst keine Schranken mehr sah, war dies Gefühl von damals wieder da, nicht nur für Stunden mehr oder für Tage, nein, wie ein Orgelpunkt unter all ihrem Tun weiterklingend. Und sie konnte sich auch nicht mehr dagegen wehren, denn der große Helfer und Führer ihres Lebens, ihr Wille, hatte ja dazu gesagt. Und wie die, die ganz dem Tage und seiner Wirklichkeit hörig sind, zuweilen im Gewitterlichte eines Traumes ihr Schicksal erscheinen sehen, durfte sie, nun ganz im tiefsten Traume ihres späten Blutes verfangen, in der Wirklichkeit solch ein schauriges Gewahrwerden ihres Geschickes erleben. Der Dichter hat in dem Buche, das die Geschichte ihrer Liebe enthält, dieses gleichnishafte Erlebnis aufgeschrieben. Für diejenigen, die diesen Roman »Il Fuoco« nicht kennen, sei hier bemerkt, daß d'Annunzio darin Eleonora Duse die Foscarina und sich selber Stelio Effrena nennt. – Das Zitat ist gekürzt.
»Hörst du, die Tore der Glashäuser werden geschlossen.«
»Es ist Zeit, sich auf den Weg zum Ausgange zu machen.«
»Wir wollen am Dolo das Kommen des Zuges erwarten, wir kehren mit dem Zuge nach Venedig zurück.«
»Es ist noch Zeit.«
»Was ist das da? Sieh!«
»Was für ein bitterer Geruch! Ein Boskett von Buchs und Hagebuchen ...«
»Ah, das ist das Labyrinth ...«
Ein rostendes eisernes Gitter schloß es, zwischen zwei Pfeilern, die auf Steindelphinen reitende Amoretten trugen. Hier vom Gittertore aus war nur der Anfang eines Weges und eine Art verwachsenen und strengen Waldes zu erblicken, der wie ein geheimnisvolles und undurchdringliches Dickicht wirkte. Aus dem Mittelpunkte des Wirrsals erhob sich ein Turm.
»Bist du nie in einem Labyrinth gewesen?« fragte Stelio seine Freundin.
»Niemals«, erwiderte sie.
Sie verweilten, dies trügerische Spielwerk bestaunend, das ein erfinderischer Gärtner zum Vergnügen der Damen und der Cicisbeos in den Zeiten der Stöckelschuhe und der Krinolinen ausgedacht hatte. Aber die Verwahrlosung und das Alter hatten es verwildert und traurig gemacht, es in ein zugewachsenes Gestrüpp von brauner oder gelblicher Farbe voll unentwirrbarer Verstrickungen verwandelt.
»Es ist offen«, sagte Stelio, da er das Gittertor unter seinem Anlehnen nachgeben fühlte.
Er stieß das rostende Eisen auf, dann machte er einen Schritt über die Schwelle.
»Was tust du?« fragte die Gefährtin in instinkthafter Furcht und streckte die Hand aus, um ihn zurückzuhalten.
»Willst du nicht, daß wir eintreten?« Sie war verwirrt. Aber das Labyrinth mit seinem Geheimnisse zog sie beide an.
»Und wenn wir uns verirren?«
»Sieh doch, es ist klein. Wir werden leicht den Ausgang finden.«
»Und wenn man sich nicht wieder zurechtfindet?«
Er lachte über die kindliche Furcht: »Dann müssen wir in Ewigkeit darin im Kreise gehen.«
»Es ist niemand hier in der Nähe. Nein, nein, gehen wir fort.«
Sie suchte ihn zurückzuziehen, er entwand sich ihr und war plötzlich lachend verschwunden.
Sie sah ihn nicht mehr, aber sie hörte das Lachen aus der verwilderten Wirrnis herschallen.
»Kehr' um, kehr' um!«
»Komm du und such' mich!«
»Stelio, kehr' um, du wirst dich verirren!«
Eine rasende Angst durchschütterte sie, verwirrte ihr den Verstand und hinderte sie, die Unmittelbarkeit des Geschehenden zu betrachten und das Unvorbedachte in ihrem Freunde zu erkennen. Der Schrecken, der sich auf dem Grunde ihrer verzweifelten Liebe verbarg, brach nun hervor, ergriff Besitz von ihr und blendete sie elend. Die kleine bedeutungslose Tatsache nahm ihr das Aussehen von Grausamkeit und Hohn an. Und sie hörte noch immer jenes Lachen aus der verwilderten Wirrnis schallen.
»Stelio!« ...
»Such' mich!« antwortete er lachend, unsichtbar.
Sie stürzte sich in den Irrwald, um ihn zu finden, und sie ging auf die Stimme des Lachens zu. Aber der Pfad wand sich, eine Mauer von starrendem Buchs erhob sich vor ihr und bannte sie, undurchdringlich. Sie folgte der trügerischen Windung; und Biegung folgte auf Biegung, und alle waren einander gleich, und das Im-Kreise-Gehen schien kein Ende mehr nehmen zu wollen.
»Such' mich!« wiederholte die Stimme von ferne.
»Wo bist du? Wo bist du? Siehst du mich?«
Sie suchte da und dort nach Lücken, um mit ihrem Blicke durchzudringen. Aber sie sah nichts als das vielfache Verschlungensein der Zweige. Die Buchse und die Hagebuchen wuchsen durcheinander, die immergrünen Blätter mischten sich mit den sterbenden, die dunkelfarbigen mit den blasseren, in einem Gegensatze von Kraft und Siechtum, in einem Doppelsinne, der das Entsetzen der keuchenden Frau noch vergrößerte.
»Ich verirre mich. Komm mir entgegen!« Von neuem scholl das junge Lachen im Dickicht.
Nun kam der Klang von der entgegengesetzten Seite ... Sie wandte sich, lief, ging im Kreise, versuchte die Wand zu durchdringen, schob das Laub auseinander, brach einen Ast. Doch sie sah nichts als das vielfältige und gleichförmige
Gewirr. Sie horchte, wartete; sie hörte ihr eigenes Keuchen und das Pochen ihrer Pulse.
»Stelio, wo bist du?«
Es wurde ihr keine Antwort. Sie wartete vergeblich. Die Augenblicke schienen Stunden.
»Wo bist du? Ich fürchte mich.«
Es wurde ihr keine Antwort.
Eine wütende Lust zu brüllen, zu schluchzen, sich zur Erde zu werfen, um sich zu schlagen, sich weh zu tun, zu sterben überkam die Rasende.
»Ich sehe dich!« sagte unversehens im Schatten unten die lachende Stimme ganz nahe. Mit einem Rucke beugte sie sich in den Schatten.
»Wo bist du?«
Er lachte in den Blättern, ohne sich zu zeigen, wie ein Faun im Hinterhalte. Das Spiel erregte ihn; seine Glieder wurden warm und lösten sich im Üben der Gewandtheit, und das waldwilde Geheimnis, die Berührung mit dem Boden, der Geruch des Herbstes, die Absonderlichkeit des unvorhergesehenen Abenteuers, die Fassungslosigkeit der Frau und die Gegenwart der steinernen Gottheit mischten in sein körperliches Vergnügen einen Schein von antiker Poesie.
