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Die Begegnung

Viele nahen sich dem Lichte eines großen Ruhmes. Viele suchen den Menschen, dem solche Magie gegeben ist, nicht nur die Schwachen und Beladenen; auch nicht wenige von denen, die ihr Werk aus den Massen hervorhob, die dunkel durch die Zeit gehen, haben Eleonora Duses Weg gekreuzt. Meist waren ihr nur allzu flüchtige Begegnungen gegönnt, dennoch aber verstand ihr Verlangen, das Große im Menschen zu fühlen, oft aus einem Worte, einem Blicke oder einer einzigartigen Gebärde, die ein anderer kaum wahrgenommen hätte, das Außerordentliche abzulesen. Wie viele waren in ihren Lebenskreis getreten! Die nur berühmt waren, deren Menschliches hinter dem Ruhme geworden war wie die Fliege im Bernstein, derer hatte sie bald vergessen. Aber anderer gedachte sie oft, nannte sie Freunde, weil ein solcher offenbarender Augenblick sie ihr gezeigt hatte, wie man Menschen sonst oft erst in Zeiten langer Nähe sieht.

O wie viele hatte sie kennengelernt! Um nur gleich die Maler zu nennen, die sie hatten malen oder zeichnen oder wenigstens in der Nähe sehen wollen. Wunderlich war das damals mit diesem deutschen Maler in Rom gewesen, mit Lenbach. Als sie ihn kennenlernte, bat er sie, sie möge ihn doch in seinem Atelier im Palazzo Borghese besuchen. Sie war müde, hatte Angst, Modell sitzen zu müssen. Aber er war so einfach, er gefiel ihr, und dann wollte sie etwas von seinen Bildern sehen, die die anderen ihr priesen. Da war sie hingegangen – und dann sah sie den großen Atelierraum von oben bis unten mit Zeichnungen bedeckt, die alle sie selber darstellten. Wie sonderbar das war: keine war der anderen ähnlich, und doch war sie in jeder dieser Zeichnungen. Er hatte, während sie spielte, diese dreißig Porträts von ihr gemacht. Und dann dieser andere deutsche Maler, dessen Bilder ihr so sehr gefallen hatten, Menzel. Sie war ein wenig gerührt, wenn sie daran dachte, wie sie damals in Frankfurt in den Laden gegangen war, um ein Bild, das ihn darstellte, und ein paar Nachbildungen der Bilder, die ihr unter den seinigen die liebsten waren, zu kaufen – und wie er dann plötzlich dastand, der uralte, kleine Mann mit dem gewaltigen Blicke. Sie hatte gehört, wie ruppig und bärbeißig er sein könne. Aber da stand er vor ihr und knurrte sie an, und was er sagte, hieß, wie man ihr dann übersetzte, daß sie ein Genie sei und daß er eine Photographie von ihr haben wolle. Ein paar Tage darauf hatte ein gemeinsamer Freund sie zusammen zu Tisch geladen. Sie wußte kaum ein Wort Deutsch, er nicht viel mehr Italienisch – dennoch verstanden sie sich herrlich miteinander. Und dann nach dem Essen war das Wunderbare geschehen, was sie nicht vergaß: der Alte hatte ihre Hand genommen, er hatte ihre Hand geküßt ...

Und wie viele andere noch, Männer aus anderen Reichen des Menschengeistes, Mommsen, Helmholtz, und all die Leute in Italien, all die »pezzi grossi«, deren Namen sie immer wieder gehört hatte und die dann eines Tages vor ihr standen und Menschen waren, in deren Augen etwas leuchtete, was sie verstand. Und dann die Dichter alle oder die, die sie ehedem für Dichter gehalten hatte! Alexandre Dumas, mit dem sie so viele Briefe gewechselt hatte und dem sie dann doch noch einmal begegnet war; sie war, kaum genesen von einer der vielen Krankheiten (die immer dieselbe Krankheit waren), zu ihm nach Marly gekommen, für ein paar Stunden nur, denn dann mußte sie wieder zur Arbeit. Und er, der der Zwanzigjährigen alle Gloriole des Dichterseins getragen hatte und der nun ein alter verbrauchter Mann war, hatte ihr alle, alle Rosen seines Gartens an den Zug, mit dem sie wieder weitermußte, gebracht.

Gegen Tausende wußte sie ihr Alleinseinmüssen zu verteidigen. Aber so Vielen bahnten noch immer die Dinge eines weithin wirkenden Lebens den Weg zu ihr, und so Vielen, die ihrer bedurften, öffnete ihr Herz den magischen Kreis. So all den Dichtern, die sie suchten, denen, die Stücke geschrieben hatten und sich von ihr die Aufführung erwarteten, den berühmten wie den unberühmten. Und sie las Stück um Stück, nicht nur weil sie für sich endlich ein Drama, wie sie es erwartete, zu finden hoffte, sondern weil die alle von ihr ein Wort verlangten, ein Urteil, und weil Urteil ein verantwortlich Ding ist. Zuweilen, wenn Lebendigkeit und Talent aus solch einem für das Theater mißglückten Drama zu atmen schienen, hatte sie beinahe Lust, dem, der das geschrieben hatte, zu sagen, was er machen solle, ihm von ihrem ersehnten Drama zu sprechen. Aber sie waren alle zu schwach. Und dann sagte sie die Wahrheit über die Stücke, doch trostreich, kameradschaftlich. Immer, wie sie schon Jahre zuvor dem Dramatiker Sinimberghi geschrieben hatte: »Sie sagen mir, daß Sie daran sind, die Komödie zu schreiben – ich danke Ihnen, und ich bin sehr glücklich, Ihnen einen geringen Anstoß dazu gegeben zu haben, die Idee, die Sie ja schon gehabt haben müssen, zu vervollkommnen. Und doch, achten Sie auf das, was ich Ihnen sage, bleiben Sie nicht bei mir stehen, führen Sie die Idee weiter und bauen Sie ihr Drama dem Ideale zu, dem Guten und Schönen, das die Kunst ist – aber bauen Sie das Drama nicht auf der (wie soll ich sagen?), auf der Persönlichkeit einer Schauspielerin auf. Ich könnte Sie irre machen, denn um zur Kunst zu gelangen, gibt es nur die Kunst, die führen kann. Denken Sie und bauen Sie – besser als ich es sagen kann – an diesem Gedanken – und arbeiten Sie.

