Wilhelm Heinrich Riehl
Kulturgeschichtliche Charakterköpfe
Wilhelm Heinrich Riehl

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Richard Wagner.

Im April 1879 hielt ich in der »Gemeinnützigen Gesellschaft« zu Leipzig einen Vortrag über »Sebastian Bach in den religiösen Kämpfen seiner Zeit«. Nachdem ich geschlossen, trat ein Herr zu mir und sagte mir einiges Schmeichelhafte über meine Rede. »Nur über eines wundere ich mich,« fügte er hinzu: »Sie haben kein Wort von Richard Wagner gesagt!«

Ich war ganz verblüfft, sammelte mich aber doch bald und entgegnete: »Wenn ich einen Vortrag gehalten hätte über ›Albrecht Dürer in seinem Verhältnis zur Reformation‹, würden Sie sich gewundert haben, daß ich kein Wort von Hans Makart gesagt hätte?«

In einer andern Stadt hielt ich einen Vortrag über »die Musik im Hause«. Des andern Tages sprach mir eine hochgebildete Dame ihr Bedauern aus, daß sie gestern verhindert gewesen sei, meinen Vortrag zu besuchen, sie hätte gar so gerne gehört, was ich über Richard Wagner gesagt habe. Ich war wiederum verblüfft, sammelte mich jedoch bald und sprach: »Wagner ist der große Meister des Musikdramas. Können Sie mir Werke nennen – Lieder, Sonaten, Quartette –, die er für das Haus geschrieben hat?« Sie wußte keine. »Nun gut,« fuhr ich fort, »ich weiß auch keine, und folglich habe ich gestern auch kein Wort von Richard Wagner gesagt.«

Vor Jahren zeigte ich einer hochkonservativen Gräfin ein altes Klavier vom Ende des vorigen Jahrhunderts und bemerkte, ein solches Instrument sei das Klavier der Spätzeit Mozarts gewesen und der Frühzeit Beethovens, und griff einige Akkorde auf dem alten Kasten, die freilich keine besondere »Klangkraft« haben konnten. »Das war doch ein entsetzlich unvollkommenes Instrument,« bemerkte die Dame. »Ganz gewiß!« bestätigte ich, »die Klaviere waren damals noch sehr unvollkommen, aber die Klaviermusik war um so vollkommener.« Die Frau Gräfin sah mich groß an und rief: »Schwärmen Sie für Richard Wagner?« Ich war wieder ganz verblüfft über diese aus den Wolken gefallene Frage, sah auch meinerseits die Gnädige groß an, sammelte mich jedoch rasch und sagte: »Nein!« – »Das war kurz geantwortet!« rief sie. – »Gnädige Gräfin!« fügte ich nun ergänzend hinzu, »ich bin einer der ältesten Gegner Wagners: ich war es schon zu der Zeit, wo der königlich sächsische Hofkapellmeister hinter den Dresdener Barrikaden stand.« Nun war die Frau Gräfin verblüfft und sprach kein Wort mehr von Richard Wagner.

Ich könnte noch mancherlei ähnliche Erlebnisse erzählen, aber aller guten Dinge sind drei.

Jedenfalls erkannte ich allmählich, daß ich in einen großen Fehler verfallen war in meinen Schriften wie in meinen Vorträgen. Ich hatte immer geglaubt, man solle der Person und der Werke eines Künstlers nur dann erwähnen, wenn es der Zusammenhang fordert; jetzt aber entdeckte ich, daß man von Richard Wagner allezeit auch dann sprechen muß, wenn man eigentlich von etwas ganz andrem spricht.

Um mich der Sache noch mehr zu vergewissern, begann ich bei Büchern, Abhandlungen, Zeitungsartikeln immer zuerst nachzusehen, ob auch Wagners Name darin genannt sei, zum Beispiel bei einem Aufsatz über die ägyptischen Pyramiden, bei einer Studie über das elektrische Licht, bei einem Essay über Karl den Kahlen, bei einer Abhandlung über die Altersversorgung der Arbeiter, bei einer Schilderung des Piks von Teneriffa, bei einer Polemik gegen die Vivisektion der Versuchshunde. Sehr häufig entdeckte ich den gesuchten Namen gerade da, wo ich ihn am wenigsten erwartet hatte; mitunter fand ich ihn auch nicht, wo er zu erwarten war.

Es ist in der neueren Litteratur nichts Seltenes, daß begeisterte Verehrer eines großen Künstlers, Denkers, Staatsmannes, dessen Person und Wirken bei jedem Gegenstand heranziehen, worüber sie schreiben, gleich dem Liebenden, der den Namen der Geliebten »in alle Rinden schneidet!« Der Gefeierte ist ihnen eben die Zentralsonne, um welche sich fort und fort ihre Gedanken drehen, die Sonne, welche sie demgemäß zum Mittelpunkte des ganzen Kulturlebens machen, wie es sich in ihren Gedanken spiegelt. Geschieht dies aber nicht bloß von Einzelnen, sondern von einer großen Partei und ihrer weitgreifenden mittelbaren Gefolgschaft, dann hat der gefeierte Meister allerdings einen seltenen Erfolg erreicht: er ist ein berühmter Mann, vielleicht sogar ein weltberühmter. Denn in unsrer Zeit, wo der Tag den Tag, und ein Ruhm den andern unablässig verschlingt, ist nur derjenige ein bekannter Mann, dessen Name alljährlich tausendmal aller Enden gedruckt wird, und vollends derjenige nur ein berühmter Mann, dessen Name durch Jahrzehnte zehntausendmal jährlich durch die Presse von allerlei Art und Zunge geht.

Nach diesem Maßstabe wird niemand anstehen, Wagner einen der berühmtesten Männer der Gegenwart zu nennen, und vielleicht versucht es ein unerschrockener Wagnerianer die hunderttausende von Nennungen seines Namens statistisch genau auf Art, Anlaß und Jahresdurchschnitt zu berechnen und diese Arbeit etwa als Ergänzungsheft dem »Wagnerlexikon« beizufügen.

Ich bekenne nun aber meine Sünde, in den meisten meiner Schriften Wagner gar nicht genannt oder doch nur äußerst flüchtig gestreift zu haben. Ich will diese Unterlassungssünde im vorliegenden Buche meiden, selbst auf die Gefahr, in viel schwerere Begehungssünden zu verfallen.

Schon im Jahre 1848 wurde ich durch den Opernkomponisten Gustav Schmidt, einen Schüler Liszts, auf Wagner und seine Kunstweise aufmerksam gemacht, die man damals bereits als eine ganz neue und eigentümliche bezeichnete. Ich habe seitdem das Schaffen des Künstlers, aber auch das Wirken seiner Partei und die Entwickelung seines Publikums mit ununterbrochener Aufmerksamkeit verfolgt. Ich habe mich redlich bemüht, der Wagnerschen Bewegung gerecht zu werden, aber auch die Ideale meines Lebens zu behaupten und zu verteidigen. Es war dies oft ein schwerer Kampf, den ich in mir durchgerungen zu haben glaube, der mich nicht selten in meinem besten Schaffen lähmte, und der mir dennoch reiche Frucht gebracht hat.

Und wie es mir erging, so erging es auch vielen andern und fürwahr nicht den schlechtesten Männern.

Nicht mit Mißtrauen oder Vorurteilen trat ich zuerst an Wagner heran. Im Gegenteil. Freunde Wagners lenkten in der lockendsten Weise meine Aufmerksamkeit auf seine Werke, bevor noch der Kampf über dieselben entbrannt war, und ich glaubte, in vielen und wesentlichen Dingen mit Wagner übereinzustimmen. Es fehlte nicht viel, so wäre ich ein rechter Wagnerianer geworden – aber freilich nur, bevor man noch von Wagnerianern sprach.

Mit den berufensten Fürsprechern Wagners, mit Franz Liszt und Peter Cornelius stand ich wiederholt in freundlichem, höchst anregenden Verkehr. Wir hatten künstlerische Berührungspunkte genug, in welchen wir uns einig fanden.

Wagner selbst habe ich nur ein einziges Mal gesprochen. Im Jahre 1865 war in München eine Kommission niedergesetzt worden zur Neugestaltung des dortigen »Konservatoriums«. Neben Wagner, Bülow, Perfall, Lachner, Rheinberger, Wüllner und einigen andern war auch ich Mitglied dieser Kommission. Wagners Plan: statt einer universalen Musikschule eine allerdings großartig angelegte Wagnersche Opernschule zu gründen, scheiterte; das umfassendere Gegen-Programm wurde angenommen und später auch ausgeführt. Nach der ersten Sitzung, die schon diesen Entscheid voraussehen ließ, erschien Wagner nicht wieder, sondern ließ sich durch seinen Freund Bülow vertreten. Als wir uns zum Schlusse auch mit Vorschlägen zur Besetzung der einzelnen Lehrfächer beschäftigten, erklärte Bülow, daß er von Wagner beauftragt sei, mir den Unterricht in der Geschichte der Musik anzutragen. Ich lehnte es damals ab, weil ich meine großen akademischen Ferien nicht opfern wollte. Jedenfalls ist man mir hier wie bei andern Anlässen wohlwollend entgegengekommen, und ich hatte keinen Grund zu persönlicher Gegnerschaft.

In einer Abendgesellschaft bei Ringseis blickte mich Liszt einmal scharf an und sagte lächelnd und zugleich mit dem Finger drohend: »Wenn wir Sie hätten haben können!« – Ich achtete nicht auf diesen Ausruf und wurde erst später von andern daran erinnert, die ihn mit angehört hatten, und dachte nun erst darüber nach, warum mich Wagners Freunde nicht hatten haben können, und was ich wohl Liszt hätte sagen müssen, wenn ich schlagfertigeren Geistes gewesen wäre.

Ich würde dann etwa folgendermaßen gesprochen haben:

»Als Freund der Freiheit und Gerechtigkeit kann ich kein Anhänger Wagners werden, selbst wenn ich seine Kunst aufs höchste bewunderte. Das Reich der Künste ist republikanisch, aristokratisch-republikanisch, wenn man will; es duldet nicht die Diktatur eines Einzelnen, und Wagner ist ein Kunst-Diktator, wie noch keiner dagewesen. Er spricht: wer nicht für mich ist, der ist wider mich! Die Ausschließung jedes anders gearteten selbständigen Zieles und Strebens, womit seine Partei die Alleinherrschaft des Meisters für Gegenwart und Zukunft begründen will, würde auf die Dauer den Lebensnerv der Kunst lähmen, denn dieser Lebensnerv ist die Freiheit, welche zugleich allseitige Gerechtigkeit verbürgt. Die verschiedensten großen Meister und auch die tüchtigen kleinen Meister alter, neuer und neuester Zeit haben ebensogut ihr souveränes Recht der vollen Beachtung und lebendigen Pflege wie Wagner. Die Alten waren nicht bloß vorhanden, um Wagner vorzuarbeiten, sondern sie stehen und bleiben für sich selbst. Sie verbleichen nicht wie die Sterne, wenn die Sonne aufgeht. Und die lebenden Meister sind auch nicht da, um Wagners Triumphzug zu folgen, sondern sie haben nicht minder das Recht, ihre eigenen Wege zu gehen und nach ihren eigenen Triumphen zu ringen. Wenn die herrlichsten Werke deutscher Tondichter mehr und mehr vom Programm unsrer Bühnen und Konzertsäle verschwinden, um immer ausschließlicher Wagner, Liszt, Berlioz etc. Platz zu machen, so ist das kein Sieg unsrer nationalen Kunst, sondern eine Niederlage. Denn die künstlerische Größe der Nation gründet niemals in einem Einzelnen, sondern in einer Gesamtheit, die um so gewaltiger sein wird, je reicher und verschiedenartiger sie in sich selber ist.«

Begeisterten, aber einsichtsvollen Freunden Wagners beginnt es in diesem Punkte bereits unheimlich zu werden; sie warnen vor der Hybris, vor dem Uebermaße und dem Uebermute ihrer eigenen Partei.