»Wo bist du? O spiel' nicht mehr, lach' nicht so, es ist genug!«
Auf allen vieren hatte er sich in das Buschwerk geschlichen, mit bloßem Kopfe. Unter den Knien fühlte er die mürben Blätter, das weiche Moos, und wie er in den Zweigen atmete, sein Herz in ihnen schlug und ihm alle Dinge von diesem Genusse gefangen waren, wuchs sein Leben in engere Gemeinschaft mit dem Baumleben ... Nun verlangte es ihn nach einem Geschöpfe, das ihm gliche, nach einer frischen Brust, der er sein Lachen mitteilen könne, nach zwei flinken Beinen, zwei Armen zum Ringen bereit, nach einer Beute, sie an sich zu reißen, nach dem Bezwingen einer Jungfräulichkeit, dem Vollbringen einer Tat der Gewalt ...
»Genug! Ich kann nicht mehr, Stelio ... ich lasse mich zur Erde fallen.«
Die Foscarina stieß einen Schrei aus, da sie fühlte, wie eine Hand, die durch das Buschwerk kam, nach dem Saume ihres Kleides griff. Sie beugte sich nieder und erblickte im Schatten zwischen den Ästen das Gesicht des lachenden Fauns. Dieses Lachen stürzte sich auf ihre Seele, doch es riß sie nicht hin, es zerriß nicht die schaurige Qual, die sie einschnürte. Schärfer nur noch litt sie unter dem Gegensatze zwischen jener Fröhlichkeit und ihrer Traurigkeit, zwischen jener immer frischen Freude und ihrer unablässigen Unruhe, zwischen jenem leichten Vergessenkönnen und der Last ihrer Hemmnisse ...
»Laß mich, laß mich! Ich bin nicht die, die du suchst ...«
Ihre Stimme war so verwandelt, daß Stelio sein Lachen und sein Spiel abbrach; er zog den Arm zurück, er stand auf. Sie sah ihn nicht mehr. Die Zweigwand stand zwischen ihnen, undurchdringlich.
»Führ' mich hinaus! Ich kann nicht mehr, ich habe keine Kraft mehr ... ich leide.«
Er fand die Worte nicht, sie zur Ruhe zu bringen ...
»Warte, warte ein wenig! Ich will suchen, den Ausgang zu finden. Ich werde nach jemandem rufen ...«
»Gehst du fort?«
»Hab' keine Angst, hab' keine Angst! Es ist ja keine Gefahr.«
Und während er so sprach, fühlte er die Nichtigkeit dessen, was er sagte, den Gegensatz zwischen dem lächerlichen Abenteuer und dieser Erregung, die aus einer ganz anderen Ursache emporstieg.
»Geh nicht fort!« bat sie. »Vielleicht treffen wir schon an der Wegbiegung zusammen. Versuchen wir es. Nimm meine Hände.«
Durch eine Lücke im Laubwerk griff er nach ihren Händen, und es durchfuhr ihn, während er sie berührte, so kalt waren sie.
»Foscarina! Was hast du? Fühlst du dich wirklich schlecht? Wart', ich will versuchen, die Hecke zu durchbrechen.«
Er zwang sich in das Dickicht hinein, brach ein paar Äste, allein der Wirrwachs widerstand. Er riß sich unnütz wund.
»Es ist nicht möglich.«
Er schrie in die Stille.
»Laß mich gehen. Ich finde den Turm leicht, vom Turme werde ich rufen. Man wird die Rufe hören.«
»Nein, Nein.«
Sie hörte, wie er sich entfernte, folgte dem Geräusche der Schritte, wiederum fing sie der Irrwald, wieder war sie allein und verloren. Sie hielt ein. Sie horchte, horchte ...
»Stelio! Stelio!«
Anderer Anstrengungen, die Verwirrung ihrer erschöpften Nerven zu beherrschen, war sie nicht mehr fähig.
»Stelio!«
Er hörte die Angststimme und lief atemlos suchend durch die vielgewundenen Wege. Das Lachen war ihm im Herzen gefroren ...
»Hier bin ich, hier bin ich!«
Einer der Wege endlich öffnete sich auf den Platz, auf dem der Turm sich erhob. Er raste die Wendeltreppe empor ...
»Bleib stehen, bleib stehen! Lauf nicht so. Jemand hat mich gehört. Es kommt ein Mann. Warte! Bleib stehen!«
Er sah die Frau im Kreise dahinjagen, wie eine Irre über die wirren ausweglosen Pfade, wie ein zur Marter der Vergeblichkeit, zu einem sinnlosen ewigen Dahinjagen verdammtes Geschöpf.
»Bleib stehen!«
Es schien, als ob sie nicht verstehe oder als ob sie ihrer schicksalsvollen Unrast nicht Einhalt gebieten könne und als ob er ihr nicht helfen könne, aber als Zeuge dieser schrecklichen Marter dableiben müsse.
»Da ist er!«
Einer der Aufseher hatte die Rufe vernommen und war herangekommen. Sie gingen zusammen auf die Suche nach der Verirrten. Der Mann kannte das Geheimnis des Labyrinths ...
Es durchfuhr ihn, da er unversehens an einer Wegbiegung die geheimnisvolle Gestalt, das bleiche Gesicht auftauchen sah mit weiten und starren Augen, die Lippen hart aufeinandergepreßt ... Sie sprach nicht, sie antwortete nicht, als ob sie die Zähne nicht voneinander brächte, sie lag im Wagenfond hingestreckt, vom Mantel bis zum Kinne bedeckt, von Zeit zu Zeit durchliefen sie Schauder wie ein Sich-Aufbäumen, und sie war von einer Blässe wie der des Sumpffiebers überzogen. Ihr Freund nahm ihre Finger und hielt sie in den seinen, um sie zu erwärmen, vergeblich: sie waren reglos, sie schienen entseelt.
