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Am Januar 1854 war ich von Augsburg nach München übergesiedelt, um im nächsten Semester meine Lehrthätigkeit an der Universität zu beginnen. Ich hatte alsbald meine Antrittsbesuche bei den neuen Kollegen gemacht und darunter selbstverständlich auch bei dem Senior der medizinischen Fakultät, dem Geheimrat von Ringseis, der mich sehr freundlich aufnahm und schon nach wenigen Tagen den Besuch erwiderte. Da er mich nicht zu Hause traf, hinterließ er eine Visitenkarte, auf welcher mit Bleistift unter seinem Namen geschrieben stand: »Ich bitte Herrn Kollegen Riehl auf übermorgen 1 Uhr zum Mittagessen bei Fräulein Linder, Karlsplatz 25, I.«
Die sofortige Einladung zeigte das liebenswürdigste Entgegenkommen, und ich säumte nicht, durch eine Karte meine Zusage zu melden.
Fräulein Linder, so dachte ich mir, wird eine feine Speisewirtschaft führen, wo man ein diner-à-part bestellen und solchergestalt seine Freunde bequemer bewirten kann als im eigenen Hause. Hatte mich doch erst kurz vorher Ludwig Steub in ähnlicher Weise zu einem Frühschoppen bei Ott eingeladen. Daß ein Fräulein Inhaberin einer Restauration sei, schien mir nicht auffallend, da Witwen und Töchter verstorbener Gastwirte auch damals schon das Geschäft selbständig fortzuführen pflegten. Die Adresse war deutlich genug, und so erkundigte ich mich nicht weiter über das Lokal und ging am übernächsten Tage Punkt 1 Uhr zum Hause Karlsplatz 25.
Ich arbeitete damals fleißig an meinem Buch über die »Familie«, welches gegen Weihnachten des Jahres erschien, und stand eben bei dem Kapitel: »Die Emancipation von den Frauen«, wo ich neben andrem von dem bedenklich wachsenden Einfluß der in Kunst und Litteratur mitredenden und mithandelnden Frauen sprach, einem Einfluß, welcher Geschmack und Mode und die Männer dazu immer weibischer zu machen drohe. Dagegen pries ich die echt weibliche Aufgabe des Waltens im Hause.
Diese Gedanken begleiteten mich, als ich durch die Schützenstraße zum Karlsplatz, zum Restaurant von Fräulein Linder ging, und ich dachte, wenn dieses Fräulein nur die rechte Wirtin ist und gut zu kochen versteht, dann ist sie auf der rechten Spur des weiblichen Berufs, denn ein Wirtshaus ist auch ein Haus.
Ich stieg die Treppe hinauf zum ersten Stock und fragte eine Dienerin, die auf dem Flur stand, ob Herr von Ringseis schon hier sei? Sie bejahte es und führte mich in eine Art Vorzimmer, wo ich den würdigen Alten fand, den heißblütigen Kämpen für seinen Glauben, der ihm zum Wissen, und für sein Wissen, welches ihm zum Glauben ward, jugendfrisch mit grauen Haaren, umgeben von fünf andern Herren. Es war der Philosoph und Philolog Ernst von Lasaulx, ein Mann von Welt und Wissen und eigensten Ideen, der den vergrabenen Hausschatz der alten byzantinischen Kaiser in Konstantinopel wieder auffinden zu können glaubte, – der Maler Schlotthauer, welcher neben Kirchenbildern orthopädische Apparate für verkrüppelte Kinder verfertigte und sich außerdem mit einem großen Plane zur Korrektur der Isar trug, – der Maler Heinrich Heß, der dagegen nur Maler war und streng bei seiner dem Hohen und Heiligen gewidmeten Palette blieb, – der wunderliche Bildhauer Konrad Eberhard, halb Künstler halb Handwerker nach alter Art, mit Leib und Seele nur im Mittelalter lebend, – und der Badearzt von Kreuth, Dr. Stephan, der seine ärztliche Kunst früher in Rio de Janeiro geübt hatte, um sie jetzt in der Waldeinsamkeit des bayerischen Hochgebirgs zu beschließen. Gewiß eine originelle und anziehende Gesellschaft, wie man sie in dieser Art damals nur in München finden konnte.