Was ich hier gesagt, das klingt wie ein Leitmotiv weiter durch die folgenden Skizzen. Sie sind nur Fragmente, sie beleuchten nur einen Teil der Wagnerschen Bewegung vom kulturgeschichtlichen Standpunkte. Die großen ästhetischen Probleme und Streitfragen, welche Wagner so mächtig angeregt hat, habe ich absichtlich nur gestreift, ebensowenig suchte ich ein Bild seiner vollen künstlerischen Erscheinung zu geben. Ich beschränkte mich auf die Zeichnung einzelner Züge zum Sittenbilde unsrer Zeit, wie sich dasselbe im Wagnertum spiegelt. Ich bemühte mich dabei, gerecht zu sein, aber ich fürchtete mich auch nicht, freimütig zu sagen, was ich denke.

I.

(Die Oper als Lebensaufgabe des Meisters.) Wagner hat seine volle Schöpferkraft an die Oper gesetzt, die sich ihm allmählich zum Musikdrama steigerte. Tondichtungen andrer Art waren ihm nur Vorarbeit oder Nebenwerk. Diese Sammlung und Beschränkung lag im innersten Wesen seines Genius, und ein jeder hat das Recht, seinem Genius zu folgen. Es wäre ganz thöricht, Wagner einen Vorwurf daraus zu machen, daß er nicht auch Bände von Liedern, Streichquartetten und Klaviersonaten, von Oratorien und Messen komponiert habe.

Die einseitige oder überwiegende Beschränkung hervorragender Tonmeister auf die Oper ist schon öfters dagewesen, vorab bei den Italienern, bei welchen sie sich sogar zur nationalen Einseitigkeit gesteigert hat. Nur wünschen wir nicht, daß diese italienische Einseitigkeit auch eine deutsche werde, da vielmehr in der Vielseitigkeit, ja in der Allseitigkeit der großen deutschen Meister die überlegene Größe der deutschen Musik beruht. Die klassische Periode unsrer Tonkunst harmonierte hierin mit der klassischen Periode unsrer Poesie: – Mozart und Goethe sind so universale Künstler, wie sie keine andre Nation aufzuweisen vermag.

Man sagt: das Dramatische ist heute in allen Künsten die Signatur der Zeit. Gut! dann sollen wir die Epik und Lyrik um so eifriger pflegen, damit wir nicht einseitig werden. Der starke Schwimmer schwimmt auch gegen den Strom.

Sollen wir es etwa Mozart zum Vorwurf machen, daß er uns neben der Fülle von Opern auch die nicht minder große Fülle von vortrefflichen Symphonien, Quartetten und Sonaten, von Kirchenwerken und Liedern gab? Sind alle diese Kunstgattungen nur dagewesen, um das alles verschlingende Musikdrama zu ermöglichen? Wenn jene fortan auch nur teilweise zurückträten hinter der steigenden Alleinherrschaft des Musikdramas, dann würden wir das beste Teil unsers nationalen musikalischen Ruhmes verloren geben: die überall gleich liebevolle Pflege jeglicher Kunst und Art.

Die Lebensaufgabe Wagners war das Musikdrama, die Lebensaufgabe Mozarts – die Musik.

II.

(Im bewegenden Centrum der Musik.) Das Musikdrama soll fortan die bewegende und maßgebende Centralmacht der ganzen Tonkunst sein. Die Musik in der Kirche, im Konzertsaal, im Hause soll ihre Gesetze vom Theater empfangen. Vielleicht wird mit der Zeit auch alle Musik aufhören, die nicht musikdramatisch ist. Man erzählt von einem vortrefflichen Wagner-Dirigenten, er pflege zu sagen, in hundert Jahren werde alle Musik, die wir jetzt lieben und üben, tot und begraben sein, mit einziger Ausnahme von Wagners sämtlichen Werken.

Die Oper ist in der That sehr geeignet, Leben und Bewegung in andere Musikgattungen zu bringen und hat diese Mission schon oft geübt. Aber sie ist sehr wenig geeignet, allgemeine ästhetische Gesetze vorzuschreiben, weil sie eben ein so besonderes und sonderbares Wesen ist, ein Zwitterding, welches den inneren Konflikt zwischen der musikalischen Architektonik und der unmittelbaren, im raschen Gang der Handlung verkörperten Aussprache der Empfindung niemals zur vollen Lösung zu bringen vermag. Das ist auch Gluck und Mozart, Beethoven und Weber niemals voll und ganz gelungen. Ueber diesen allzeit schwebenden Kampf zwischen dem Rechte der musikalischen Architektonik und dem Rechte der Dramatik habe ich mich im dritten Bande meiner »Musikalischen Charakterköpfe« eingehend ausgesprochen. Der betreffende Aufsatz führt den Titel: »Die Kriegsgeschichte der deutschen Oper«.

Trotz dieses innern Zwiespaltes hat die Oper schon öfters das große Wort in der musikalischen Aesthetik gesprochen; sie spricht es auch wieder, allein es wird nicht das letzte Wort sein.

Die centrale Macht der Bühnenmusik wächst durch ihre Verbindung mit der Poesie, der Schauspielkunst, der Malerei, der Tanzkunst, einer Verbindung, die ihre höchsten Triumphe eben im Musikdrama feiert. Das hat Wagner richtig erkannt. Nur ist diese Verbindung keine Allkunst, in welcher alle Künste gleichberechtigt zusammenwirken, und wodurch dann das Musikdrama nicht nur zum Centrum der ganzen Musik, sondern auch zum höchsten Kunstwerk an sich würde, welches allen andern Künsten die maßgebenden Gesetze vorschriebe.

Eine solche Allkunst ist unmöglich. Wir können nicht zu gleicher Zeit in gleicher Kraft mit dem geistigen Ohre hören und mit dem geistigen Auge sehen. Wir betrachten Bildergalerien nicht mit Musikbegleitung, und wenn wir uns in den Genuß eines bedeutenden Tonwerks aufs tiefste versenken wollen, dann wünschen wir alle das Auge fesselnde Pracht malerischer oder architektonischer Scenerie hinweg. Sie würde uns nur stören.

Verschiedene Künste können und sollen zusammenwirken, nur müssen sie sich immer einer Hauptkunst unterordnen. Selbst im einfachen Liede herrscht entweder die Musik, wie bei Schuberts Goetheliedern oder der Text, wie bei den Goetheliedern Reichardts. So herrscht in der Oper die Musik, die Dichtung dient, noch weit mehr aber dient die malerisch-scenische Ausstattung.

Wagner war ein vortrefflicher Regisseur; die scenische Ausschmückung seiner Opern verstand er meisterhaft anzuordnen. Gegenüber dem flitterhaften, mitunter sinnlosen Pomp der älteren »großen Oper« war Wagners phantasievoll erdachte und künstlerisch gediegen ausgeführte Scenerie ein entschiedener Fortschritt. Dabei bewahrten ihn wenigstens seine Sagenstoffe vor der kulturgeschichtlichen Kleinkrämerei der Meininger. Denn zum Glück wissen wir nicht mehr ganz genau, welchen Rock Wodan, und welche Stiefel Siegfried getragen hat.

Der Fortschritt zur vollen »Bühnenreform« sind aber Wagners schöne Dekorationen und Kostüme dennoch nicht, eben weil sie zu schön sind, weil sie sich zu sehr vordrängen, das Auge berauschend und blendend und von dem geistigen Gehalte des Dramas abziehend. Auf Umwegen und in veredelter Weise kommt Wagner doch wieder zur Pariser großen Ausstattungsoper zurück (vergleiche den Tannhäuser in Bayreuth 1891), von welcher er beim Rienzi ausgegangen ist.

Ich kann die wahre Reform der »äußeren Bühnentäuschung« nur in einer höchst einfachen, bloß andeutenden Ausstattung erblicken, die sich durchweg der inneren Täuschung von Musik und Poesie unterordnet, die uns Ort und Zeit nur leise künstlerisch versinnbildet und gar kein selbständiges Kunstwerk sein will. Beim Fidelio lassen wir uns die schlichteste Scenerie gefallen; könnten wir sie uns auch beim Tannhäuser gefallen lassen?

Man hat in München mit der sogenannten erneuerten Shakespeare-Bühne versucht, zu einer einfacheren, bloß andeutenden Ausstattung zurückzukehren, und der nachhaltig durchgeführte Versuch fand viele Freunde. Andre verhielten sich kühl oder ablehnend. Und ich glaube, die Wagnerianer müssen sich kühl zu dieser tief begründeten Reform verhalten; denn sie ist ein Gegenzug gegen die Reform des »Meisters«. Das merkten viele nicht, weil die vereinfachte Bühne nur beim Schauspiel angewandt wurde. Allein der Gedanke liegt doch nahe, daß man sie auch auf die Oper übertragen könne. Dann würden Glucks und Mozarts Opern gewinnen, während Wagners Musikdramen verlieren würden. Denn sie passen in kein andres System der Ausstattung als in ihr eigenes.

III.

(Jeder in seiner Weise.) Wagners volltönige Instrumentation ist schon äußerlich mitbedingt durch den Glanz seiner Scenerie. Wo malerische Effekte so stark aufs Auge wirken, da muß auch die Klangkraft der Musik gesteigert werden.

Ich erkenne die Originalität der Wagnerschen Instrumentation sehr gern an: den magischen Zauber seiner in den höchsten Tönen säuselnden Geigen-Pianissimos, die Gewalt seiner tiefen Bässe, die neuen Klangwirkungen der Blasinstrumente. Die absolut beste Instrumentation ist dies freilich nicht, – weil es eine solche überhaupt nicht gibt.

Auch die harte, spröde Kraft des Händelschen Orchesters hat ihr volles Recht und die einfach edle Charakterzeichnung der Gluckschen Instrumentation, der man (sogar in der »Iphigenie in Aulis«!) kein Tüttelchen zusetzen darf, ohne sie zu verderben. An die Orchestrierung der Symphonien Beethovens oder der späteren, reicheren Symphonien Haydns und Mozarts wagt man zur Zeit noch nicht zu tasten. Sollen aber darum die höchst schlichten Partituren der kleinen, älteren Symphonien jener zwei letztgenannten Meister »überwunden« sein, bei welchen das ganze Orchester aus dem Streichchor mit zwei Hoboen und Hörnern besteht? Gerade diese einfachste Instrumentation läßt die Melodienplastik jener Werke mit einer Frische, Klarheit und Kraft hervortreten, die ganz eigenartige Reize birgt. Wir können aber solche Werke nur noch im Geiste hören oder höchstens dann und wann in Privatvereinen, denn die Musiker spielen sie nicht öffentlich. Sie werden sie aber wieder spielen, wenn sie zu höherer historischer Bildung emporgestiegen sein werden. Historische Bildung ist nicht die bloße Kenntnis von Thatsachen und Jahrzahlen (worin wir's ja ziemlich weit gebracht haben), sondern die durch unablässiges Studium der Quellen, das heißt der Kunstwerke aller Perioden, erworbene Fähigkeit, einer jeden Stil- und Zeitweise in ihrer Art so ganz gerecht zu werden, daß wir sie vollauf genießen können. In diesem Sinne sollte Musikgeschichte in den höheren Musikschulen als ein rechtes Praktikum gelehrt werden. Und wenn einmal die Wagnerianer dahin gekommen sind, daß sie in ihren Konzerten neben Wagner und Liszt und Schumann und Berlioz auch jene alten kleinen Symphonien und neben Schuberts Liedern auch die Lieder von Schulz und Reichardt – und so weiter! – mit gleicher Liebe und Begeisterung pflegen, – dann werde auch ich ein Wagnerianer.

Jeder in seiner Weise. Es wäre ebenso kindisch, den Figaro wagnerisch instrumentieren zu wollen wie den Tristan mozartisch.

Die Instrumentation gibt erst das volle Kolorit eines Tonwerks. Bleiben wir einen Augenblick bei diesem der Malerei entlehnten Vergleich.