*
Von früh an hatten alle, die ihr nahegekommen waren, ihre Güte gerühmt, ihre Hilfsbereitschaft, ihre Opferwilligkeit. Aber alle die, die sie schenken, überströmend und verschwenderisch Gaben des Herzens hingeben gesehen hatten, wußten, daß diese ihre Güte ohne alle Vorsätzlichkeit war, daß sie aufglühte, wenn etwas Menschliches an sie rührte, daß sie ein Teil ihrer Natur war. Darum konnte dieses Herz, wenn es eine Menschennot empfand, so elementar aufgerüttelt, als gelte es, den Kampf mit feindlichen Schicksalen aufzunehmen, sein heißes Helfenwollen in diese anderen Leben tragen. Darum aber mußte Eleonora, wenn ihr Herz schwieg, sich abwenden. Das war die andere Seite ihrer Güte gewesen: die Unduldsamkeit. »Wo du nicht lieben kannst, sollst du vorübergehen!« Und wie, wenn die flammende Tropensonne untergegangen ist, schauernde Kälte sich erheben kann, so hatten die, die, den glühenden Reichtum dieses Lebens ahnend, sie vorübergehen gesehen hatten, sich durchschaudert gefühlt. Ja, sie war unduldsam gewesen, sie hatte nichts in ihrem Lebenskreise ertragen, was sie nicht mitleben konnte. Wie gewisse Parfüms ihr Übelkeiten bereiteten, ging es ihr mit Äußerungen menschlicher Kleinheit, mit Klatsch, Lüge und Unechtheit jeder Art: sie konnte nicht, und sie wandte sich ab. Und das war mit den Jahren immer noch stärker geworden. Sie, der das Theater lebenswichtig wie ein unerläßliches Organ ihres Körpers war, konnte immer weniger die Atmosphäre der Schauspieler, die nahe Wirklichkeit von Eitelkeit, Neid, Intrige und Unzuverlässigkeit, ja selbst kaum mehr ihre Sprache, in deren Worten und Tonfall sie die Rollen weiterhörte, ertragen. Und wo sie an Menschen die kleinste Unsauberkeit erlebte, eine Lüge, ein nicht gehaltenes Versprechen, wandte sie sich ab. Sie urteilte nicht, sie verstand Seelen und Motive, ja, wenn es sein konnte, gab und half sie abgewandten Herzens, nur in ihrem Atembereiche sollte alles das nicht sein. So sein zu dürfen, wie sie sein mußte, war ihr endlich als erworbenes Recht und als Endgültiges in ihrem Leben erschienen.
Aber für alles Menschliche, das nicht in übernommenen oder selbstgeschaffenen Formen erstarrt, das Natur bleibt, gibt es nichts Endgültiges. Und so mußte Eleonora Duse, da das, was sie als ihre Erfüllung gesehen hatte, nun von ihr Besitz ergriffen hatte, in der späten Schule der Leidenschaft erlernen, daß der ganz und gar Liebende zuletzt auch noch mit Dingen leben kann, die er vordem nicht ertragen hätte, ja, daß er sie gelten läßt und in der Liebe Namen auch noch zu den furchtbarsten Erfahrungen ja sagt. Denn wo das Herz lieben muß, seine letzte Liebe lieben muß, gibt es kein Vorübergehen mehr ...
Freilich gab es immer wieder Stunden, in denen Stolz und Erinnerung an das ganze Leben vorher nach Befreiung verlangten. Aber dann flüchtete sie, die gequälte Frau, in die Hoffnung, die sie als erstes an den Dichter gebunden hatte, in den Traum von seinem, von ihrem Theater. Und wenn alles, Liebe, Freundschaft, Blick und Wort und Zärtlichkeit sinnlos scheinen wollten, band sie das aufs neue, daß diese Dramen, die ihrer Kunst einen neuen Sinn geben sollten, nun wirklich entstanden. Nach dem ersten mehraktigen Drama, jener »Toten Stadt«, an der sie keinen Anteil hatte haben dürfen, war als zweites einer geplanten Reihe von vier einaktigen Dramen, den Träumen der Jahreszeiten, der »Traum eines Herbstsonnenunterganges« entstanden. Und dann folgten in einem Jahre die zwei Tragödien »Gioconda« und »Gloria«, Dichtungen, die, das Äußerste und Ungeheuerlichste der Wollust zu einer anderen Leidenschaft gesellend, das Theater der übermenschlichen Begierden begründen sollten.
Eleonora hatte für diese Dramen, deren Entstehen sie miterlebte, ein neues Ensemble geschaffen, da ihr das bisherige als ein unzulängliches Werkzeug gegenüber dem Neuen, Großen erscheinen wollte. Sie hatte sich mit Ermete Zacconi, dem gefeierten Tragöden, in dessen Kunst etwas von großem tragischen Stil war, zusammengetan, sicher, ihn mit ihrer Begeisterung hinreißen und mit ihrer eigenen Kunst auf den neuen Weg leiten zu können.
Mit allem in langem Warten genährten Schaffenshunger griff sie nun nach diesen Dramen, die groß sein mußten, weil sie mit aller Kraft der Verzweiflung an sie glaubte. Die Aufgabe war schwerer, als sie gedacht hatte. All ihr Theaterspielen seit zwanzig Jahren war ein nur von ihrem Herzen und ihrem Verstande geleitetes Gestalten der eigenen Vision von Rollen gewesen, selbstherrliches Schöpfertum, das das ganze Drama von dieser ihrer Figur aus durchdrang, das vor Kürzungen oder selbst Einfügungen nicht zurückscheute, wenn diese das Stück, wie sie es gemäß ihrer lebensheißen Anteilnahme verstand, eindringlicher machen konnten. Kein Regisseur und keine Regiebemerkung eines Autors hatten das Wirken ihres Gestaltenschaffens einengen dürfen. Wenn sie sich entschlossen hatte, ein Stück zu spielen, das heißt, wenn sie eine Gestalt samt ihrer Umwelt auf eine völlig zwingende Weise erlebt hatte, dann hatte sie es so lange vorbereitet, bis es ganz und gar ihr eigen geworden war, bis jedes Wort und jede Situation in die unmittelbarste, lebendigste Beziehung zu der von ihr erlebten Gestalt gesetzt waren. Ihre Regiebücher hatten davon Zeugnis abgelegt, wie sehr die von ihr gespielten Stücke von ihrem das Ganze durchdringenden Dichten erfüllt gewesen waren.
Und nun war das alles so anders geworden, wie das ganze Dasein anders geworden war. In der »Gioconda« sowohl wie in »Gloria« ist alles schon vorgeschrieben und festgelegt. Und wo Text und die üppigen Regiebemerkungen etwa noch die Möglichkeit einer persönlichen Auffassung gelassen hätten, wachte der jede Probe leitende Dichter darüber, daß auch nicht eine Linie seiner Zeichnung berührt werde. Sein Theater brauche zu der Kühnheit seiner Dichtung, die die höchste Kunstgestaltung des Eroberergeistes des neuen Herrenmenschentums sei, der Strenge, der Treue, der Gebundenheit des antiken Theaters. In seinen Tragödien dürfe es keinen Raum für die Willkür des Schauspielers mehr geben, nur noch seinen Schöpferwillen, der diese Leidenschaften in Gestalten und Geschicke gebändigt habe.
Und Eleonora unterwarf auch ihr Schaffen diesem Willen. Sie gehorchte, wenn er, oft unmutig, ihre Geste unterbrach, Stillstehn forderte, wo sie gehen wollte, oder den Tonfall eines Wortes änderte; sie ließ aus der Unendlichkeit ihres Könnens Stück um Stück die Gestalt aufbauen, marterte ihr Hirn, das Vorgeschriebene zu behalten, und ihre Seele, das Eingelernte zu beleben – und ihre Liebe war so stark und ihr Glaube so groß, daß ihr auch das gelang und die Glaubensglut ihrer Seele dieses Mosaik zur lebendigen Gestalt zusammenglühte.