Nachdem wir uns gegenseitig begrüßt hatten, erschien eine ältere Dame von sehr unscheinbarem Aeußeren, ganz grau gekleidet und keineswegs nach der neuesten Mode, mit einem weißen Häubchen auf dem Kopfe. Ringseis stellte mich ihr als unserer trefflichen Wirtin flüchtig vor; die andern begrüßten sie wie eine alte Bekannte. Das war also Fräulein Linder.
Ich wechselte nur ein paar nichtige Worte mit ihr – vom Wetter, welches sich sehr vordringlich bemerkbar machte – denn der Regen wurde von einem Sturmwind in dicken Tropfen wider die Scheiben gepeitscht –, um ein kaum begonnenes, doch schon sehr fesselndes Gespräch mit Lasaulx fortzusetzen.
Lasaulx wußte einen in der Unterhaltung sofort zu packen wie wenige, und so bemerkte ich nur oberflächlich, als wir durch zwei oder drei Zimmer zu dem kleinen Speisesaal gingen, daß diese Zimmer doch kaum wie in einem Wirtshause eingerichtet waren. Nur fielen mir im Vorbeistreifen zahlreiche gute Oelgemälde auf, welche die Wände schmückten, und eine männliche Porträtbüste aus weißem Marmor, die mit einem Trauerflor bedeckt war.
Wir setzten uns um einen runden Tisch, und ich nahm mit Vergnügen wahr, daß die Wirtin gleichfalls bei uns sich niederließ. Hier herrscht doch noch, so dachte ich, die gute, alte, patriarchalische Sitte, die ich zwar mehr aus Walter Scotts Romanen als aus der Wirklichkeit kannte, daß der Gastwirt die Gäste ehrt und ihnen zugleich die Bürgschaft eines guten und gesunden Mahles gibt, indem er sich an die Spitze seiner Tafel setzt und mitißt. Und wenn der Wirt eine Wirtin war, so dünkte mir die Sitte noch viel schöner. Ich machte mir im Geist eine Notiz darüber für mein Buch von der Familie.
Ringseis ordnete unsre Plätze; die andern Herren schienen auch von ihm geladen zu sein. Zu beiden Seiten unsrer Wirtin saßen die beiden Maler; ich erhielt den Stuhl zwischen meinen beiden neuen Kollegen Ringseis und Lasaulx am entgegengesetzten Ende, und der Bildhauer und der Doktor verbanden rechts und links die zwei Gruppen der Maler und Professoren.
Ich fand mich bald im lebhaftesten Gespräch mit meinen Nachbarn. Dies hinderte mich jedoch nicht, zwischendurch unsre Wirtin von fernher zu beobachten. Sie aß kaum mit, sie schien die Speisen nur hie und da zu versuchen; sie mischte sich nicht in die allgemeine Unterhaltung, sondern wechselte nur ab und zu leise Worte mit den beiden Herren zu ihrer Seite; dagegen war ihr Auge überall, sie beobachtete, ob uns nichts abgehe, und gab der aufwartenden Dienerin ihre Winke; sie vergaß sich selbst über ihren Gästen, sie war die aufmerksame Wirtin, wie sie sein soll. Und so ging denn auch die Bedienung wie am Schnürchen. Die Küche war ausgesucht, aber nicht überladen, die Weine vortrefflich; nur schien die gute Küche der Wirtin selbst am wenigsten anzuschlagen; denn ihre Züge waren bleich, fast etwas leidend.
Ich notierte mir im stillen zu dem Kapitel von den erweiterten Frauenberufen, daß der feinste Gastwirt eigentlich eine feine Gastwirtin sei.
Nachdem wir solchergestalt gut gegessen und getrunken und uns höchst anregend unterhalten hatten, plauderten wir noch eine Weile im Vorzimmer. Ich bedankte mich bei Ringseis, sagte Fräulein Linder, daß man sehr gut bei ihr esse und fast noch besser trinke – und empfahl mich.
