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Nicht bloß für den Maler, auch für den Schriftsteller gibt es eine Kunst des Porträts. Sie wird von beiden freilich nicht in gleicher, sondern nur in annähernd verwandter Weise geübt.
Der Schriftsteller kann eine Persönlichkeit in ihrer ganzen Entwickelungsgeschichte erzählend schildern, und so steigert sich das Porträt zuletzt zum Lebensbilde, zur Biographie. Der Porträtmaler malt keinen Lebenslauf; er vermag die Erscheinung nur in einem gegebenen Augenblicke festzuhalten. Ist er aber der rechte Künstler, dann wird sich in diesem Augenblicksbilde doch zugleich ein ganzes durcharbeitetes Leben des Dargestellten spiegeln; wir ahnen in dem Gemälde ein Stück Biographie, wir erschauen den »Charakter« eines uns vielleicht persönlich ganz unbekannten Mannes.
Kann auch die Feder des Schriftstellers solche Bildnisse zeichnen, die uns nur eine Episode geben, nur ein andeutendes Augenblicksbild, und die doch den ganzen Charakter des Porträtierten erraten lassen, ja denselben in ein neues Licht setzen? Sie kann es. Viele Autoren haben dergleichen schon mit Glück versucht, und ich versuche es auch in den folgenden Studienköpfen.
Nach der Art ihrer Ausführung bilden sie verschiedene Gruppen. Einige sind wie mit flüchtiger Kreide oder Kohle nur ganz leicht hingeworfen; eine Anekdote, eine zufällige Begegnung gab den Anlaß. Andre sind in volleren Farben gemalt; die Beobachtungen andauernderen und tieferen Verkehrs liegen zu Grunde. Ein fürstliches Porträt erscheint sogar zweimal, in zwiefachem Gewande. Fürsten lieben es ja, demselben Künstler öfters zu sitzen. Zu den realistischen Bildnissen gesellt sich das Idealporträt eines Mannes, der ein echtes Kind unsrer Zeit sein würde, wenn er überhaupt bereits geboren wäre, der mehrfach vorhanden und eben darum so einfach nicht zu finden ist, wie ich ihn dargestellt habe. Also recht eigentlich ein »kulturgeschichtlicher« Charakterkopf.
Neben berühmten Persönlichkeiten stehen unberühmte, neben altbekannten vergessene. Die Neigung, zwischendurch auch letztere zu skizzieren habe ich bereits in meinen »Musikalischen Charakterköpfen« gezeigt. Sie hängt mit einem andern eigentümlichen Zuge meines Wesens zusammen: Ich hatte stets eine gewisse Vorliebe für die Ueberzeugung der Minderheiten, indem ich mich sofort fragte, was ist denn die verhüllte Wahrheit ihres Strebens? und eine gewisse Abneigung gegen große und herrschende Mehrheiten, indem sich mir sofort die Frage aufdrängte, was hier das offenbar Verkehrte sei? Vielleicht wird man jene sehr unzeitgemäße Vorliebe am stärksten in der Studie über den heute berühmtesten Kopf meines Cyklus, über Richard Wagner, ausgesprochen finden.
Der kulturgeschichtliche Hintergrund war mir in diesem Buche ebenso wichtig wie die dargestellten Personen, und so sind alle diese Skizzen zugleich Beiträge zur Kulturgeschichte und zwar zumeist zur Kulturgeschichte einer Zeit, die uns heute am allerfernsten liegt – und das ist die nächstvergangene Zeit. Wir pflegen sie nebenbei am ungerechtesten zu beurteilen, weil wir uns von ihr zu befreien trachten.
Auf einem weiten Umweg bin ich zu diesem Buch gekommen. Ich begann vor mehreren Jahren die Erinnerungen meines eigenen Lebens zu schreiben. Da aber gegenwärtig jedes Jahr etliche Bücher bringt, in welchen große und kleine Größen ihre eigenen Memoiren niedergelegt haben, so erkannte ich es für überflüssig, auch mich noch diesem stets wachsenden Reigen anzuschließen.
Ich gab es auf, darzustellen, wie ich mich selbst erlebt habe und schilderte vielmehr, wie ich andre Leute erlebt hatte, dann aber auch, wie ich im Bilde andrer meine Zeit erlebte.
Dieses »Buch der Erinnerung«, wie ich es anfangs taufen wollte, mag dann immer noch an den ursprünglichen, später aufgegebenen Plan erinnern, und so kam es, daß zwischen den neun Charakterköpfen, die hier vorgeführt werden, überall noch ein zehnter hervorlugt, der aber nicht genannt ist.
Starnberg, 16. August 1891.