Sie arbeitete, wie sie nie zuvor gearbeitet hatte. Sie verschwendete ihre Kräfte und ihr Besitztum, um über ihr eigenes Spiel hinaus diesen Dramen äußere Rahmen zu schaffen, die ihrer würdig wären. Sie behielt ihr altes Ensemble weiter, nachdem sie schon mit Zacconi das neue gebildet hatte, sie verwandte Monate auf die Einstudierung und Unsummen für die Ausstattung. Und dann kamen endlich die Aufführungen. Und sie, der die ganze Welt zugejubelt hatte, lernte jetzt in ihrer Heimat die eisige Luft der Ablehnung, die einem den Atem lähmen will, das Heulen, Hohnrufen, Pfeifen und Toben, lernte alle lautesten und bösesten Formen des Mißerfolges kennen. Sie bezwang ihr Herz, sie zieh all diese Pfeifenden und »Abbasso«-Rufenden, alle die Journalisten, die nun mit Hohn und Schmähungen nicht sparten, der Torheit, der Kunstfeindlichkeit, und sie klagte sich selber an, zu matt gespielt zu haben. Und in all dem sie Engenden und Einschnürenden machte sie verzweifelte Anstrengungen, besser, eindringlicher, überzeugender zu spielen. Sie fühlte sich ihm gegenüber schuldig, weil es ihr nicht gelang, diese Dramen zu dem Triumphe zu führen, der ihnen bestimmt sein mußte, und als ein neues Schwert drang diese Qual in ihr Herz ein. Sie gingen in andere Städte Italiens. In manchen dämpfte die Macht ihres Ruhms den Mißerfolg, in anderen, wie in Neapel, wo sie zwanzig Jahre zuvor als eine Liebende ihre Kunst in sich aufblühen gefühlt hatte, vermochte all ihre reife Kunst und ihr liebendes Wollen einen abscheulichen Theaterskandal, wie sie ihn mit aller ihrer Theatererfahrung nicht für möglich gehalten hatte, nicht zu verhindern.
Da ging sie wieder ins Ausland, in die Fremde, die nun wieder Weltheimat hieß, da es darum ging, die ganze Liebe und Verehrung, die sie selber erworben hatte und nun in den unendlich vielen Herzen der anderen Völker treuer bewahrt glaubte als in den blutsverwandten, ihm zu erobern. Und wirklich schienen die fremden Länder ihr besser die Treue zu halten als Italien. War auch zuweilen an Stelle der schrankenlosen Hingerissenheit von ehedem nun etwas zuviel Respekt im Beifalle (was ihr besonders in Wien fühlbar wurde), es gab doch Beifall, Hervorrufe, die auch dem Dichter gelten konnten, und es gab Kritiken (nie hatte sie sich um Kritiken so bekümmert wie jetzt!), in denen Ahnung von seiner Sendung zu lesen sein konnte. Und wenn gar in einer Stadt der Jubel sie umbrandete wie ehedem, brachte sie ihn ihm dar, und eine Wunde ihres Herzens brannte für ein paar Tage nicht mehr – und das war fast wie Glück.
Und zuweilen erwachte dann, wenn Völker sie wie ihre Beherrscherin zu grüßen schienen und deren rechtmäßige Herrscher selber ihr huldigten und wenn von der Bühne her die Frau in einer anderen Wirklichkeit ihn entzündet hatte, auch die Leidenschaft des Dichters wieder – und dann waren der beinahe schon Verzichtenden Tage gegeben (wie in dem von ihr neueroberten Athen), um die sie willig jedes Leiden der Welt, das sie hätte aussinnen können, auf sich genommen hätte, so daß sie endlich um derentwillen und um ihres Glaubens an die Sendung des Geliebten willen sogar noch dieses grausigste Leiden, das ihrer gerade nach den Tagen dieses kurzen Glücks wartete, auf sich nahm.
Der Dichter hatte in diesem Jahre – es war das erste des neuen Jahrhunderts – an einem Werke gearbeitet, von dem er ihr nichts anderes mitgeteilt hatte, als daß es ein Roman sei und daß es darin um ihnen gemeinsame Dinge und um die Genesis des neuen Dramas ginge. Und dann gab in Athen d'Annunzio eines Tages Schurmann Traversi, S. 200, 201. ein Manuskript, daß er es sogleich lese und seine Meinung darüber äußere. Kaum hatte dieser es gelesen, eilte er zu Eleonora Duse und sagte ihr, er habe diesen Roman »Il fuoco« gelesen – es sei völlig unmöglich, daß dieses Buch an die Öffentlichkeit gelange. Wenn sie damit einverstanden sei, wolle er sogleich zu d'Annunzio gehen und ihm das sagen, denn er sei zu allem entschlossen, um eine so wenig schöne Handlung zu verhindern. Eleonora war verwirrt und erregt – sie dankte Schurmann, aber sie sagte nichts weiter (so daß er glauben mußte, sie habe von dem Inhalte des Buches nicht Kenntnis). Doch kaum war der Impresario in sein Hotel zurückgekehrt, da wurde ihm ein Billett von Eleonora übergeben. Sie schrieb:
»Es ist noch nicht lange her, daß ich Ihnen nicht die Wahrheit gesagt habe; ich kenne den Roman – und ich habe seiner Drucklegung zugestimmt, denn all mein Leiden, wie groß es auch sei, zählt nicht, da es darum geht, der italienischen Literatur ein Meisterwerk mehr zu geben.
Und dann ... ich bin vierzig Jahre alt – und ich liebe.«
Was zwischen dem Augenblick, da sie, die Verschwiegenste, die Lektüre dieses Manuskriptes beendet hatte, das die scheuest verhehlten Geheimnisse ihres Frauendaseins den Menschen preisgeben wollte, und diesem Briefe in ihr vorgegangen ist? Berichte erzählen, daß sie den Geliebten beschworen habe, von der Veröffentlichung abzustehen, andere, daß sie dem Verleger, der den Roman herausgeben sollte, eine hohe Summe geboten habe ... dann gibt es einen Brief, der sagt, daß sie sich wie nackt unter die Menschen getrieben und alle schamlosen Blicke der Welt auf sich gerichtet fühle. Aber dann hebt das Mysterium der letzten Leidenschaft und des opfersüchtigsten Glaubens an, das ein ganzes Leben voll stolzer Schamhaftigkeit vernichten mußte, ehe dieser Brief und bald hernach ein ähnlich lautendes Telegramm an einen Mann, der diese Zurschaustellung ihres geheimsten Lebens in eine andere Sprache übersetzen wollte, geschrieben werden und ehe es geschehen konnte, daß sie sich nicht davor in der verkrochensten Einsamkeit der Welt oder im Tode verbarg.