Und wenn Sie das Werk vollendet glauben, schicken Sie es mir. Ich verspreche Ihnen, daß ich es verstehen werde, Sie zu lesen – und versuchen werde, dem Publikum zu vermitteln, was Sie gedacht haben – aber, ich wiederhole Ihnen, verscheuchen Sie die Besorgnis, für die Schauspielerin zu schreiben. Wir sind heute, und morgen sind wir nicht mehr ... wer schreibt, soll jedoch in seinem Werke dableiben ...«

Menschen kommen, immer neue, Gesichter tauchen auf, schwinden hin, wie die Stationen der Eisenbahnen, durch die die Schnellzüge hindurchfliegen, oder wie jene anderen, wo sie anhalten, wo man sich eine Weile ergeht oder gar einen Blick aus dem Bahnhof hinaus in die fremde Stadt tut. Aber wenn sie heimkehrt und den Vorhang ihrer Einsamkeit um sich zieht, sind Gesichter und Städte aufgegangen in dem Gefühl von Fahrt, von Reise dahin, wo das Wissen nicht hinreicht, wofür das Fieber hundert Namen und die Sehnsucht hundert Arten des Wartens hat.

Eines Abends in Rom, sie hat die Kameliendame gespielt und Leidenschaft und Verzichten der Marguérite mit ihrer bereiten Flamme erfüllt – da tritt ihr im Zwischenakte, da sie weinend vor Erregung und Schwäche zu ihrer Garderobe geht, ein Mensch entgegen, ein junger Mann, starrt sie mit glühend hellen Augen an und sagt: »O grande amatrice«. Sie spricht kein Wort. Nachher, da sie wieder Eleonora Duse ist, sagt man ihr, daß dieser Mann der Dichter sei, von dem seit Jahren in Italien mehr Menschen sprechen als von allen anderen schreibenden Leuten, von dem ihr Adolfo de Bosis, der sein Freund ist, viel erzählt hat, daß dieser elegante, schmächtige, gar nicht hochgewachsene Mensch mit dem metallisch hellen Blick Gabriele d'Annunzio sei. Sie hört nicht auf Klatsch, niemals. Aber was man von ihm erzählt, so sehr es jenes Leben betrifft, das sie für sich eifersüchtig verborgen hält, scheint bei ihm nicht mehr Privates zu sein, scheint mit zum Werke zu gehören. So weiß sie, wie alle, die Geschichten seiner Abenteuer, weiß, daß er der Gatte einer Fürstin sei, daß er mit der herrlichsten Ernsthaftigkeit jeden Tag grandiose Narreteien begeht, daß der alte Carducci tiefst erregt seine ersten Gedichte gelesen und wieder gelesen habe und daß die Jugend ganz und gar von ihm besessen sei und in ihm nicht nur ihren Dichter, sondern auch den zu sehen entschlossen sei, der ihr die neue Art zu leben, wie sie seine Dichtung ankündige, vorlegen solle. »O grande amatrice ...« Das Wort und den Blick dazu vergaß sie über die Jahre fort nicht mehr.

Und dann einmal in Venedig, ein ganzes Leben ist seitdem geschehen, das ihr und ihm den Ruhm gebracht hatte, verließ sie in einer schlaflosen Nacht ihr Zimmer, in dem sie nicht Ruhe noch Atem gefunden hatte, und fuhr in einer Gondel durch die Kanäle, Stunden und Stunden. Erst da der Himmel grün wurde und die Kuppel von Santa Maria della Salute zu schimmern begann, erst da die Barken voll Fischen und Gemüsen sich mehrten, entschloß sie sich fröstelnd zur Heimkehr. Zugleich mit ihrer Gondel legte eine andere an, aus der ein Mann stieg. Ihn hat, wie sie, sein Herz nicht schlafen lassen – aber es war eine andere Unruhe, die ihn zur Fahrt über die nächtigen Wasser trieb. Sie erkannte ihn. Er trat zu ihr, und sie gingen zusammen durch einen wachsenden Morgen Venedigs, der mit seiner goldenen Kühle den Brodem der Smara aus ihr scheuchte und von dem Dichter die Mattigkeit seiner Traumausschweifung, die diese Nacht in die ungeheuerlichen Bilder von übermenschlicher Macht und Größe gerissen hatte, hinwegnahm. Jetzt waren ihre Herzen hell und einfach, und sie redeten miteinander von diesem Morgen und den Dingen ihres Lebens, und alles war, wie wenn man in der Kindheit sehr früh am Morgen eines erwarteten Feiertages aufwacht und ans Fenster geht und draußen in allererster Sonne die altvertraute Stadt ist, als ob sie eben jetzt geschaffen worden sei.

Ehe sie schieden, da nun aus allen Häusern die Menschen traten, fragte sie ihn, warum er nicht für das Theater schreibe. Und er lächelte sie knabenhaft an.

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