Soll ich mich nicht mehr an dem Frühlings-Kolorit altdeutscher Meister erfreuen, ja dasselbe als ein Höchstes bewundern, weil die leuchtende Sommerglut Rubensscher Bilder einen andern Farbenzauber bietet, der gleichfalls ein Höchstes ist? Nur Leute ohne alle historische Bildung werden bei Raphael das Kolorit Böcklins vermissen und bei Dürer die Farbe Makarts.

Es ist ein wahres Unglück, daß heutzutage so viele Komponisten, die nichts weniger als Wagners Geist besitzen, immer nur Wagnerisch glauben instrumentieren zu müssen, und daß noch viel mehr Halbkenner und Nichtkenner wähnen, sie seien sehr gescheidt, wenn sie jede schlichtere und durchsichtigere Instrumentation als die Wagnersche veraltet finden. Nicht gegen Wagners Instrumentation streite ich, sondern gegen diesen Unverstand, der Tausende blendet und ihnen die Fähigkeit raubt, sich in Geist und Stil andrer Meister und andrer Zeiten zu versetzen und Vortreffliches von vielerlei Art zu genießen als ein für alle Zeit Vortreffliches.

IV.

(Wie es euch gefällt.) Die Oper Wagners, in welcher nur gesungen, nicht gesprochen wird, und Recitative und melodische Sätze fortlaufend in einander übergehen, ist theoretisch die folgerechteste. Die ganze Handlung bewegt sich einheitlich in der erhöhten Sprache des Gesanges.

Allein die Oper mit sparsam und geschickt eingestreutem Dialog, welche Wagner verwirft, ist praktisch nicht minder berechtigt, und alle Kunst ist doch zuletzt nicht Theorie, sondern Praxis. Durch das gesprochene Wort am rechten Ort wird die Handlung sofort klar, das leidige Lesen des Textbuchs wird überflüssig, die musikalischen Sätze wirken frischer, das Recitativ wirkt packender, wenn man nicht drei Stunden lang in einem fort Musik hört, und der Komponist ist nicht genötigt, ganz unmusikalische Textstellen in Tonphrasen zu zwängen. Also lasse ich mir auch die Dialog-Oper nicht nehmen.

Sie ist – ich lasse mir auch die verpönten Worte nicht nehmen – gemütlich, behaglicher, verständlicher als ihre vornehmere Schwester, sie hat Mitleid mit unsern Nerven, gegen welche jene mitunter sehr unbarmherzig ist. Ganz sicher eignet sich die Recitativ-Oper am besten für feierlich erhabene, großartige, übermenschliche Stoffe. Und unsre Zeit begehrt in der Musik das Großartige, vor welchem gegenwärtig die Malerei flieht, kraft des »Gesetzes der Ergänzung in den Künsten«. Also ist auch die große Recitativ-Oper vollberechtigt – nur nicht alleinberechtigt!

Sie stammt aus Italien, während die bescheidenen Anfänge der deutschen Oper zu Adam Hillers Zeiten auf das mit Musik ausgestattete Schauspiel, auf das Liederspiel zurückgehen, worin wir damals mit den Franzosen wetteiferten. Darum waren nachgehends auch die deutschesten Opern der Franzosen – wie Mehuls Joseph, Cherubinis Wasserträger, Boieldieus Weiße Frau – Dialog-Opern. Und die deutschesten der älteren deutschen Opern wie Mozarts Zauberflöte, Beethovens Fidelio sind auch als Dialog-Opern geschrieben.

Ich schätze Webers große Recitativ-Oper, die Euryanthe, gewiß nach Würden, allein Webers Freischütz mit Dialog und Arien und Liedern und Chören ist mir doch noch lieber. Ohne diese, jetzt verfehmten, abgerundeten Musikstücke, die sich so prächtig aus dem noch verfehmteren Dialog erheben, würde der Freischütz niemals seine unvergleichliche Popularität gewonnen haben.

Wie es euch gefällt! Ich wiederhole, daß ich nicht gegen Wagners Musikdramen streite. Ich streite nur für die Freiheit in der Wahl der Kunstmittel und Kunstideale und für die Gerechtigkeit gegen alte und neue Künstler, die andres gedacht und andres gemacht haben als der Meister von Bayreuth.

V.

(Reiz des Widerspruches.) Mit Recht fordert Wagner, daß sich die musikalischen Accente des Gesangs den Sinn- und Wortaccenten der Dichtung anschmiegen, ja aus denselben hervorwachsen sollen. Neu ist diese Forderung aber nur in ihrem Extrem; bedingungsweise haben sie die guten Gesangkomponisten immer befolgt. Allein sie läßt sich nicht unbedingt durchführen, ohne daß die Architektonik der Melodie darunter leidet, die ihre Gesetze in sich selber trägt und dieselben nicht erst aus den Textesworten schöpft. Und so suchten unsre besten Meister eine Vermittelung in schwebenden Wort- und Melodieaccenten. Wagner ist nirgends ein Freund der Vermittelung. Er verwirft sie auch hier und gibt den Aufbau selbständiger Melodien preis, um des absoluten Rechtes der poetischen Deklamation willen. Dadurch wird ihm der Gesang zuletzt zu einem gesteigerten Recitativ, durchwoben von zahlreichen melodischen Ansätzen, was man endlose Melodie genannt hat, eine Melodie, die der Symmetrie der musikalischen Cäsuren entbehrt und wohl zu einem Ende, aber zu keinem Abschluß ihrer Glieder in sich selber kommt. Zum Wesen der Melodie gehört aber gerade, daß sie Anfang, Mitte und Ende hat, und die wichtigste Grundform der Melodie läßt sogar das Ende zum Anfang zurückkehren, – die Rondoform.

Man kann sagen, ein besonders prickelnder Reiz der Wagnerschen Melodie besteht gerade darin, daß sie die Melodie im Widerspruch mit sich selber ist. Hierdurch gewinnt sie zugleich den Reiz der Neuheit, und Neuheit um jeden Preis ist eine Hauptbedingung des modernen künstlerischen Erfolgs. Die Neuheit wird allmählich veralten, der Widerspruch wird bleiben, und zuletzt wird in Zukunft derjenige Komponist einen bezaubernd neuen Erfolg erringen, der wieder Melodien zu singen wagt, die vollgültige Melodien – ohne allen Widerspruch – sind.

Es ist ganz ungerecht, Wagner melodische Erfindungsgabe abzusprechen. Im Gegenteil; er hat eine große Fülle neuer, wirksamer und auch schöner melodischer Motive erfunden; allein er zerbröckelt, erdrückt und erstickt sie selber wieder, er wirft sie verschwenderisch weg, ohne sie auszubilden – lediglich seiner Theorie zuliebe, welche die Musik zur Sklavin des Textes macht. In seinen späteren Musikdramen jagt eine fesselnde melodische Erfindung die andre, und wir seufzen während des ganzen Abends – nach Melodie.

In Wagners Jugendoper – den »Feen« – kann man recht deutlich erkennen, wie melodisch begabt dieser Musiker war, und welch ein bezaubernder Melodiker er hätte werden können, wenn er nicht später – Richard Wagner in die Hände gefallen wäre.

VI.

(Partei und Gemeinde.) Was Wagner besonders genützt hat, das hat ihm auch besonders geschadet – seine Partei. Sie gewann dem Meister tausend unselbständige Anhänger und schreckte hundert selbständige Männer zurück. Aber diese Hunderte wiegen zuletzt doch schwerer als jene Tausend.

Freunde, die sich für einen schöpferischen Künstler begeisterten, seine Werke zu verbreiten, seinen Ruhm zu mehren suchten, sind zu allen Zeiten dagewesen. Eine Partei wird man aber diesen Kreis werkthätiger Verehrer erst nennen können, wenn er sich eine streitbare Organisation gibt, zu Angriff und Abwehr gleich gerüstet, mit einer Oberleitung ausgestattet, durch Vereine dauerhaft gemacht und allgegenwärtig, überall eingreifend, über eigene Finanzen und eine eigene Presse verfügend.

Börne sagt einmal von unsern Nachbarn jenseits der Vogesen: »Der Franzose lobt und begünstigt jeden, der auf seiner Seite ist, er tadelt und schädigt jeden, der ihm gegenübersteht. Hierdurch stärkt er seine Partei und zwingt die Leute, offen Farbe zu bekennen. Darum erreichen die Franzosen alles, und wir bringen es zu nichts.«

Im politischen Parteiwesen haben wir Deutsche seit Börnes Tagen viel von den Franzosen gelernt; unsre Parteien sind da so ausschließend und »korrekt« geworden, wie es Börne nur wünschen mochte. Durch die Wagnersche Partei haben wir nun aber auch in der Kunst diesen Weg beschritten; sie ist ganz nach dem Muster der politischen Parteien organisiert und zwar in einer so großartigen und folgerechten Weise, wie es noch nie und nirgends gewesen ist. Ob zum Frommen der Kunst?

Hat man doch sogar bereits die politischen Parteinamen auf die verschiedenen Anhänger musikalischer Richtungen übertragen. Wer da glaubt, alle die großen Meister der Vergangenheit seien eigentlich nur dagewesen, um Wagner die Bahn zu eröffnen, damit er vollenden könne, was sie unvollkommen begonnen, oder auch hinwegfegen, was sie verkehrt gemacht haben, der ist ein Fortschrittsmann. Wer dagegen wähnt, jeder große Meister stelle in sich einen Gipfel dar, der von keinem andern erreicht wurde, während andre wieder in andrer Weise ein Größestes leisteten, der ist ein Konservativer. Wer Mozarts Jupiter-Symphonie lieber hört, als Liszts Mazeppa, wer gar ein Haydnsches Rondo höher stellt als einen Chopinschen Walzer, der ist ein Reaktionär. Man könnte mit demselben Rechte sagen: wer die Lektüre von Zolas Romanen für höchst notwendig und zeitgemäß erklärt, aber die Lektüre von Hermann und Dorothea für unzeitgemäß und überflüssig, der huldigt dem Fortschritt, und wer sich an Dürers vier Aposteln tief erbaut und an Makarts Kleopatra gar nicht, der ist einem ganz versteinerten Konservatismus verfallen. Allein im Gebiete der Poesie und Malerei bewegen wir uns zur Zeit noch nicht ganz in einem solchen ästhetischen Karneval, wie im Gebiete der Tonkunst.

Wagners Partei wurde so überaus groß und mächtig durch ihre straffe Organisation und Disciplin und – weil ihr niemals eine gleich gut geführte Gegenpartei die Spitze bot. Denn es gab und gibt wohl zahlreiche Gegner Wagners und noch viel mehr Gleichgültige, allein eine geschlossene Gegenpartei gibt es nicht. Da ist der eine Beethovenianer, der andre Mozartianer, der dritte hält es mit Händel und Bach, der vierte mit Mendelssohn und der fünfte mit Brahms. Ein jeder hat seinen besonderen Heiligen und zündet ihm seine besondere Kerze an. Die Wagnerianer dagegen sind allesamt nur Wagnerianer und kämpfen in geschlossener Phalanx gegen jegliche andre Richtung. Ihre Ausschließlichkeit, die unsre Konzertprogramme und die Spielpläne unsrer Opernbühne mehr und mehr verarmen läßt, ist ihre Stärke. Sie wird aber die Diktatur der Partei zuletzt unerträglich machen.

Manche Leute meinen noch immer, der wahre Künstler solle eine Partei gar nicht begehren, er solle sie stolz von sich weisen, wo sie sich ihm aufdrängen will. Ein Staatsmann kann keine einsame Größe sein: der große Künstler kann und soll es. Er wird zuletzt um so weniger einsam bleiben, je mehr er sich auf sich selber stellt.

Freilich vermag dies der Tondichter leichter bei jeder andern Gattung seiner Kunst als bei der Oper, die von dem ganzen vielverschlungenen Getreibe des Theaterwesens, von der Mode, von der Laune des Publikums und der Gunst der Rezensenten nur allzusehr abhängt. Allein angesichts dieser äußerlichen Abhängigkeit fragt es sich dann auch, ob gerade die Oper besonders geeignet sei, die läuternde, reformatorische Centralmacht der ganzen Tonkunst zu werden?