Nach einigen Tagen besuchte ich Professor Dollmann, den Kriminalisten, der mir mit freundlichem Rate über die Einrichtung meiner Kollegien zur Hand ging. Er suchte mir die zweckmäßigsten Stunden aus; ich folgte seinem Rat und lese heute noch zu denselben Stunden. Friede seiner Asche!
Im Fortgehen, zwischen Thür und Angel, sprach ich unter anderm noch von den interessanten Bekanntschaften, welche ich in jüngster Zeit in München gemacht hatte und erwähnte dabei auch der Künstler Heß und Schlotthauer, mit welchen ich im »Restaurant Linder« zusammengetroffen sei.
»Im Restaurant Linder?« fragte Dollmann. »Dieses Lokal ist mir ganz unbekannt.«
»Es liegt am Karlsplatz, Nummer 25,« entgegnete ich. »Man speist dort ausgezeichnet, namentlich sind die diners-à-part zu rühmen; Ringseis hatte mich dorthin zu einem solchen eingeladen.«
»Ringseis?« fragte Dollmann verwundert, und zugleich schien ihm ein Licht aufzugehen und er rief lachend: »also waren Sie bei Fräulein Emilie Linder zu Gast? Ringseis macht dort so zu sagen den Hofmarschall. Allein wie kommen Sie nur dazu, das Haus dieser Dame ein Restaurant zu nennen?«
»Und was wäre es denn sonst?« entgegnete ich erschrocken. »Wer ist denn Fräulein Linder?«
»Fräulein Emilie Linder ist eine ebenso hochgebildete und kunstsinnige als reiche Schweizerin, eine Millionärin, nicht minder ausgezeichnet durch ihr edles, schlichtes, frommes Wesen und ihre großartige Wohlthätigkeit wie durch ihr ideales künstlerisches Streben. Sie sieht ihre alten Freunde an bestimmten Tagen zu Tische bei sich, wo dann Ringseis die Honneurs macht, und sie hat es gern, wenn er gelegentlich auch jüngere Freunde und fremde Künstler und Gelehrte mitbringt.«
Jetzt begann es mir wie Schuppen von den Augen zu fallen.
»Man befindet sich im ›Restaurant Linder‹ immer in guter Gesellschaft,« fuhr Dollmann schalkhaft fort, »nur ist die Gesellschaft etwas ausschließend, meist hochkatholisch, wie die Dame selbst. Die Zeit der alten Münchener Romantiker lebt wieder auf an dieser Tafelrunde, die Zeit von Joseph Görres, die Zeit des Bundes zu den drei Schilden, die Zeit, wo Clemens Brentano wie ein Komet durch diese Münchener Gesellschaft fuhr, bezaubernd und bezaubert, letzteres, wie man sagt, ganz besonders durch Fräulein Linder.«
Und ich hatte mit dieser Dame, deren Gast ich war, nur zwei Worte gesprochen – vom schlechten Wetter und von ihrer guten Küche! Für welch einen Böotier mußte sie mich halten!
»Aber was haben Sie denn?« fragte Dollmann, als er mich ganz versteinert in der Thüre stehen bleiben sah.
»Ich habe gar nichts!« rief ich, »wenigstens nichts Merkwürdiges. Ich bin ein Esel gewesen, und das pflegt man ja wohl manchmal zu sein.«
Ich schlug mir vor den Kopf und wünschte dem Erstaunten guten Abend.
Gleich am nächsten Vormittage zog ich meinen Frack und meine schönsten perlgrauen Handschuhe an, um Fräulein Linder meinen Dankbesuch zu machen. Ich wollte mich zugleich entschuldigen, indem ich ihr die Geschichte des Irrtums erzählte, in welchem ich befangen gewesen war, und zwar ganz getreu und mit all dem Humor, der im Vorgange selber lag. Denn der Humor lindert nicht nur unsern Schmerz, er löst nicht nur unsre Thräne, – er versöhnt auch mit unsern Dummheiten.