Das Buch erschien –, und die Märe, daß es das verborgene Leben der »großen Liebenden«, die in ihren Gestalten die Wunder ihres Blutes und ihrer Seele der Welt vorgelebt hatte, erzähle, eilte ihm in alle Länder voraus und bereitete ihm den Weg. Und wohin noch kein anderes Werk des Dichters gedrungen war, trugen die Flügel eines großen Ruhms und dessen geschäftige Helfershelfer, Klatsch und lüsterne Neugier, nun dieses zweifelhafteste Werk seines Ingeniums und mit ihm die grausame Wahrheit und die noch grausamere Entstellung der großen und letzten Leidenschaft Eleonora Duses.
Die Getreuen in aller Welt, die vertrauten wie die ihr unbekannten, da das Buch in ihren Händen war und sie neben all dem furchtbar wahrscheinlichen Geheimen dieser Liebe das sicher Unwahre von den vielen Liebhabern, die sie vorher gehabt hätte, und das noch Unwahrscheinlichere, daß sie, die Gestalterin aller ewigen Jugend der Leidenschaften, eine alte Frau sein solle, gelesen hatten, hofften, daß die Verehrte, Bewunderte, Geliebte nunmehr durch Leiden und Scham von ihrer Liebe zu dem Dichter »geheilt« sei und zu sich selber zurückfinden würde. Aber sie verstanden darunter, daß sie wieder so sein würde, wie sie vorher gewesen war, und sie verstanden die Zeichen nicht zu deuten, die sagten, daß hier eine Wesenheit, »die nach Flammentod sich sehnet«, brennend und beinahe schon verbrannt von allem Gestern und Ehedem fortwuchs, der letzten Glutenstunde entgegen, die entscheiden würde, ob Leib und Seele zu Asche zerfallen oder ob aus dem letzten Aufflackern geläutert eine verwandelte Flamme weiterleuchten würde.
Sie hatte gemeint, alle Leiden der Welt zu ahnen – und nun war ihr eines widerfahren, das furchtbarer, schmählicher und vergiftender als alle Qualen ihrer Ahnung war, das sich wie Frostbrand auf alle Träume und Hoffnungen legen wollte. Aber mochte sie auch vor der Welt ein altes, brünstiges Weib geworden sein, das mit seinen welkenden Reizen den jungen Geliebten vergeblich zu umstricken sucht, mochte die Lächerlichkeit ihrer zur Schau gestellten Liebe sich über ihr lebenslang treulich getanes Werk breiten – sie durfte das letzte Beginnen ihrer Sehnsucht und ihres Glaubens nicht lassen. Sie hatte nach Erfüllung, nicht nach Glück verlangt, da sie diesen Weg beschritten hatte. Und sie hatte jetzt so wenig wie im Ausbrechen ihrer Leidenschaft die Wahl. Sie hatte vorher gewählt – und nun galt es, der verheißenen Erfüllung entgegenzugehen, indem sie ihrer Liebe und ihrem Glauben gehorchte. Und zu diesem Schicksalsgehorsam mußte es wohl auch gehören, daß auch noch diesem Grausigen, Entehrenden, den letzten Stolz Zertretenden ein Platz in der Liebe gefunden werde. Und sie fand ihn. Und die Freunde wagten nicht Wort noch Wunsch mehr, da sie jetzt das undurchdringlich gewordene Schicksalslächeln auf dem noch einmal alterslosen Antlitze der Leidenschaft, die alles Opfer gebracht hat, empfing.
Und sie blieb bei ihm. Sie zog weiter durch die Städte Italiens und der fremden Länder und spielte vor den Häusern voll Menschen, die nun alle um ihre Liebe und ihre Qualen wußten, seine Stücke, sie kehrte zu kurzem Rasten in die Porziuncola zurück, wartete, sah ihn, war wieder verlassen und begann aufs neue den Weg in seinem Dienste. Zarteste Güte der Freunde war um sie – aber sie hatte Angst, sprechen zu müssen, sie wußte nun so viel vom Worte, und sie wußte vor allem, daß, was ihr nun geschah, allein getragen und getan werden müsse wie das Sterben. Ja, es tat wohl, eine Freundeshand zu fühlen, eine vertraute Stimme von einem anderen Leben erzählen zu hören, in dem all das noch galt, was einmal auch in ihrem gegolten hatte. Es war wie die Leidenspausen, die auch den Unheilbaren gewährt sind, wenn Gemma Ferruggia zu ihr kam und sie mit ihr lachen durfte und sogar Pläne versuchte, als ob das alles nicht wäre, wenn sie Matilde Serao sah und mit ihr von den Menschen und Dingen anderer Jahre sprach oder wenn Adolfo de Bosis ihr von sich erzählte, ihr Gedichte vorlas und sie in dieses stolze, tapfere Leben hineinsehen durfte. Manchmal freilich kam ein Brief wie ein Hilfeschrei zu den Freunden, oder sie selber pochte nachts oder frühmorgens an ihre Tür, vom Bahnhofe kommend, verstört, wie auf der Flucht. Sie kam, um zu sprechen, alles, was sie würgte, zu sagen – und dann redete sie doch nicht, denn in der scharfen Helle der Wortwerdung sah sie, wie furchtbar einfach das alles war; die alternde Frau, die liebt und zittert, den Geliebten zu verlieren, und der Dichter, von seiner Aufgabe besessen, gierig nach allem, was sein Werk nährt, der die große Schauspielerin braucht und die Frau, die er geliebt hatte, so sehr es in seinem Ich-All Liebe zu geben vermochte, welken sieht; die Liebende, die ihm alles, alles geben möchte und ihm doch das, was er von der Frau vor allem fordern muß, Jugend und Schönheit, nicht geben kann. Ja, das war alles so einfach, so rettungslos einfach. Was hätte sie erzählen sollen? Daß der eine Mensch so ist und der andere anders und daß aus diesem Sosein und Anderssein Qual werden kann? Und wenn sie erzählte, würde der Freund Partei ergreifen, sagen, daß der Geliebte sie mißbrauche. Und sie würde nicht erklären können, warum sie ihm dienen müsse, warum sie ihm selbst jenes Buch hatte vergeben müssen – sie würde nur sagen können, daß sie ihn liebe und daß er der große herrliche Dichter sei: und sie würden diese ihre Liebe so wenig begreifen können, wie sie seine Größe verstanden, die ja nur sie, nur sie wußte, die hineingehorcht hatte unter das Beirrende von Eigenschaften, Ichlichkeit und Begierden und die Urstimmen einer neuwerdenden Welt vernommen hatte. Und sie schluchzte auf, griff nach der Freundeshand und schwieg.
Sie kannte Verse, Bruchstücke, Gedichte seiner nach jahrelangem Schweigen neuerwachten Lyrik, sie fühlte das Gären, die Spannung, die Wildheit der gestaltsuchenden Kräfte in ihm, sie sah ihn immer öfter die Einsamkeit suchen, und wenn er wiederkam und Hunderte und Aberhunderte von Versen brachte, in denen jedes Wort voll Farbe, voll großer Musik der Erde und des Blutes, voll der unaussprechlichen Herrlichkeit neuer Menschenerde war, wußte sie, daß Großes geschehe, daß Italien ein Gesang gesungen werde, wie er seit den Tagen Dante Alighieris nicht mehr geschaffen worden war. Und sie vergaß für Stunden, für Tage, daß sie eine traurige gequälte Frau war, und ging in die Landschaften und Gestalten dieser Verse hinein wie der chinesische Maler der Sage in sein Bild. Und sie empfand von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, wie die Inbrunst dieses gewaltigen, sich formenden Gedichtes wuchs, wie es die italische Erde in alle Zeiten zurück überströmte und wie er, der Geliebte, der Dichter, die Mythen und Legenden, die ferne und nahe Menschengeschichte und alle Geschicke der italischen Länder wirklichsang.