Der innere festeste Kern von Wagners Partei ist mehr noch als Partei, er ist zugleich Gemeinde, die an ihren Messias glaubt und seinen Offenbarungen lauscht mit der Andacht des Gläubigen. Die Verehrung seiner Person und seiner Werke steigert sich zum Kultus, seine Bücher erscheinen als Bekenntnisschriften, als symbolische Bücher des ästhetischen neuen Glaubens.

Diese Thatsache erklärt vieles, was sonst unerklärlich wäre. Unsre Zeit hat ein um so dringenderes Bedürfnis nach neuen Autoritäten, je weniger sie von den alten Autoritäten wissen will.

Man rühmt von Wagner, daß er Kunst und Künstler von der »ästhetischen Polizei« befreit habe, von der Aesthetik der Philosophen. Allein er ist dann sein eigener Philosoph, sein eigener Kritiker geworden und hat sich seine eigene Aesthetik ausgebildet, und die Fundamentalsätze dieser Aesthetik sind Dogmen für seine Gläubigen.

Es war also doch eigentlich keine Befreiung, sondern nur ein Herren-Wechsel, der Uebergang von einer milderen und bestreitbaren Herrschaft zu einer strengen und unantastbaren.

Man soll jedem seinen Glauben lassen, man soll keinen verfolgen um seines Glaubens willen. Der wahre Glaube aber schont und ehrt auch bei Andersgläubigen, was er bei sich selber geschont und geehrt wissen will. In Sachen der Kunst sind wir Draußenstehenden keine Andersgläubigen, wir sind nur Andersdenkende. Haben sich alle gläubigen Wagnerianer gegenüber den Andersdenkenden bereits zu jener Höhe des wahren Glaubens – in Duldung und Gerechtigkeit – aufgeschwungen?

VII

(Die Emancipation der Musik und der Musiker.) Wagner hat die ausübenden Musiker häufig nicht sehr sanft angefaßt, er hat manchem Kapellmeister, manchem Herren des Orchesters und mancher Dame der Bühne vor den Kopf gestoßen. Den Orchestern bürdete er neue und schwere Lasten auf, und es war manchem Herren Tonkünstler sehr unangenehm, endlose Proben zum Tristan und der Götterdämmerung mitzumachen und bei der Aufführung bis gegen Mitternacht zu geigen und zu blasen. Bellini und Auber, Lortzing und Flotow hatten viel kürzer und bequemer, viel barmherziger geschrieben.

Wo ein Wagner-Kapellmeister an der Spitze stand, da wurde nicht selten das Orchesterpersonal ebenso rückhaltlos »verjüngt« wie das Offiziercorps der preußischen Armee. Die alten Häupter konnten die Strapazen der Wagner-Campagnen nicht mehr aushalten, sie wurden pensioniert oder ausgemustert, auch wenn sie für Mozart und Beethoven noch lange gut genug gewesen wären. Das erbitterte und verstimmte die Betroffenen.

Aber auch die jungen Komponisten wurden verstimmt und erbittert, wenn ihnen der richtige Wagnerianer sagte, es sei sehr überflüssig, daß sie überhaupt komponierten und sich vollends gar erkühnten, Musikdramen schreiben zu wollen, es sei genug, wenn einer dergleichen schreibe.

Die Intendanten der großen Bühnen gaben sich alle Mühe, Wagners Werke möglichst glänzend und peinlich genau in Scene zu setzen, machten es aber doch den Wagner-Kritikern niemals glänzend und genau genug und mußten nach aller aufgewandten Mühe zuletzt doch immer hören, daß man die Sache dort hinten am Fuße des Fichtelgebirgs weit besser mache, und daß sie sich nach Bayreuth begeben sollten, um dort das einzig echte Muster zu holen.

Sänger und Sängerinnen mußten umlernen, um sich eine neue Schule des Vortrags anzueignen, worüber sie öfters ihre alte Schule verloren, die man doch auch von ihnen forderte, und zuletzt gar keine mehr hatten. Das verdroß anfangs gar viele.

Nach alledem hätte man meinen sollen, die ausübenden Künstler würden sich widerstrebend und ablehnend, trotzig und eigensinnig, wo nicht als offene Gegner wider den Plagegeist Wagner geschart haben.

Und doch geschah das Umgekehrte, und die Gegnerschaft währte nur jene kurze Frist, welche man die Periode der »Verkennung« Wagners nennt.

Fast alle die Belästigten und Beleidigten, Trotzenden und Grollenden bekehrten sich nach und nach und opferten begeistert ihre Kraft dem Meister. Liszt fesselte, indem er schmeichelte, Wagner fesselte, indem er abstieß.

Ich rechne dies zu den merkwürdigsten Erfolgen des merkwürdigen Mannes und frage nach dem Grunde. Lag er in dem dämonisch Fascinierenden seiner Person? in dem unwiderstehlichen Zauber seiner Kunst? Vielleicht! – und doch nicht ganz.

Wagner verkündete die künstlerische Emancipation der Musik und die sociale Emancipation der Musiker, und die Musiker, denen er vor den Kopf gestoßen, die er belästigt, geärgert und in ihrem Behagen gestört hatte, vergaßen ihren Groll und huldigten ihm. Hierin liegt der eigentliche Schlüssel des Rätsels.

Die Musik ist die jüngste Kunst, sie ist am spätesten zu gleichen Ehren mit den andern altaristokratischen Künsten gekommen. Als sich im 18. Jahrhundert die moderne Aesthetik entwickelte, schöpfte der Kunstphilosoph seine Erkenntnis von Wesen und Gesetz der Künste fast ausschließlich aus der Analyse des dichterischen und bildnerischen Schaffens. Die Musik lag seitab; es wurden zwar auch Bücher über musikalische Probleme geschrieben, allein das war Litteratur für Musiker, um welche sich die große wissenschaftlich-litterarische Welt blutwenig kümmerte. Unsre großen klassischen Schriftsteller zogen bei ihren weittragenden ästhetischen Untersuchungen die Musik kaum in Betracht. Wie eingehend hat Goethe von manchem recht unbedeutenden Maler seiner Zeit geschrieben; die mitlebenden epochemachenden Klassiker der Tonkunst werden kaum beachtet. Wie verwandt hätte doch Goethe Haydns und Mozarts naiv erfaßte Ideale seinem eigenen bewußt erfaßten Ideale finden müssen, wenn er Haydn und Mozart gekannt und verstanden hätte! Allein die Musik war damals eine Welt für sich. Wie ferne lag Schiller, dem großen Fortbildner der Kantschen Aesthetik, die Tonkunst, wie fremd und unbekannt war sie Kant selber!

Die Pflege der Musik erschien im vorigen Jahrhundert überwiegend wie eine in abgeschlossenen Kreisen leidenschaftlich betriebene Liebhaberei; als einen mächtigen, der übrigen Kunstpflege ebenbürtigen Faktor unsrer Geisteskultur faßte man sie noch nicht. J. J. Rousseau freilich dachte anders, allein er war auch selbst Musiker. Klopstock, Lessing, Herder, Wieland, Schiller, Goethe lebten zur Blütezeit des deutschen Hausquartetts, und kein einziger von ihnen hat Quartett gegeigt. Kein Wunder, daß sie so wenig über die Tonkunst dachten und schrieben. Man beruhigte sich damals und auch später wohl mit dem Satze, daß die Philosophen nichts von Musik verstünden und die Musiker nichts von Philosophie, und daß es darum nicht möglich sei, zu einer Philosophie der Musik zu kommen.

Nur Glucks Vorrede zur Alceste trug große ästhetische Probleme der Musik in die allgemeine Diskussion. Die Behandlung der musikalischen Dramatik warf überraschend neue Streiflichter auf die Dramatik der Dichter, und Poeten von Rang begannen den kühnen Komponisten wie ihresgleichen zu behandeln.

Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte einen günstigeren Umschwung. Die Aesthetiker der romantischen Schule widmeten der Tonkunst größere Teilnahme, schon weil sie die vorzugsweise romantische Kunst war. Ueber Beethoven wurde in diesem Sinne unvergleichlich mehr geschrieben als über seine großen Vorgänger, allein er selber schrieb nicht; er hatte Besseres zu thun. Wir erhielten gediegene Musiker-Biographien, deren Meisterstück, Otto Jahns Mozart, auch auf andern Gebieten nicht übertroffen worden ist; die Geschichte der Musik wurde mehr und mehr in ihrem Zusammenhange mit der Kulturgeschichte erkannt und behandelt. Schreibende Musiker traten auf, Gelegenheits-Schriftsteller wie K. M. v. Weber und Spohr, dann auch agitatorische Meister, die mit ihren Freunden nachhaltig und leidenschaftlich für ihre Kunstrichtung Anhänger warben, wie Schumann und Berlioz.

Die Musik stand nicht mehr vereinsamt in der Ecke, sie begann ebenbürtig in den Reigen der übrigen Künste einzutreten, sie war nicht mehr bloß eine Liebhaberei der »musikalischen Leute«, sondern man forderte von jedem Gebildeten, daß er Kenntnis nehme von Vergangenheit und Gegenwart dieser edlen Kunst.

Da kam Richard Wagner und kehrte das frühere Verhältnis der Musik zu den andern Künsten vollständig um. Für ihn war die Musik die Centralkunst, die Kunst der Künste, wie sie allein ja auch ihren Namen von den Musen trägt. Souverän entwickelt der Tonkünstler die ästhetischen Grundgesetze für alle Schwesterkünste. Das war noch nicht dagewesen. Ausgehend von der dramatischen Musik zeigt Wagner auch der dramatischen Dichtkunst neue Wege, er gibt der Bühne neue Einrichtungen, er versammelt im Musikdrama alle Künste in einer in eins verschmolzenen neuen Allkunst, in welcher sie alle gleich notwendig sein sollen wie die Glieder eines Leibes, aber der Herzschlag, der diesen Leib belebt, pulst doch in den magischen Rhythmen der Tonkunst.

Der Musiker wird Philosoph, und zum Entgelt dafür, daß die Philosophen sich früher so wenig um die Musik bekümmert hatten, verhilft er jetzt einem Philosophen wie Schopenhauer zu massenhafter, wenn auch mitunter etwas problematischer, Anhängerschaft und verknüpft nationale und sociale Probleme mit seiner selbstgeschaffenen Kunstphilosophie. Der Musiker, welcher vordem lediglich Musiker gewesen, war mit einemmal nicht bloß der Schöpfer einer Allkunst, sondern auch einer Allwissenschaft geworden.

Das Aschenbrödel, die Musik, wurde Königin. Ob dies alles wirklich so geschehen ist und sich behaupten und bewähren wird? – Das muß die Zukunft lehren. Zunächst aber glaubte es Wagner selber, und seine Jünger glauben es.

Berauscht von dem mächtigen Phantasiegebilde der Emancipation ihrer Kunst konnten nur wenige Musiker Wagner vollständig widerstehen. Fühlten sie sich auch persönlich zurückgestoßen, war ihre eigene Kunstweise auch eine ganz andre als die unendlichen Melodien von Bayreuth – sie konnten doch dem Meister ihre Huldigung nicht ganz versagen, der ihrer Kunst eine unabsehbare neue Perspektive der Macht und der Ehren eröffnet hatte.

Was schadete es, wenn besonnenere und klarere Denker die Köpfe schüttelten, dem neuen Evangelium widersprachen oder es vornehm ignorierten? Auf dieser Seite sah man doch nur die neidische nüchterne Kritik, auf der andern die begeisternde That.

Die alten musikalischen Großmeister waren vielleicht größere Komponisten gewesen, aber Wagner war der tonangebende Mann der Zeit. Unerschrockene Verehrer fanden nur noch ein Porträt, welches sie würdig neben das Bild des Meisters hängen konnten, – das Porträt Bismarcks.

Freilich nicht jeder Musiker, dem Wagner unangenehm gewesen war, und der sich ihm nachgehends doch zu Füßen warf, flog so hoch in seinen Gedanken.

Zum Idealismus gesellte sich dann für ihn der Realismus, zur Emancipation der Musik die Emancipation der Musiker, und für diese hatte auch der beschränktere Kopf ein volles Verständnis.