Fräulein Linder empfing mich aufs freundlichste. Sie trug dasselbe schlichte graue Kleid, dasselbe kleine weiße Häubchen, welches sie immer zu tragen schien. Wir waren bald in lebhaftem Gespräch, und hatte sie neulich bei Tische gezeigt, daß sie zu schweigen verstand, so zeigte sie jetzt, daß sie auch sehr gut reden konnte. Ich lenkte die Rede auf Ringseis, um mein Sündenbekenntnis an diesen Namen zu knüpfen, allein sie entwand mir den Faden, indem sie von ihrer frühen Begegnung mit Ringseis in Italien sprach; statt des letzten Mittagessens wurde Italien das Gesprächsthema. Sie erzählte von ihren höchst eigenartigen persönlichen Erlebnissen in diesem Wunderlands denen ich meine persönlichen Eindrücke nicht gegenüberstellen konnte, denn ich war noch nicht dort gewesen. Allein ich hatte seit meiner Knabenzeit über dieses Land gelesen, welches in meinen Studentenjahren ganz besonders das Land meiner Sehnsucht wurde. Ich war ja gekommen, um Fräulein Linder meine Bildung zu zeigen, während ich ihr neulich meine Unbildung gezeigt hatte, und begann darum meine besten Gedanken über Italien dazwischen zu werfen. Sie war als fromme Christin in dem Zauberkreise von Rom und Assisi gewesen; ich würde als künstlerischer Heide dorthin gekommen sein. Ob wir uns gegenseitig verstanden? Sie erschien mir zuletzt wie eine geborene Klosterschwester, die vergessen hatte ins Kloster zu gehen, und es war mir ganz unmöglich, ihr in diesem Augenblicke scherzend zu bekennen, daß ich sie jüngst für die Inhaberin des feinsten Münchener Restaurants gehalten hatte. Ich schwieg davon. Mochte sie immerhin denken, ich hätte damals meinen vernagelten Tag gehabt.
Im Lauf der Jahre wurde ich noch öfters durch Ringseis zu der anregenden Tafelrunde von Fräulein Linder geladen und beobachtete nun unsre Wirtin mit richtigerem Blick; aber die eigentliche Geschichte meines ersten Besuchs habe ich ihr niemals erzählt.
Mein letzter Gang zu Fräulein Emilie Linder war an einem sonnigen Sommernachmittage 1867 – auf den Kirchhof. Es hatte sich ein ansehnliches Leichengefolge eingefunden, um ihr die letzte Ehre zu erweisen, der Rest ihrer alten Freunde – denn die meisten waren ihr schon vorangegangen – und viele andre Leute, darunter auch jüngere Künstler, die wir nicht kannten; allein sie hatten die Güte und das milde Herz von Fräulein Linder kennen gelernt.
Am offenen Grabe erzählte der Geistliche den Lebenslauf der Verstorbenen kurz und gut, er erzählte mir und andern vieles Neue, was man sonst von Grabreden selten rühmen kann, Emilie Linder hatte ein stilles Leben geführt, weltabgeschieden fast wie eine Klosterschwester, und doch ein in der Stille wundersam thätiges Leben. Namentlich erfuhr ich hier zuerst, daß sie eigentlich Malerin gewesen sei und zwar Historienmalerin, daß sie namentlich viele Kirchenbilder gemalt habe. Sie war im Jahre 1824 von Basel nach München gekommen und etwas später als Schülerin in die Akademie der Künste eingetreten, deren Leitung Peter Cornelius im Jahre 1825 übernommen hatte, und die damals – freilich nur kurze Zeit – auch Damen zum Studium der Historienmalerei zuließ. Allein das gemeinsame Arbeiten mit jungen Künstlern widersprach dem innersten Wesen des »Schweizerfräuleins«, wie man Emilie Linder nannte. Sie trat aus und nahm Privatunterricht bei Schlotthauer, der ihr dann durchs ganze Leben ein treuer Lehrer und Berater blieb, und wandte sich, ihrem eigenen Geiste, wie der Richtung ihres Lehrers folgend, zur religiösen Malerei. Sie lernte das Erlernbare, erkannte aber, daß ihr die schöpferische Kraft für diese hohe Kunstweise fehle, und wollte doch von dem einmal erfaßten Ziele nicht lassen. Darum malte sie fortan gleichsam insgeheim Altarbilder, die sie an arme Dorfkirchen schenkte, darunter viele Kopien nach guten Meistern, und diese Kopien wurden sehr gerühmt. Sie unterstützte arme junge Künstler, indem sie Bilder bei ihnen bestellte und kaufte, und sammelte daneben eine kleine Galerie erlesener Gemälde, die sie ihrer Geburtsstadt Basel testamentarisch vermachte. Von Haus zu Haus verkehrte sie wohl nur mit wenigen gesinnungsverwandten Familien, aber an ihrer Tafelrunde erschloß sich ihr ein weiteres Stückchen Welt, in jenem altbefreundeten und doch auch sich verjüngenden Kreise künstlerischer und gelehrter Männer, welchen ich geschildert habe.