Er hatte in dem grausigen Buche, in dem sie und ihre Liebe am glorreichen Pranger stand, die Wiedergeburt der antiken Tragödie aus seiner Gnade verheißen. Nun war er ganz seinen Gesängen verfallen – doch sie vertraute jetzt mehr noch seiner Verheißung. Aus diesen Versen, die nun eine Vita Nuova der italienischen Seele zu gestalten sich anschickten, mußte die neue Tragödie wachsen, die die Jahrtausende überdauern würde wie die Mauern von Mykenä.
Und dies Gefühl, daß jetzt die Zeit stärksten dramatischen Schaffens für ihn anbräche, hatte sie nicht getrügt. In diesen Jahren, die die größten des Schöpferlebens ihres Dichters waren, in denen er die vielen tausend Verse schrieb, die zu den »Laudi«, dem sinnensüßesten und majestätischesten Gesange der neuen italienischen Welt wurden, erfüllte er auch die Verheißung der Tragödie, zu der sein bisheriges Theater nur Vorspiel gewesen war. Er schuf, von Dante, den er in seiner großen Ode besungen hatte und dem er sich auf dem Wege zur Epopöe des neuen italischen Imperiums brüderlich nahe fühlte, beschenkt, die Tragödie der Francesca da Rimini, die prunkendst funkelndsten tragischen Verse, die je auf einer italienischen Bühne erklungen sind, das »Gedicht vom Blute und der Wollust«, wie er sein Drama nannte.
Mit der Demut der zu reich Beschenkten nahm Eleonora die »Francesca da Rimini« entgegen. Ein altes süßes Glühen glomm unter der Begeisterung über die Schönheit dieser Verse auf: sie fühlte die Gestalt, ihr von Liebe und Trauer dunkles Blut ging wieder hell und eifervoll und trug das Gefühl von der empfangenen Gestalt zu jeder Stelle ihres Leibes, bis sie die Francesca da Rimini war, so sehr und so lebensgroß war, daß keine Beschränkung, kein Gebot des Dichters sie mehr zu beirren vermochte. Sie hatte gemeint, für seine früheren Dramen alles getan zu haben; jetzt wußte sie, daß sie noch mehr tun könne. Schnell wie nie in ihrer Jugend hatte sie die vielen Verse mit den fremden alten Worten gelernt, wunderbar schnell hatte sie all seine Weisungen und Vorschriften mit ihrem Gefühl angefüllt – und nun begann sie ihr überströmendes Tun der anderen Vorbereitung. Sie hatte ihr Leben lang schlicht und nur mit dem Notwendigsten an äußeren Mitteln gespielt: aber das war ihr Theater gewesen, das waren die Stücke gewesen, die sie als ihr Eigen betrachtet hatte. Nun aber war sein Theater Wirklichkeit geworden, sie durfte ihm dienen – und so mußte sein Gesetz gelten. Und wie sie in jenen fernen Anfangszeiten ihrer Liebe das Treppenhaus, das zu ihrer Wohnung in Venedig führte, mit dem roten Stoffe verkleidet hatte, weil er es durchschreiten sollte, wie sie, als sie ihn in Bologna erwartete, Stiegen und Korridore ihres Hotels, ihn festlich zu empfangen, ganz mit weißen Rosen geschmückt hatte, so bereitete sie sich nun, das Wirklichwerden dieser Tragödie mit all der Pracht und Schönheit zu begehen, die er und sein Werk verlangten. Kostümhistoriker, Zeichner, Händler mit alten Stoffen und Geräten wirbelten durcheinander, edelste Samte, Waffen und Rüstungen, Möbel und Schmuck wurden aus ganz Italien zusammengetragen. Es sollte keine Schnalle, kein Schmuckstück auf der Bühne sein, die nicht im schönsten Sinne dugentesk wären, kein Ding, das nicht aus edelstem Stoffe wäre. Kindlich beglückt gab sie Vermögen hin, um dieses Bühnenbild, von dem man erzählte, daß selbst die Schuhschnallen der Komparsen aus echten Steinen gewesen seien, zu erreichen.
In Rom wurde die »Francesca da Rimini« dann gespielt. Und dieselben Menschen, die ein Jahr später die Verse der »Laudi«, die Oden auf die großen Toten Italiens wie die beseelten Naturgedichte einander in allen Feierstunden vorsprachen, empörten sich wider die wunderbar gewandete Tragödie der Wollust und Grausamkeit – und da diesmal keine Königin Einhalt gebot, wurde diese Erstaufführung beinahe ein solches Bacchanal haßvollen Höhnens wie jene der »Gloria« damals in Neapel. Das hatte sie nicht erwartet. Es war schmerzlich genug, daß sie in dieser Stadt, die sie verherrlicht hatte, nun den Schmährufen und Pfiffen standhalten mußte, aber es war unerträglich, daß ihm und diesem Drama solches widerfuhr. Nie noch hatte sie einem Publikum wirklich gegrollt, jetzt aber war ihr Herz voll Zorns, und sie konnte den Augenblick nicht erwarten, da sie den Triumph dieses großen Dichterwerkes im Auslande der Heimat entgegenhalten könnte. Sie brach bald auf. Nun hatte sie reichen Dienst zu tun, denn jetzt durfte sie auch die »Tote Stadt« spielen, die ihr endlich gewährt worden war. Mit diesem Drama und der »Gioconda« hatte sie es leichter in den fremden Ländern. Die Prosasprache, einfacherer und eindringlicherer Ausdruck der Handlung, wurde schneller und natürlicher verstanden als die groß hinrollenden Verse der Francesca, in deren Schönheit sich allzuoft das Geschehen verzögerte und die dann wie Brokatschimmer, Funkeln alter Edelsteine und Aufblinken von Schwertern und Harnischen vor Blinden waren, wenn die Ereignisse der Bühne dem Klang der unbekannten Sprache keinen Sinn gaben. Aber es war Eleonora Duse, die das tragierte, die »Kaiserin der Seelen«, und es war ihr Dichter, den sie ihren Untertanen verkündigte – und diese verehrten, auch wo sie nicht verstanden. Hohe heilige Kunst rührte durch sie auch aus diesem Gebilde an ihr Leben, und sie neigten sich, stiller vielleicht als vordem, vor den leidenstiefen Schöpfungen ihrer Seele, und um ihr Schicksal wissend, huldigten sie der letzten Schönheit der Frau und den abendrot brennenden Gestalten dessen, den sie liebte.