In der älteren Zeit war der Musiker ein Musikant gewesen, gering geschätzt in seiner socialen Stellung, sofern er nicht der Kirche oder einem Fürsten diente. Der Fluch des alten Pariatums der unehrlichen fahrenden Fiedler haftete immer noch auf dem Stande, selbst in einer Periode, wo Maler und Poeten schon zu großem socialen Ansehen gekommen waren.

Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, mehr noch die erste des 19., brachte zwar auch hier einen Umschwung, dessen Eintritt durch Gluck und Beethoven bezeichnet wird. Ein bloßer Musiker konnte fortan, auch wenn er nicht im Hofdienste stand, ein social hochgeachteter, ja ein vornehmer Mann werden. Franz Liszt brachte es als Pianist gar zum Kammerherrn, während mancher ausgezeichnete Kollege in der Zopfzeit froh gewesen war, wenn er es nur zum Kammerdiener gebracht hatte.

Allein den Gipfel hat doch Richard Wagner erreicht. Künstlerische Günstlinge der Fürsten, die als solche mächtigen Einfluß übten, hatte es seit Farinellis und Faustinas Tagen verschiedene gegeben. Richard Wagner jedoch erhob sich seit 1864 stufenweise selber zu einer fürstlich gefreiten Stellung, wie sie gar kein Künstler jemals errungen hat. Die Einzelzüge dieser märchenhaften Erhebung wird erst eine kommende Zeit specialistisch genau darstellen können, und die Sage wird sich dabei mit der Anekdote und der Geschichte verbinden.

Freilich der Orchestergeiger in Berlin oder Wien, welcher Tag und Nacht doppelt angestrengt arbeiten mußte, um endlos lange Musikdramen zur vollendeten »Interpretation« zu bringen, hatte keinen Vorteil davon, wenn ein Teil des Münchener Bahnhofs abgesperrt wurde, weil Richard Wagner durchreiste und ungestört frühstücken wollte. Allein er fühlte sich doch in seinem Standesbewußtsein gehoben und murrte nicht mehr, denn der »Tondichter« war doch der einzige Künstler, auf welchen selbst die Eisenbahn Rücksicht nahm. Wir sprechen so viel vom modernen Ideale der Gleichheit. Wer aber heute dem persönlichen Stolz und Ehrgeiz der Menschen schmeichelt, der steckt sie dennoch alle in die Tasche, – heute wie zu jeder Zeit.

Mit der erhöhten, so ganz ausnahmsweise begünstigten socialen Stellung der führenden Meister wie Liszt und Wagner wuchs ganz von selbst auch das sociale Ansehen und das Selbstbewußtsein der namhaften Wagner-Dirigenten, Wagner-Sänger und Wagner-Orchester und zuletzt das Ansehen der ganzen Künstlergenossenschaft. Warum hätten sie dem Meister nicht dankbar sein und alle Schmerzen vergessen sollen? Die ungeheure Mehrheit der Soldaten von Napoleons großer Armee blieb bei all dem fabelhaften Aufsteigen des Kaisers zwar äußerlich, was sie war, und doch fühlte sich auch der geringste Mann gewachsen und glaubte, den Marschallsstab im Tornister zu tragen; er trotzte den höchsten Strapazen und Gefahren mit Freuden, während der Soldat der alten Reichsarmee sein viel bequemeres und gefahrloseres Dasein nur mit Mißmut ertragen hatte.

Es liegt etwas Napoleonisches in Wagners Erfolgen wie in dem unwiderstehlichen Zauber, den er auf seine Gefolgschaft übte.

Man hat das Gleiche von Ferdinand Lassalle behauptet.

Wer aber könnte bei so altmodisch bescheidenen Künstlern wie Bach, Haydn oder Mozart jemals an einen Welteroberer oder an einen Socialdemokraten denken? Schade für sie! ihre Werke würden sonst der Gegenwart vielleicht etwas höher stehen.

VIII.

(Die Hochschule des Publikums.) Es gibt Komponisten, welche dem Publikum dienen und seinen Launen schmeicheln. Sie schreiben dankbar für Sänger und Spieler und gefällig für die Hörer. Den Erfolg tragen sie im Voraus in der Tasche und können vorübergehend weitberühmt werden. Mitunter sind diese Leute wirkliche Talente – ohne Charakter; häufiger jedoch bloße Nachahmer, welche die als wirksam erprobte Eigenart schöpferischer Meister glätten und schmeidigen, popularisieren und trivialisieren. Sie machen das Neue zur Mode, blühen als Modekomponisten und veralten so geschwind, wie Moden zu veralten pflegen. Leider wird die Musik mehr von der Mode beherrscht als irgend eine andre Kunst, und so ist auch die Zahl jener gefälligen Diener der musikalischen Mode immer eine sehr große gewesen. Man schätzt sie bequemer nach dem Dutzend, als daß man sie einzeln aufzählte.

Es gab andrerseits Tonmeister, die sich um kein Publikum kümmerten, weil sie keines hatten und keines suchten und es vielleicht erst lange nach ihrem Tode fanden. Gibt es dergleichen auch heute noch? Das klassische Urbild dieser Art ist Sebastian Bach. Einsam folgte er den geheimnisvollen Pfaden, auf die ihn sein Glauben und Denken, auf die ihn sein gottbegnadeter Genius wies. Seine Werke wurden bei seinen Lebzeiten von einer treuen Gefolgschaft von Kennern und Schülern bewundert und studiert, seine Kantaten erbauten diese und jene Kirchengemeinde, unter welchen jedoch wohl nur wenige waren, die das verstanden, was sie erbaute. Die meisten dieser wunderbaren Schöpfungen blieben als Handschrift in des Meisters Notenschranke verschlossen, um später teils zu Grunde zu gehen, größerenteils aber nach hundert Jahren dennoch wieder ans Licht zu kommen. Heute hat Bach eine unermeßliche Gefolgschaft, die der Mann beherrscht, welcher keinem Publikum dienen und kein Publikum beherrschen wollte, weil er gar nicht wußte, was eigentlich ein Publikum ist.

Zum dritten gibt es Meister, die das Publikum sehr wohl kennen, die sich aber von ihm abwenden, die ihm trotzen, weil sie die Launen des Tages verachten. Ein solcher Meister war Beethoven in seiner Spätzeit. Er schrieb seine tiefsinnigen letzten Quartette, er schrieb die erhabenen Offenbarungen seiner großen Messe abgewandt vom herrschenden Geschmacke der Zeit. Für seine früheren Schöpfungen besaß er damals eine treu, ja leidenschaftlich ergebene Schar von Verehrern; aber für das, was er gegenwärtig schuf, besaß er kein Publikum. Dieses konnte sich erst zusammenfinden, als es allmählich reif wurde für das Verständnis seiner neuen Art, als andre künstlerische Strömungen kamen, die Beethoven nicht erlebt und die er doch hervorgerufen hat.

Ich komme zu einer vierten Gruppe. Es gab Meister, die ein europäisches Publikum gewannen, ohne daß sie sich darum kümmerten, ja die ein solches geraume Zeit besaßen, ohne es zu merken. Naive Meister einer naiven Epoche, vergaßen sie ihre eigenen Werke von gestern über denen, welche sie heute schufen. Aber das Publikum vergaß auch jene nicht, weil es eine freiwillige Gefolgschaft war, die festhielt, was ihr das Herz bewegte. Ein solcher Meister war Joseph Haydn, als er noch in Eisenstadt für sich und seinen Fürsten Symphonien und Quartette schrieb, die ohne allen »Vorbehalt irgendwelcher Rechte« in die Welt hinaus gingen und überall gespielt, gehört und nachgedruckt, aber fast nirgends »besprochen« wurden. Erst in London lernte Haydn sein großes Publikum von Angesicht kennen, das nicht er, sondern das ihn gesucht hatte. Aehnliches kann man von Mozart sagen; doch stand er schon seit den Kindertagen mehr im Publikum als sein Freund Haydn.

Richard Wagner paßt in keine dieser vier Kategorien, Er faßte von Anbeginn das Publikum ins Auge, er trachtete schon in seinen Frühwerken, sich ein solches zu erobern: denn was wäre ein moderner Bühnendramatiker, der nur für sich allein sönne und dichtete? Die Bühnenkunst verzehrt sich selbst am raschesten, und wenn der Künstler warten wollte, bis das Publikum zu ihm käme, dann würde seine Zeit vorübergehen, und seine Werke würden veralten, bevor sie ans Licht getreten wären. Kirchenwerke können hundert Jahre nach ihrer Geburt erst lebendig werden; bei der Oper aber entscheidet das Jahrzehnt, das Jahr, der Tag. Das Opern-Publikum war und ist immer zum größten Teile ein Mode-Publikum. Das wissen die Theaterdirektoren sehr gut und richten auch ihren Spielplan danach ein, wenn sie »auf Kasse« spielen.

Wagner schmeichelt dem Publikum nicht, um ihm zu dienen, wie die kleinen Mode-Komponisten; er schmeichelt ihm auch nicht, um es zu beherrschen, wie Rossini und Meyerbeer gethan; er trotzt ihm nicht wie Beethoven; er ignoriert es nicht wie Bach; er läßt es nicht von selber herankommen wie Haydn und Mozart: – er erzieht und schult sich sein Publikum und läßt es schulen und drillen durch seine Partei; er will ein großes, ja das ganze Publikum haben, und dieses ganze Publikum soll ausschließend sein eigen sein, sein Heerbann, welchen er persönlich einexerziert, um ihn ganz selbstherrlich zu kommandieren. Beethoven hat heute immer noch ein größeres Publikum als Wagner, allein dieses Publikum ist durchaus nicht bloß Beethovenisch; Wagners Publikum dagegen soll möglichst ausschließend Wagnerisch sein.

Im Theater spielt das Publikum immer mit; Wagner hat das Mitspielen seines Parterres nicht minder zu verbessern gesucht als das Spiel seiner Künstler auf der Bühne, und das Publikum soll mitspielen, um dem »Ganzen« zu dienen, also auch, und nicht zuletzt, dem Meister.

Darum kann Wagner die altmodischen Gewohnheitsbesucher des Theaters nicht brauchen, die Stammgäste, die Abonnenten, welche vor allen Dingen Unterhaltung fordern. Sie fügen sich keiner ästhetischen Disciplin und klatschen, wann's ihnen gefällt. Sie besuchten gestern die »Regimentstochter«, um sich zu amüsieren, und lassen sich heute Glucks »Iphigenie« gefallen, um sich vornehm zu langweilen; sie begehren morgen den »Lumpacivagabundus«, um zu lachen, und übermorgen »Maria Stuart«, um zu weinen. Weil sie unablässig wiederkommen, wollen sie einen unablässig wechselnden Spielplan. Wagner hingegen will einen sehr einheitlichen und gleichförmigen Spielplan, nämlich seinen eigenen, er bedarf darum eines häufig wechselnden Publikums, welches aber doch immer sein eigenes sein soll. Dieses Problem bildet einen Kernpunkt seiner Bühnenreformen und führte ihn zuletzt nach Bayreuth.

Es gibt aber auch Kunstfreunde, die keineswegs bloß flüchtige Unterhaltung im Theater suchen, die aber doch, und gerade weil sie künstlerisch hoch gebildet sind, verlangen, daß uns die Bühne Meisterwerke der verschiedenen Zeiten, Nationen und Stilweisen fort und fort lebendig erhalte und in planvoller Folge vorführe. Früher nannte man dieses Publikum »das wissenschaftliche Parterre«. Allein Männer der Wissenschaft gehen heutzutage überhaupt nicht mehr viel ins Theater, und am allerwenigsten in die Oper: das wissenschaftliche Parterre ist nur noch eine Sage. Der unmittelbare Einfluß der Wissenschaft auf die Musik war niemals besonders groß, er ist selbst bei jener Kunst, wo er zu Zeiten am größten war, bei der Poesie, recht klein geworden, wie sich andrerseits auch der Einfluß der Kunst auf die Wissenschaft verringert hat. Wagner huldigte diesen wechselseitigen Einflüssen nur, insofern er sich seine eigene Wissenschaft machte, die er mit seiner eigenen Kunst zu verbinden suchte. Da er jedoch in erster Linie schaffender Künstler war, so lag ihm jene wissenschaftliche Objektivität ferne, die jeden bedeutenden Meister, jede bahnbrechende Stilweise in ihrer Art hätte gelten lassen, auch wenn sie der seinigen schnurstracks entgegen gewesen wäre. Also konnte er auch das »wissenschaftliche Parterre« nicht brauchen. Es schmeckte ihm nach Schulweisheit, nach Aesthetik und Kunstgeschichte, und er that das Seinige, daß die letzten Reste desselben vor einem »Wagner-Repertoire« verschwanden.