Ich habe öfters in diesem Kreise gesessen, ich habe dabei auch manches eingehende Gespräch mit Fräulein Linder geführt, allein sie sprach niemals von sich selbst und sprach doch so tief aus sich selbst heraus. Und so hörte ich denn von der verschwiegenen Kunstübung unsrer Wirtin, von der Historienmalerin das erste Wort – an ihrem Grabe.
Ob unsre malenden jungen Damen eine solche Kollegin heute noch begreifen können?
Ich kehre zurück zu meinem Buche von der »Familie«, in welchem ich, wie erzählt, just beim Kapitel der »Emancipation von den Frauen« stand, als ich zum erstenmal zu Fräulein Linder ging. Ach, wir werden uns niemals von den Frauen emancipieren, und je eifriger wir's wollen, um so gewisser verfallen wir ihrem Zauberbann. Denn nur wer gar nicht an die Frauen denkt, ist sicher vor den Frauen.
Die Notizen, welche ich mir bei meinem ersten Mittagessen im »Restaurant Linder« über den haus- und gastwirtschaftlichen Beruf der Frauen ausgedacht hatte und für die »Familie« verwerten wollte, ließ ich nach meinem darauf folgenden Dankbesuche bei Fräulein Emilie Linder vollständig fallen. Viel näher trat mir dagegen später der Gedanke, die rätselhafte Erscheinung des Fräuleins bei dem Kapitel vom Künstlerberufe der Frauen, verhüllt oder offen, und zwar zunächst als weiblichen Kunstmäcen in mein Buch einzuführen. Allein dies wäre taktlos gewesen, solange die treffliche Dame, die gewiß nicht von sich reden machen wollte, unter uns lebte.
Zwanzig Jahre nach ihrem Tode schien es mir erlaubt, ja ich glaubte sogar eine Pflicht der Dankbarkeit zu erfüllen, indem ich ihr Bild, wie es mir so fesselnd erschienen war, vor die Oeffentlichkeit brachte; nicht im Buche, sondern im frei gesprochenen Worte. Ich wob es in einen Vortrag, der den Titel »Die Frau als Künstlerin« führte, ich stellte Emilie Linder hier neben Angelika Kauffmann und Marie Ellenrieder. Ich sann diese Improvisation, wie so oft bei meinen Wandervorträgen, im Eisenbahnwagen aus, wo ich keine Bücher zur Hand hatte und mit meinen Gedanken ganz allein war. Und so gestaltete sich mir das Bild zu einer in den leichtesten Farbentönen andeutend hingeworfenen Skizze, die mir gerade darum dem Original am besten zu entsprechen schien und die auch meine Zuhörer eigentümlich ergriff, weil sie von Emilie Linder gar nichts wußten und nun so wenig von ihr erfuhren, und doch eben genug, um zu tieferem Sinnen und Nachdenken angeregt zu werden.