Der unter ihren Kritikern, der ihr Wegbereiter in die Länder der Welt gewesen war, Hermann Bahr, hat damals in Zeilen voll tiefsten Mitlebens ausgesprochen, wie die Hellhörigsten und Verehrendsten unter ihren Zuhörern dieser Zeit ihr Wiederkommen empfanden: »Sie ist vor d'Annunzio die größte Schauspielerin der Welt gewesen, sie hat ihn nicht gebraucht, sie wäre künstlerisch auch ohne ihn, was sie ist. Aber menschlich ist sie uns durch ihren Glauben an ihn, durch ihre Treue, durch ihren fanatischen Trotz gegen alle kleinmütigen Warner und Zweifler unendlich teuer und rührend geworden; und was sie für ihn getan hat, sichert ihr allein eine edlere Unsterblichkeit zu, als sonst ihrem Stande vergönnt ist. Sie mag das wohl selbst fühlen, und aus dieser Empfindung strahlt über sie, wenn sie seine Gestalten spielt, ein Schimmer und ein Glanz herab, den sie sonst nicht hat. Ihrer Kunst scheinen Flügel zu wachsen, und sie schwingt sich in eine so helle Region des Geistes auf, daß uns fast beklommen froh wird, wie in der atemlosen Seligkeit auf hohen Bergen. Ihre unglaubliche Gewalt, Güte und Hingebung des liebenden Weibes fast fieberhaft darzustellen, erreicht in der Francesca den letzten Grad. Wie sie uns von der bangen Scham der erregten Jungfrau und ihrer lieblichen Verwirrung, da sie den schönen Jüngling erblickt, über den Zorn verwundeten Stolzes durch die Trunkenheit der Lust, lauernde Angst und Ahnung bedrohter Träume und den trotzigen Genuß der Gefahr bis in das Rasen der letzten Leidenschaft führt, die schon den Atem des Todes im Nacken fühlt, das können die armen Worte keiner menschlichen Sprache sagen ...«
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Schurmann, der sie durch Jahre von Triumph zu Triumph geführt hat, konnte nicht wie die Freunde stumm mitansehen, wie Italien von ihr abfiel, das Ausland immer kühler zu werden drohte, die Einnahmen dahinschrumpften, während der Aufwand für die Erhaltung der großen und kostspieligen Truppe und die prunkhaften Aufführungen die Millionen, die er ihr erwerben geholfen hatte, aufzehrte. Er widersetzte sich, er sprach als Freund, als Wahrer ihrer Interessen, er bat, beschwor, warnte vor der Vergeßlichkeit des Publikums – sie aber verlangte es, je mehr der Dichter sich von ihr entfernte, immer inbrünstiger nach opfervollem Dienst. Und so spielte sie endlich fast nur noch seine Dramen. Und als dann eines Tages Schurmann mit aller Energie darauf drang, sie möge »endlich Vernunft annehmen« und sich zu einem Repertoire entschließen, das nicht alle Welt verdrieße und ihren Ruhm bedrohe, schrieb sie ihm: »Vous avez probablement raison, mais j'aime. Entre le cœur et la raison, le choix s'impose. Je suis le Cœur.«
Wohl fehlte ihr Schurmann, als sie sich dann getrennt hatten, sie vermißte den braven »Bärenführer«, der so treulich über sie gewacht und ihr alles abzunehmen getrachtet hatte, was sie hätte in ihrer Arbeit stören können, aber sie hatte ja nicht anders gekonnt. Er hatte übrigens recht gehabt: das Geld schmolz dahin, es galt, neues zu erwerben. Sie mußte wieder nach Amerika. Und in demselben Jahre, in dem des Dichters höchstes Werk, die »Laudi del Cielo, del Mare, della Terra e degli Eroi« erschien, brach sie zum dritten Male nach den Vereinigten Staaten auf, diesmal, um hier seine Stücke zu spielen. Es war ein verzweifeltes Bemühen: die Theater, die sich zur ersten Vorstellung durch die Magie ihres Namens gefüllt hatten wie ehedem, waren bei der zweiten schon halb leer. Die Mieten waren ihrem Ruhme entsprechend ungeheuer, und ihnen entsprachen alle anderen Ausgaben – und die Erträge waren so kümmerlich, daß sie eben die Kosten deckten. Die glücklichsten Augenblicke dieser Tournee waren für Eleonora die, da sie Tag für Tag telegraphisch die Tantiemen der Aufführungen seiner Stücke, bemessen, als ob sie vor vollen Theatern gespielt worden wären, an den Dichter senden ließ.
Der Versuch war mißglückt. Andere mußten unternommen werden. Fieber der Wanderschaft war wieder in ihr, Flucht, uraltvertraute Unrast, bitterer nun der Hoffnungslosen. Ihr neuer Impresario, ein Mann ganz anderer Art als Schurmann, A. F. Lugné-Poe, ein Intellektueller, feinnervigster Literatur- und Theaterkenner (der das wagemutigste Pariser Theater, L'œuvre, geschaffen hatte), bereitete ihr neue Tourneen in den ihr noch unvertrauteren Ländern Europas vor. Und sie wollte wieder »umherziehen von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel, von Theater zu Theater«, ihre Müdigkeit niederzwingen und arbeiten, für ihn arbeiten, und nur wiederkommen, wenn sie ihm unterworfene Länder und die Kunde von ungeheuren Triumphen, die sie seinem Werke erworben habe, bringen könne. Und ihr Glück sollte sein, wenn er stolz lächelte und die Macht und die Reichtümer, die sie ihm erwarb, ihm sorgenloses, immer höheres Schaffen und die Freuden der Welt, deren er bedurfte, sicherten. Nur so, beinahe wie von ferne, wollte sie noch sein bleiben dürfen, nur ihm helfen und ihn lieben dürfen. Beinahe wie eine Mutter versuchte sie zuweilen zu denken, aber dann fuhr ihr Herz auf, und sie wußte, daß sie auch noch in dieser letzten demütigsten Gestalt der Liebe die liebende Frau bleiben müsse.