Ich kehre zu dem engeren Thema zurück, zu dem Thema »Wagner als Erzieher« – seines Publikums.

Leute, die einen auslachen würden, wenn man ihnen sagte, sie sollten sich auf das Anhören einer gewöhnlichen Oper, etwa des Don Juan oder des Fidelio, durch das Studium von Textbuch, Partitur und einschlagender Litteratur vorbereiten, studieren mit Eifer Schriften über den »Ring des Nibelungen« und den Klavierauszug, vor allem aber das Textbuch, bevor sie ins Theater gehen. Leute, die sonst meinen, das beste Textbuch müsse eigentlich sich selbst überflüssig machen, weil es eine so klare Handlung biete, daß man deren Gang auch ohne Buch verstehe, halten umgekehrt die Wagnerschen Musikdramen schon darum für die allerbesten, weil man sie ohne Textbuch gar nicht genießen kann und ohne diesen Ariadnefaden gottverlassen und hilflos von einem Akt zum andern irrt.

Kurze Zwischenakte galten vordem für das Zeichen einer guten und angenehmen Aufführung; bei einem Zwischenakt von zehn Minuten begann das Publikum bereits zu murren. Bei Wagner bewundert man, daß er Zwischenakte von einer halben Stunde machen konnte und freut sich im voraus auf den großartigen Zwischenakt; der arme Mozart hatte es bei seiner klein angelegten Musik nicht einmal zu halb so großen Zwischenakten gebracht.

Zu den neuen Bühnenreformen gehört auch die Reform des Publikums. Das »große Publikum« dachte früher mit jenem Franzosen, daß jede Kunstweise gut sei, nur nicht die langweilige. Heute schwelgt das größte Publikum geradezu in der Erhabenheit der Langeweile und glaubt, daß die geniale Tiefe eines Tonwerks erst vollgültig werde durch einen bedeutenden Prozentsatz von Langweiligkeit. Man langweilt sich jedoch, ohne es einzugestehen, weil man sonst für ungebildet gelten würde. Wie das Leben Leiden ist, so gehört auch die Kunstqual zum vollen Kunstgenuß.

Das Publikum Wagners ist aber nicht bloß von dem Meister und seinen Freunden erzogen worden, es erzog und erzieht auch fortwährend sich selber. Im »Fidelio« darf der Zuhörer mit seinem Nachbarn bei den ergreifendsten Stellen plaudern, ohne Anstoß zu erregen; würde er dies aber auch im »Tristan« wagen, so wäre er bald genug von rechts und links zur Ruhe gezischt. In gewöhnlichen Opern klatschen die Leute nach einzelnen Nummern bei offener Scene; in den Wagnerschen verharren sie andachtsvoll stille bis zum Aktschluß, klatschen dann aber um so kräftiger. Der Schlußapplaus des Abends pflegt in Konzert und Theater gewöhnlich etwas dürftiger auszufallen als die vorhergehenden Beifallsspenden; denn wenn man aufsteht, die Handschuhe anzieht und den Hut ergreift, hat man die Hände nicht mehr frei zum Klatschen. Das richtige Wagner-Publikum verfährt ganz anders. Es bleibt nach dem letzten Aktschluß noch eine Weile fest sitzen, um so mit gesammelter Kraft und Ausdauer den Beifallssturm erbrausen zu lassen. Wann die Handlung auf der Bühne zu Ende ist, beginnt als allerletzter Akt – die Handlung im Zuschauerraum und dauert minutenlang.

Infolge der Bühnenreform hat das moderne Publikum auch in der Kunst des Applaudierens ungeahnte Fortschritte gemacht. Der feine Beobachter entdeckt hier merkwürdige Unterschiede. Den klassischen Meisterwerken wird mehrenteils nur ein altmodischer Applaus zu teil, und dieser altmodische Applaus, sei er noch so echt und begeistert, klingt wie ein Orchester ohne Kontrabaß; der moderne Wagnersche Applaus dagegen wie ein Orchester mit zehn Bässen. Dieses Basses Grundgewalt liegt in den Händen der Jugend, und die Jugend hat die kräftigsten Hände und die stärksten Stimmen. Der Jugend gehört die Zukunft: sie hat auch die Zukunftsmusik zur Musik der Gegenwart gemacht.

Ich spreche hier von Kleinigkeiten, die eher in ein Tischgespräch zu gehören scheinen als in ein Buch. Allein Züge zum Studium des Publikums sind noch lange nicht das Kleinste, was einen ernsthaften Kulturhistoriker beschäftigen mag. Was gäben wir darum, wenn wir über Homers und Dantes, über Shakespeares und Calderons zeitgenössisches Publikum genau unterrichtet wären und wenn wir neben der Geschichte der Künstler aller Perioden zugleich auch eine »Geschichte ihres Publikums« schreiben könnten! Erst die Zukunft wird uns den Versuch dieser neuen Disciplin bringen.

Sie wird dann besonders reiches Material bei Wagner finden, und »Bayreuth« wird einen Markstein, eine Epoche bezeichnen.

Der »Meister« fand unsre alten Theater nirgends ganz entsprechend für seine neuen musikdramatischen Probleme. Er baute sich sein eigenes Theater, nicht bloß mit veränderten Bühnen- und Orchesterräumen, sondern auch mit einem anders angelegten Zuschauerraum.

Dieses Theater soll zunächst nur ein Wagnersches sein, dem Hauptzwecke dienend, daß die Werke des Meisters bis ins Kleinste und Neuerlichste vollkommener dort aufgeführt werden, als es auf andern Bühnen möglich ist; es soll den Urkanon der allein echten Darstellung Wagnerscher Dramen aufstellen, festigen, nach außen verbreiten und für alle Zukunft sichern. Und auch der Meister selbst hat hier noch die Schule für sich gemacht in der Erprobung und Ausfeilung seiner eigenen Bühnentechnik. Kein früherer Bühnenkomponist vermochte sich solchergestalt seine eigene Musterbühne zu gründen und dieselbe dauernd zu behaupten, keiner! – weil keiner das diktatorische und agitatorische Wollen und Können Wagners besaß, und weil keinem jene märchenhafte Gunst des Glücks lächelte, die Wagner hier wie überall gehoben und getragen hat. Denn ohne König Ludwig II. hätte selbst Wagner sein Festspiel-Haus nicht zu stande gebracht.

Neben dem Hauptzweck der Musterbühne ist diesem Hause aber auch noch eine andre Aufgabe gestellt.

Bayreuth soll nicht nur die Hochschule von Wagners Kunst, es soll auch die Hochschule seines Publikums sein, welches hier lernen soll, wie man das Musikdrama zu sehen und zu hören hat.

Das gewöhnliche Publikum der gewöhnlichen Theater ist aus den verschiedensten Elementen zusammengesetzt. Da kommen Leute, die dem aufzuführenden Werke völlig gleichgültig gegenüberstehen, andre, die es von vornherein mit günstigem Vorurteil begrüßen, und wiederum andre, die es anhören, obgleich sie dagegen voreingenommen sind. Man sollte meinen, die letzteren blieben besser zu Hause. Allein kritisieren, ja kritisch vernichten ist auch ein Genuß: mit der Eintrittskarte erkauft man sich das Recht, über die Vorstellung räsonnieren zu dürfen, und ich kenne in der That Leute, die Wagners sämtliche Opern hören, um jenes Recht im vollsten Umfange zu gewinnen.

Wenn sie dies nun nicht etwa aus Eigensinn oder grundlosem Vorurteil thaten, sondern aus schon vorher begründeter Ueberzeugung, wenn sie es thaten, weil sie Charakter hatten, dann durften diese Leute jedoch nicht nach Bayreuth gehen. Denn zu den Festspielen von 1876 löste man keine Eintrittskarte, sondern einen »Patronatsschein«, man bekannte sich von vornherein als Gönner der Kunst, die dort geübt werden sollte, und der Patron der Patrone war »der Meister«. Es versammelte sich also damals überhaupt kein Publikum in Bayreuth, sondern eine Gemeinde, und wer kein Gläubiger ist, der soll sich nicht in eine Gemeinde drängen.

Etwas Aehnliches ist in der Geschichte aller Bühnen noch nicht dagewesen, wenigstens gewiß niemals in solchem Maßstabe, und es beweist die magisch fesselnde Gewalt Wagners, daß er dies fertig brachte.

Zwar werden sich bei den späteren Bayreuther Festspielen dieselben Elemente hinzugesellt haben, die jedes Theaterpublikum besitzt: kühle Beobachter, Gleichgültige und Gegner. Allein die Proportion war und ist doch eine andre: die schwärmerisch Begeisterten bilden die maßgebende Gruppe, die übrigen treten zurück, bedeuten wenig und entscheiden gar nichts. Und da Begeisterung ansteckt, so sind ohne Zweifel hundertmal mehr Gegner oder Gleichgültige in Bayreuth bekehrt, als Anhänger abtrünnig geworden. Jedenfalls erreichte Wagner, was er wollte: seine eigene und alleinige Gemeinde in seinem eigenen und alleinigen Theater.

Und diese Schule von Bayreuth wirkte dann nach in dem Wagner-Publikum aller übrigen Bühnen nicht bloß Deutschlands, sondern auch des Auslands. Als ein höchst merkwürdiges Resultat ergab sich dann hierdurch, daß Wagner eine sehr große und immer noch wachsende Menge von schwärmerisch begeisterten Gläubigen besitzt neben einer nicht kleinen Zahl von Gegnern, während eine starke mittlere Gruppe zwischen diesen Extremen fehlt. Ich meine besonnene, kunstgebildete Männer, die Wagners Kunst voll und vorurteilslos auf sich wirken lassen, ohne blind zu sein gegen seine Einseitigkeiten und Übertreibungen, ohne taub zu werden gegen die Vorzüge von vielerlei Kunst ganz andrer Form und ganz andren Ideales, die gerecht sind gegen Wagner und nicht minder gerecht gegen unsre übrigen großen und kleinen Meister. Dieser gesunde und gediegene Mittelstand kommt angesichts der Wagner-Schwärmer kaum zum Worte. Und doch verbürgt nur er die Dauer des Erfolgs.

Man hat es beklagt, daß Wagners ursprüngliche Absicht, sein eigenes Wagnertheater in München zu erbauen, nicht ausgeführt worden ist. Der große Architekt Semper hatte ja schon den Plan zu dem Prachtbau entworfen, der auf der Höhe des Gasteig jenseit der Isar über der Kunstmetropole thronen sollte, durch eine eigene monumentale Brücke mit der Stadt verbunden. Von dem kühnen Unternehmen ist nur das in Holz geschnitzte Modell übrig geblieben, welches in der Sammlung der Münchener Technischen Hochschule verwahrt wird.

Wagner hatte doch vielmehr Glück, hier wie anderswo, da ihn das Mißlingen jenes Planes nach Bayreuth führte. Ein großes Theater in einer großen Haupt- und Residenzstadt ist nichts besonders Merkwürdiges, aber ein Privattheater in einer abgelegenen Provinzialstadt, zu welchem ein Weltpublikum strömt, ist noch nicht dagewesen. In München, der Kunstmetropole, würden trotz Wagners diktatorischer Eigenart doch allmählich fremde Einflüsse in seinem Bühnenhause sich geltend gemacht haben, seine Bühne würde doch zuletzt Münchnerisch geworden sein. Bayreuthisch ist das Wagner-Theater in Bayreuth nicht geworden und kann es nicht werden; vielmehr wurde Bayreuth Wagnerisch. Und da sich dort nicht nur die Hochschule Wagnerscher Kunstübung, sondern auch die Hochschule zur Wagnerschen Erziehung des Publikums rein und gesammelt entwickeln konnte, so ist es kein Wunder, daß München wenigstens im Punkte des musikdramatischen Lebens seit einer Reihe von Jahren – Klein-Bayreuth geworden ist.