Gerade so verfuhr ich beim Niederschreiben dieses kleinen Aufsatzes. Ich hätte zu Hause Bücher nachschlagen können – es gibt eine kleine aber gute Litteratur über Emilie Linder –: ich that es absichtlich nicht. Ich wollte nur geben, was in meiner Erinnerung lebte, und was ich in mir selbst erlebt hatte, die Erscheinung, wie sie schattenhaft und doch lichtvoll an mir vorübergehuscht war.
Das Lichtvolle bei dieser Künstlerin aber war: die Selbsterkenntnis der Schranke ihres Talents und dann doch wieder die Treue und Begeisterung, mit welcher sie an ihrer geliebten Kunst festhielt; die Selbstlosigkeit, womit sie künstlerisch zu wirken und zu nützen suchte, ohne allen Anspruch auf Ruhm und Anerkennung. Wer wollte Aehnliches andern Künstlerinnen zumuten! Und doch sprach aus diesem unter schweren Kämpfen errungenen Selbstvergessen der Geist echtester Weiblichkeit.
Man redet und schreibt von der Frauenfrage, von den erweiterten Arbeitsberufen der Frauen, von ihrem natürlichen Anrecht auch auf jene Berufe, die bisher nur den Männern vorbehalten waren, und vergißt dabei zumeist die natürliche Schranke der Psyche der Frau, des weiblichen Seelenlebens, welches anders geartet ist als das männliche: tiefer, zarter, reiner, feiner geartet, aber begrenzter in jener spröden, strengen, erobernden Kraft, die epochemachend gestaltend in Kunst und Wissen und im öffentlichen Leben nach außen wirkt. Die unterscheidende Psyche der Frau findet man nicht durch vergleichende Gehirnwägungen, man findet sie, indem man das geistige Walten und Gestalten der Frauen beobachtet, in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit und doch nicht minder in seiner Einheit. Auch das eigenartige Glauben und Lieben der Frau gehört zu den Rätseln dieser Psyche, es verbindet sich inniger oft und geheimnisvoller mit ihrem Lebensberufe als beim Manne. Und auch von dem neuen Glauben und einer alten Liebe unsrer Freundin wäre wohl manches zu ergründen, was ein Licht würfe auf ihr weltverschlossenes Künstlertum.
»Die Frau als Künstlerin!« Das Wort ist doppeldeutig. Es gibt und gab Frauen, die echte, reizende Kunstwerke schufen – innerhalb der Schranken der weiblichen Psyche. Allein dies können doch nur wenige Auserwählte. Daneben aber steht ein andres Künstlertum der Frauen, an welchem sie alle teilnehmen sollen; ich fasse es in das Wort: »Die Frau als Lebenskünstlerin.« Sie sollen sich und uns das Leben zum Kunstwerk gestalten, und in dieser Kunst sind die besten Frauen den besten Männern überlegen. Eine jede wird es in ihrer besonderen Weise thun. Blicken wir aber auf das Leben unsrer Freundin, welches mir fast in dem Bilde der mit schwarzem Flor verhüllten Büste ihres Zimmers erscheint, so tritt uns bei all dem klösterlichen, entsagenden, friedsamen und doch wer weiß von welchen Stürmen erschütterten Dasein eine wundersam harmonische Lebenskunst der sonderlichsten Art entgegen. In der That, sie war Lebenskünstlerin wie jedes echte weibliche Wesen, Lebenskünstlerin für sich und andre, in ihrer eigensten, nicht nachzuahmenden Weise.
Man studiert rasch und bequem aus Büchern; etwas umständlicher ist es, aus der Quellenschrift des Lebens zu studieren. Wir machen da oft recht wunderliche Umwege und Irrwege, bis wir überhaupt richtig suchen lernen und bis wir finden. Welchen Umweg habe ich doch gemacht von den Gedanken, die mich auf meinem ersten Besuche im »Restaurant« Linder begleiteten, wo ich die Küche des Fräuleins so vortrefflich fand, bis zu den Gedanken über die Frau als Lebenskünstlerin, die sich mir zuerst mit aller Kraft aufdrängten, als ich von Emilie Linders Grab nach Hause ging!