Brauchte er sie denn nicht? Sie zwang sich mit aller Kraft zu diesem letzten Glauben ihrer Liebe, daß er sie brauche, noch brauche. Sie wollte nicht sehen, daß jetzt neuer höherer Ruhm um ihn wuchs, seit die Stimmen der »Laudi« durch ganz Italien klangen. Sie wollte nicht sehen, wie stark er war, wie sehr er zu leben verstand, wie er Menschen und Geschehnisse stets zu seinem Dienste zu zwingen wissen würde. Damit, daß er sie brauche, wollte sie vor sich selber rechtfertigen, daß sie es nicht vermöchte, ihm nun die Worte zu sagen, die sie vor Jahren schon einmal ausgesprochen und die er aufgezeichnet hatte: »... Früher schien es mir, daß ich für dich die allerdemütigsten und allerhöchsten Dinge hätte tun können, und jetzt scheint es mir, daß ich für dich nur noch eines tun kann: fortgehen, verschwinden, dich frei deinem Geschicke überlassen ...«
Sie hatte von ihrem großen Theater geträumt. Nun spielte sie das seine, und sie glaubte mit verzweifelter Inbrunst an seine dichterische Sendung. Aber der Traum war fort. Es ging nicht mehr um sie. Sie war im schmerzumwachsenen letzten Winkel der Liebe geborgen, und wenn er sie nur da lassen und sie weiter brauchen wollte, würde sie nicht mehr nach sich fragen und eine rechte Dienerin sein. Sie wollte ihm beweisen, daß die Frau, deren Frauentum er schon vergessen hatte, noch immer gewaltige Kräfte der Jugend in sich trage, daß sie mit ihrer abendlichen Schönheit, die er nicht mehr sah, noch immer die Welt berücken könne, daß man ihr wieder zujubeln würde wie ehedem, daß sie wieder Millionen heimbringen könne. Nur müsse er ihr ihren Winkel in der Liebe lassen, ihr bißchen arme Glut, daß sie daran die Fackeln ihrer Kunst entzünden könne. Nur dies, nur dies noch ... Was focht es sie an, daß man ihr, um sie zu »heilen«, Geschichten von den anderen Frauen zutrug, mit denen er sich zeigte, von grausamen Äußerungen, die klangen, als ob sie nicht mehr zu ihm gehörte? Mochten diese Dornenstiche auch schwären, was machte das ihr aus, die jenes Buch nicht zu töten vermocht hatte? Da er der Welt von ihrer beider Geheimnis erzählt hatte, mochte er nun auch seinen Geliebten davon erzählen, mochten sie die grauhaarige Liebende verlachen – ihr galt es gleich. Alles war ja verbrannt, Trümmerstätte, schauerliche Öde im Flackern des kleinen Lichtes, an dem sie ihre Müdigkeit wärmte und vor dem sie ihr Priesteramt dienender Liebe verrichtete. Nur dieses noch sollte ihr das Schicksal lassen, nur dieses noch!
Aber auch dieses war nicht gewährt. Noch mußte sie, die Königliche und Glorreiche, unter deren Ruhmeskrone nun auch schon das gemeine Volk die Blutstropfen des Dornenkranzes sah, gestoßen, gezerrt, stürzend den letzten Schritt aus allem sehnsuchtsüßen Leben, von aller Habe langer Wanderschaft fort, aus jedem Hoffen und Wissen fort abwärts tun, den Schritt, in dessen Augenblicksdauer die Welt eines ungeheuren Lebens ihren Sinn verliert und vergeht.
Ein Herz wie dieses kann nicht in einem Tode sterben. Aus den vielen Todesstunden ihres Leibes und ihrer vergehenssüchtigen Gestalten war schon eine solche Erfahrung von Tod in ihr, daß sie ihr all ihren Glauben, die große Hilfe der Jahreszeiten der Erde und die unverwelklich scheinende Blüte ihres in Verlangen und Leiden glühenden Blutes hatte entgegenhalten müssen, damit in den Stunden ihrer Müdigkeit nicht schon genug Tod zu ganzem Sterben in ihr wäre. Aber nun trat die Stunde an sie heran, da ihr auch noch zu glauben verwehrt wurde, da ihr Blühen Herbstzeitlose war und alle Jahreszeiten der Erde nur mehr Herbst, Welke und Verfall heißen sollten. Es kam die Sterbestunde, vor der sie ölbergbange gezittert hatte und die sie doch aus ihrer Todbereitschaft und mit ihrem durch alle täuschungerflehende Liebe unbeirrbaren Wissen um den Geliebten als unabwendbar geahnt hatte. Als sie ihn dieses letzte Mal als die Liebende, die sich trotz allem hatte noch die Geliebte nennen dürfen, wiedersah, war die weiße Helle eines blanken klaren Sterbezimmers in ihr – und ehe sie jenen letzten Schritt aus allem, was sie wußte, fort tat, erkannte sie, verstand sie, als ob sie schon nicht mehr wäre, wie das Furchtbare, das in dieser Stunde geschah, in der Wirklichkeit des anderen Menschen sein mußte: so lebens- und todestief verstand sie das ihr Geschehende, daß sie auch kein Wort mehr sprach, das wie eine Anrufung der zusammen gelebten Jahre hätte sein können. Kannte sie ihn denn nicht ein ganzes Frauenleben lang? Und kannte sie nicht die Gestalten seines unstillbaren Begehrens, die er alle, alle noch leben mußte? Konnte es Mitleben eines anderen Lebens bei dem Condottiere, dem Eroberer geben, der von dem rötlich funkelnden Stern geleitet seinen Weg ging und nach den Leibern und Seelen griff, die ihm nahten, und sie festhielt, solange sie ihn wärmten, ihm Lust gaben, ihm dienten? Sie wußte nun auch noch das, daß ihr Dienst in seinem Geschicke wohl ein einzigartiger gewesen sei, daß aber auch die Zeit des Dienens um sei und daß Andere nun an ihre Stelle treten würden. Und da sie ihn, der nun auch das vierzigste Jahr seines Lebens überschritten hatte, so bürdelos, als hätte das Leben noch nicht angefangen, vor sich sah, verstand sie auch noch dies, daß selbst der Trost, daß er ihrer gedenken werde, ihr nicht gewährt sei. Denn was ist gewesene Zeit, und sei sie auch ungeheuer gewesen, dem, dessen Verlangen selbst über jede Gegenwart hinaus verliebt nach dem Künftigen greift? Was soll dem Unersättlichen, dem Unstillbaren Erinnerung? Und dann, was sollte ihr selber jetzt noch ein Trost? Wenn er durch diese Tür da hinaustreten, sie hinter sich schließen würde ... Oh, wer in der Stunde des Absterbens ein Gebet weiß ... Nein, er darf den Blick nicht sehen, die Hände, die er geliebt hatte und die nun nach der letzten Gabe an ihn greifen, sollen nicht zittern! Nun würde er hinausgehen, wie er es gesungen hatte:
Va, va, o Nave, secura oltre tutte le Sirti
...
Dove, fuor d'ogni giogo e fuor d'ogni vincolo, ognuno
Espande il poter che in sé chiude;
Dove ognuno in se stesso è sovrano,
Ha in sé stesso le sue leggi,
Ha in sé la sua forza e il suo sogno ...
Der letzte Liebesblick sah in den hellen Augen die furchtbar blauenden Fernen, das Meer, das auch ihr Verheißung gewesen war und das sie nun ausstieß wie eine tote Trift. Und sie holte aus ihrer letzten Kraft ein Lächeln, breitete es über ihren Todeskampf – und reichte ihm mit den totenhaft weißen Händen, die dennoch nicht zitterten, ihre Gabe, den schönen Kompaß. Und dann ging er aus dieser Türe, und die Tür schloß sich hinter ihm.
»Asche ... Asche ... Asche ... vor den Augen, auf den Lippen, in der hohlen Hand.« Cenere ... cenere ... cenere ... davanti agli occhi: su le labbra: nel cavo delle mani ... Ihre Worte.
*