Der Gedanke, neben den vielen und vielerlei deutschen Hauptstädten auch noch eine Musik-Hauptstadt in Bayreuth zu gründen, ist echt deutsch. Wir Deutsche sind mißtrauisch gegen jede Centralisation, die uns vielmehr französisch dünkt, zu allermeist aber fliehen wir dieselbe in künstlerischen Dingen. Wagner hätte darum nichts Ungünstigeres thun können, als wenn er seine Musterbühne nach Berlin verlegt hätte. Eine artige Anekdote – auch dann treffend, wenn sie nicht wahr ist – erzählt: Wagner habe in seinen letzten Lebensjahren den Gedanken gehegt, sein Festspiel-Haus nach Berlin zu verpflanzen und in diesem Sinne – leise anklopfend – zu Bismarck gesagt, wie schön es doch wäre, wenn zwei Männer wie sie beide gemeinsam an demselben Orte wirkten, worauf der Reichskanzler erwidert habe, das sei wohl wunderschön, aber leider habe er gar keine Aussicht nach – Bayreuth versetzt zu werden.

Das deutsche Bühnencentrum ist übrigens Bayreuth trotz dauernder Erfolge doch nicht geworden: gerade dieses verhinderte wieder dieselbe deutsche Centrifugalkraft, die sein Gedeihen förderte. Alle zwei Jahre der Mittelpunkt der Wagnerschen Bewegung, wird es in der Zwischenzeit wieder die stille oberfränkische Landstadt, wo die weitverzweigten Fäden der Agitation stille fortgesponnen werden, wo die Erinnerungen an die alte Markgrafenzeit und an Jean Paul wieder aufleben neben den Erinnerungen an Wagner, der hier seine Bühne, sein Haus und sein Grab gefunden hat. In diesem wundersam kontrastierenden Wechsel der Erscheinungen ruht die Poesie von Bayreuth.

Bei Wagner ist alles außerordentlich, auch die Kunst, womit er seiner Kunst zum durchschlagenden Erfolge verhalf, womit er sich ein eigenes Publikum schuf und schulte. Bei Beethoven und andern Komponisten waren nur die Kunstschöpfungen außerordentlich, der Erfolg und das Publikum kam auf ganz gewöhnlichem Wege. Ich machte einmal diese Bemerkung gegen Liszt und fügte freimütig hinzu, daß mir das äußerst kunstreiche Getriebe der Reklame und Agitation seiner Partei sehr wenig gefalle. Liszt erwiderte: »Das geht heutzutage nicht anders; wir leben in der Zeit der Eisenbahnen; die ›Eroica‹ fällt in die Zeit der Postkutschen.« – Man sieht, der Künstler faßte die Sache »kulturhistorischer« als der Kulturhistoriker.

Das Publikum der Bayreuther Festspiele soll sich im Lauf der Jahre nicht gemindert haben. Hat es sich aber nicht verändert? Ist es heute noch wie 1876 weit überwiegend eine Gemeinde, kein Publikum, was sich alle zwei Jahre in Bayreuth versammelt? Viele verneinen dieses, andre behaupten es, und die Statistik läßt uns hier im Stich; denn man kann die Köpfe wohl zählen, aber nicht den Geist, der allenfalls darin steckt. Allein das größte Publikum kann naturgemäß nicht das »gewählteste« sein. Bei allen Künstlern, die so weittragende Erfolge gewannen, daß der Erfolg selbst wieder neue Erfolge gebar, minderte sich mit der wachsenden Masse der Gefolgschaft deren Durchschnittsqualität, und wie diese Gefolgschaft anfangs, da sie noch reiner gewesen, den Künstler förderte, so kann sie ihn später, wo sie immer gemischter wird, auch schädigen. So war es zu allen Zeiten, und die größten Meister haben zeitweilig unter ihrem großen Publikum gelitten. Es fragt sich nur, nach welcher Seite das Publikum entartet und auswuchert, und diese Richtung ist gerade durch die Anstöße und Motive seines Anwachsens bedingt. Dieser Gedanke führt mich wieder nach Bayreuth.

Ohne Zweifel wallfahrten auch heute noch sehr viele andächtige und überzeugungsvolle Bekenner zu den Festspielen. Allein für einen großen Teil der Besucher wird dieses Reiseziel mehr und mehr zum Sport. Sie suchen nicht die künstlerische Weihe, sondern das Ungewöhnliche, noch nie Dagewesene, Weltberühmte; sie wollen dabei gewesen sein, weil andre auch dabei waren.

Ich will den Ausdruck »Sport« an einem sehr nahe liegenden, vielfach verwandten Beispiele erläutern.

Als ich vor dreißig Jahren mit einigen Freunden zu Fuß nach Oberammergau ging, um das Passionsspiel kennen zu lernen, welches erst zehn Jahre vorher durch Devrient litterarisch entdeckt worden war, betrachteten uns die Bauern der Ortschaften, durch welche wir zogen, als fromme katholische Pilger, welche nach dem Dorfe der Passion wallten, um ein kirchliches gutes Werk zu vollbringen, womit selbstverständlich einige asketische Uebung verbunden war. Und das neunstündige Sitzen auf einem schmalen Brett in Sonnenbrand und Regen mochte schon für etwas Askese gelten. Leider konnte ich den Ruhm des Pilgers nicht beanspruchen; denn ich kam nur als Freund und Beobachter des Volkes und seiner naiven Kunstübung; allein die große Mehrzahl der Besucher pilgerte damals wirklich zum Passionsspiel wie zur Kirche.

Solch eine fromme Gemeinde versammelte sich auch 1890 allwöchentlich noch in Oberammergau, sie trat aber zurück hinter den Tausenden und Abertausenden, die aus Europa und Amerika dorthin strömten, weil der Besuch des Passionsspieles Sport geworden war. Als Mann von Welt mußte man das Bauerntheater gesehen haben, welches kein Bauerntheater mehr ist, man mußte davon erzählen können wie vom Eiffelturm und den ägyptischen Pyramiden. Eine beiläufige Askese fehlte auch noch nicht ganz bei den Nachtquartieren und bedeckten Sperrsitzen des fortgeschrittenen Oberammergau. Sonst wäre der Besuch ja auch kein rechter Sport gewesen, zu welchem immer etwas Qual und Entbehrung und Wagnis gehört.

Hatte der Sport-Reisende das Passionsspiel überstanden und sich dabei vielleicht in ungeahnter Weise wirklich tief erbaut, dann besuchte er noch die »Königsschlösser« und hörte in München ein Stück vom »Ring des Nibelungen« als Ersatz für Bayreuth, wo im Passions-Jahre nicht gespielt wird. Man kann keinen würdigeren Sport treiben, allein Sport war es doch bei vielen Tausenden. Ohne die ansteckende Kraft des Beispiels, welche jede Menschenmenge in sich selbst entwickelt, ohne die lawinenartig von Zeitung zu Zeitung, von Mund zu Mund wachsende Reklame, ohne die lockende Organisation der Reise-Unternehmungen mit allem, was daran hängt, würde der weitaus größere Teil der heutigen Besucher Oberammergaus nicht im Traume darauf verfallen sein, sich in dem abgelegenen Alpendorfe an der Leidensgeschichte des Heilands zu erbauen, an welchen sie vielleicht längst nicht mehr glaubten oder niemals geglaubt haben.

Ganz Aehnliches gilt von dem großen äußeren Ring der Besucher von Bayreuth, der hier wie dort den fortbestehenden alten Kern der gläubigen Gemeinde nicht ausschließt. Jener Ring macht die Ziffern der Besuchs-Statistik erst recht imponierend und doch umschließt er die größte Gefahr für das ganze Unternehmen, in Bayreuth wie in Oberammergau. Mit dem wachsenden Sport können beide Bühnen zuletzt zu Grunde gehen – an ihrem Publikum.

Vielleicht kommt aber auch eine Zeit, wo unser ganzes Kunstleben Bayreuthisch wird, wo Kunstwerke überhaupt nur noch zur allgemeinen Geltung durchdringen, wenn die Hochdruck-Maschine der Agitation für das Unerhörte, Riesige, Einzige mit koncentrierten Parteikräften und Geldkräften arbeitet, wo jeder große Maler sich seine besondere Bildergalerie auf die Vereins-Aktien seines Publikums erbaut und jeder große Dramatiker sein apartes Theater. Das größte Publikum wird dann bewundernd aus allen Ländern hinzu strömen, und alle Kunst wird zuletzt ein Gegenstand des höheren Reisesports werden.

Nur wenige vereinsamte Kunstjünger, Kunstfreunde und Kunstkenner, denen Pflege und Genuß einer selbstlosen Kunst eine heilige stille Liebe ist, werden dann noch mit Wehmut auf jene kindlichen Zeiten zurückblicken, wo Künstler auch im kleinen groß sein konnten und berühmt in der Verborgenheit, wo erhabene Meister die herrlichsten Werke schaffen konnten, indem sie sich um keine Partei und kein Publikum kümmerten und über keine weitere Hilfe verfügten als über die in sich selbst beseligte Kraft ihres Genius.

IX.

(Nationale Tonkunst.) Durch Richard Wagner gewannen wir erst eine wahrhaft nationale deutsche Tonkunst. So behaupten die Freunde des Meisters. Wenn andre auch das nationale Streben Wagners durchaus nicht bestreiten, so finden sie doch, daß wir eine unendlich reiche, echt nationale Musik schon längst besessen haben, und daß nur hier wie in den übrigen Künsten zu unsrer Zeit das bewußte Wollen des Nationalen schärfer ausgesprochen und bestimmter gefordert worden sei, wobei sich nebenher auch eine minder erfreuliche, früher unbekannte Kunst entwickelt habe – die Kunst der nationalen Phrase.

Jedenfalls hat der von Wagner und seinen Freunden erhobene, von andern bekämpfte Anspruch, daß wir nun erst zu einer vollgültig nationalen Musik gekommen seien, eine höchst nützliche Wirkung gehabt: man fragt sich und prüft, worin denn der »nationale Charakter« der Musik überhaupt bestehe?

Ich versuche einen kleinen Beitrag zur Beantwortung dieser großen Frage zu geben.

Die Wurzel aller nationalen Musik ruht im Volksliede. Schon beim ersten Anhören eines solchen Liedes unterscheiden wir leicht die deutsche, slavische, magyarische, französische Weise, selbst wenn wir keine Worte verstünden. Aus dem Volksliede gestalteten sich die typisch nationalen Formen der Kunstmusik.

Das deutsche Volkslied ist einfach, frisch, sinnig und innig; in überraschendem Effekt, in packender Originalität ist ihm der Zigeunertanz, das russische Lied, der französische Chanson überlegen. Es liebt achttaktige Perioden mit einer Cäsur in der Mitte – die verrufenen »Vierer« –; anstürmende rhythmische Rückungen sind ihm fremd; sein Lieblingstempo ist das behagliche Andante. Im Schlußmotiv einer Periodengruppe kehrt es gerne wieder zum Anfang zurück. Die Chromatik kennt es kaum und bevorzugt weitaus Dur vor Moll. Es liebt die Tonart festzuhalten, es moduliert nicht viel und streift höchstens nächstverwandte Tonarten.

Der Grundcharakter unsers Volkslieds ist dem entsprechend die einfache, sinnige Schönheit; es kann treuherzig, naiv, beschaulich und erbaulich, heiter und schwermütig, lustig, neckisch, humorvoll, gemütlich sein: das Bizarre und Gesuchte, das wild und gewaltsam Leidenschaftliche liegt ihm fern, und vom bacchantischen Jubel ist es ebenso weit entfernt wie von verdüstertem Brüten und bodenloser Verzweiflung.

Es flieht, was die »neudeutsche« Kunstmusik eifrigst sucht, und besitzt, was jene flieht.

Seine schlichte Form gab die Grundlage der melodischen Perioden unsrer klassischen Symphonik; sie tritt im einfachsten Haydnschen Andante hervor wie im gewaltigen Finale von Beethovens neunter Symphonie, dessen Hauptthema geradezu als ein Musterbeispiel des oben geschilderten Baues unsers Volkslieds bezeichnet werden muß, sie klingt uns aus so manchem Chore Bachs und Händels befreundet entgegen. Wir erkennen einen nationalen Schatz in der reichen Fülle kunst- und poesievoller Strophenlieder, mit denen wir unser Leben im Haus und im geselligen Kreise schmücken. Diese Lieder haben schon in der Reformationszeit und neuerdings von Schulz und Reichardt bis zu Brahms und Schumann ihren Ausgang von dem deutschen Volkslied genommen, sie haben sich trotz alles wachsenden Reichtums, aller Steigerung in Form und Ausdruck immer wieder an ihm verjüngt.

Nun steht aber Wagners Musik dem deutschen Volkslied sehr ferne, sie rückte ihm um so ferner, je eigenartiger sie in seinen späteren Werken wurde. Die Jünger gingen auch hierin weiter als der Meister, und die schönsten volksmäßigen Weisen unsrer Kunstmusik werden von nicht wenigen derselben »Bänkelsängerei« genannt. Wagners »unendliche Melodie« hat ihr Vorbild wahrlich nicht in unserm Volksgesang. Wenn man vielmehr das, was ich oben als das Charakteristische des deutschen Volksliedes nach Geist und Form bezeichnete, in sein Gegenteil umkehrt, so erhält man ebensoviele positive Charakterzüge der Wagnerschen Musik. Auch seine Flucht vor dem »Gemütlichen« – einem heute arg verpönten Wort! – und der Mangel des Humors gehören hierher. Und doch ist es ein ganz besonderes Wahrzeichen deutscher, ja germanischer Kunst und Art, daß sie am rechten Orte so gemütlich und humoristisch sein kann.

Die Verjüngung der Kunst in der steten »Berührung mit der Mutter Erde«, mit dem Volkstümlichen, ist jedoch nicht der einzige Grundzug nationaler Art.

Wir Deutsche nehmen es ernst mit der Kunst. Auch durch ihre hohen Probleme, durch ihren Gedankengehalt, durch Würde und Erhabenheit, durch Keuschheit und Reinheit soll sie sich als deutsch ausweisen. Nur bestreite man daneben einer heiteren, ja einer spielenden Kunst ihr Recht nicht, sofern das heitere Spiel nur durch Geist und Schönheit geweiht ist.

Man wird Wagner das Streben nach Entfaltung des Großartigen in der nationalen Kunst gewiß nicht absprechen, man wird nicht bestreiten, daß es ihm Ernst gewesen ist mit den höchsten künstlerischen Problemen. Nur fragt es sich, ob ihm hierbei nicht gefährlich wurde, was ihm überall Gefahr brachte, – Einseitigkeit und Übertreibung?

Die Oper der Italiener von Scarlatti bis Rossini stellte das Schöne über das Charakteristische, das Musikdrama der Franzosen von Lully bis Berlioz ringt nach dem Charakteristischen, wobei das Schöne nicht selten geopfert wird; die deutsche Oper seit Glucks Tagen trachtet, das Charakteristische mit dem Schönen zu harmonischem Ebenmaß zu verschmelzen. Gerade durch dieses Ebenmaß ist Gluck so »klassisch« geworden, Wagner blickte auf Gluck als sein erhabenes Vorbild, allein als ein Sohn der Neuzeit wollte er durchaus nicht »klassisch« sein, und so geriet er doch viel mehr auf die Bahnen Lullys als Glucks. Seine Musikdramen sind unendlich musikreicher als Lullys Drames mis en musique, sie sind hochromantisch, während sich bei Lully kaum eine Spur von Romantik findet, und doch stehen sie dem Ideale dieses Schöpfers der französischen großen Oper sehr nahe. Was aber Lully fehlte – musikalischer Formenreichtum und Romantik –, das besaß Berlioz in hohem Grade. Die Geistesverwandtschaft von Wagner und Berlioz wird uns heute immer klarer. Seit Wagners Tode werden wir in Deutschland mit Werken von Berlioz überschüttet, die man früher kaum gekannt hat. Das ist begreiflich. Die Wagnerianer streben nach Erweiterung des Wagnerschen Repertoires in Konzert und Theater, und die deutschen Epigonen haben bis jetzt noch wenig Durchschlagendes geboten. So suchen denn die Diadochen des musikalischen Alexander nach älteren Werken, die den Geist des »Meisters« atmen; sie finden dieselben nicht im deutschen Musikschatze, aber sie finden sie bei Berlioz, dem Vollblut-Franzosen, der unserm Musikdramatiker in hohem Grade kongenial gewesen ist.

Die Thatsache reizt zum Nachdenken über die »nationale Kunst«.

Wagner ist nicht nur der unbestritten einflußreichste Komponist der Gegenwart in Deutschland geworden: seine Musik drang auch erobernd weit über unsre Grenzen.

Der Italiener Verdi beugte sich Wagnerschen Einflüssen, und ihm folgt das musikalische junge Italien; in Frankreich besitzt Wagner eine große und höchst rührige Partei; sie wird siegen aus denselben Gründen, aus welchen die Wagnerianer in Deutschland siegten: weil es wohl viele Gegner Wagners in Frankreich gibt, aber keine geschlossene und ausschließende, auf ein einheitlich positives Programm gestützte Gegenpartei. Nordamerikanische junge Musiker kommen in großer Zahl nach Deutschland, um hier Schule zu machen, und die meisten kehren als Wagnerianer heim. Viele slavische Tonkünstler erkennen in Wagner einen Verbündeten. Ich weiß nicht, ob man bereits eine Statistik der Nationalität der Bayreuther Festspiel-Gäste aufgestellt hat; thäte man's, so würden wir staunen über die große, neuerdings vielleicht überwiegende Masse der außerdeutschen Besucher von jeglicher Nationalität.

Am merkwürdigsten bleiben aber doch immer die Erfolge Wagners in Frankreich. Sie würden noch weit größer, sie würden ein vollständiger Sieg sein, wenn ihnen nicht augenblicklich noch der politische Chauvinismus der Franzosen im Wege stünde. Leider war Wagner kein Russe! Welch ein Jubel würde dann seine Kunst an der Seine begrüßen!

Abgesehen von den oben geschilderten formalen Berührungspunkten seiner Dramatik mit der französischen liegt ein tieferer Grund in dem Geist und Wesen seines Schaffens. Wagners Kunst ist eine vornehme, glänzende, sein Auftreten ein diktatorisches. Das imponiert den Franzosen. Die deutsche Bescheidenheit, welche dennoch ein stolz verschwiegenes Selbstbewußtsein birgt und tiefen Gehalt in unscheinbare Formen gießt, imponiert ihnen dagegen ganz und gar nicht. Wir werden an beides in Bayreuth erinnert, der Stadt Wagners und zugleich der Stadt – Jean Pauls! Neuheit um jeden Preis, ein neuer Messias, ein neues Evangelium, hohes Pathos bei einer Fieberglut der Leidenschaft, die uns erzittern macht, ohne uns in tiefster Seele zu bewegen, – wie sollte dies die Franzosen nicht fortreißen?

Wagners Opern, von den »Feen« bis zum »Tristan« und den »Meistersingern«, werden mit der Zeit bei den Franzosen dauernd sich einbürgern. Daß der »Ring des Nibelungen« den gleichen Erfolg in Paris haben werde, möchte ich bezweifeln; nicht, weil der Text dem altdeutschen Sagenschatze entnommen ist, sondern weil selbst der gebildete Deutsche einen Kommentar braucht, um diesen Text zu verstehen. Man muß nicht nur die Dinge nehmen, wie sie sind, sondern auch die Franzosen.

Wir sollten übrigens nicht vergessen, daß in früherer Zeit schon einmal ein Siegeszug deutscher Tonkunst nach Frankreich erfolgt ist, ein Siegeszug der deutschen Instrumentalmusik durch Haydn, Mozart und Beethoven. Nur vollzog sich derselbe ganz von selbst und ohne alle Agitation. Seine Geschichte ist noch nicht geschrieben.

Dem Vordringen der Wagnerschen Kunst ins Ausland entspricht ein Rückströmen fremder Kunst nach Deutschland. Vor erneuter Musikherrschaft der Italiener haben wir uns zwar zur Zeit nicht mehr zu fürchten, und der Kampf gegen die süßen Melodien der italienischen Arien-Oper ist nur noch ein Kampf gegen Windmühlen. Wohl aber können uns Franzosen und Slaven gefährlich werden. Es ist schon beiläufig dreißig Jahre her, seit die weltschmerzliche Salonmusik des französisierten Polen Chopin, vornehmlich durch Franz Liszt, wieder einen ganz ungeahnten Einfluß in Deutschland gewonnen hat, und es gehörte zuletzt mit zu dem musikalischen Testamente Liszts, daß er uns Hektor Berlioz vermachte, der jetzt den Sturm und Drang und die ganze mildgeniale Zerrissenheit der Jeune France von Anno Dreißig, die wir längst überwunden glaubten, wieder in unsre Konzertsäle trägt. Allein der sentimentale Chopin wie der titanische Berlioz waren beide revolutionäre Charaktere, revolutionär gegen die klassische deutsche Musik, und dieser Titel genügt zu ihrer erneuten Berechtigung.

Wenn wir die Spielpläne unsrer großen deutschen Opernbühnen mustern, so herrscht freilich unbedingt Wagner; sehen wir aber von dessen Werken ab, so sind andre gute deutsche Meister spärlicher vertreten als selbst vor fünfzig Jahren trotz der damaligen Hochflut italienischer Opern. Auber, Halevy, Adam, Gounod, Meyerbeer, Bizet behaupten sich, während die älteren deutschen Meister mehr und mehr verschwinden. Weber und Beethoven stehen noch fest, und Gluck und Mozart läßt man sich noch teilweise gefallen. Dasselbe Publikum, welches bei Wagner das Haus füllt, lauscht auch noch gerne der älteren und neuen französischen Effektmusik, aber für die sinnige, gemütliche deutsche Spieloper hat es kein Ohr mehr. Das ist natürlich: es wird ihm ja so oft gesagt, daß dieselbe nichts tauge. Und Aubers »Stumme« steht den Opern Wagners weit näher als Spohrs »Zemire und Azor«; Halevys »Jüdin« ist Wagner viel verwandter als Weigels »Schweizerfamilie«; Dittersdorfs »Doktor und Apotheker« nimmt es an künstlerischem Gehalt mit Adams »Postillon von Lonjumeau« doch sechsmal auf, allein Dittersdorf ist deutsch gemütlich, heiter und humoristisch, darum verstehen ihn unsre Künstler nicht mehr zu »interpretieren«, und das große Publikum versteht ihn nicht zu genießen. Zwischen den »Hugenotten« und dem »Rienzi« schlägt sich eine breite Brücke, aber den »Titus« und die »Götterdämmerung« trennt ein Abgrund.

Unser deutsches Opern-Repertoire verarmt zusehends, und wir dürfen also doch nicht allzu laut jubeln über den Sieg der »nationalen Kunst«, wofern wir darunter noch etwas Weiteres verstehen als Wagnersche Tondramen.

Zeigen unsre Opernbühnen eine starke Rückströmung aus Westen, so macht sich in unsern Konzertsälen ein kaum minder starker Gegenstrom aus Osten bemerkbar.

Es gab bisher drei herrschende Musikvölker: die Deutschen, die Italiener und die Franzosen. Wer die neuere Musikgeschichte von Palestrina bis Wagner in großen Zügen schreibt, der wird sich immer im Kreise dieser drei Nationen bewegen. Sie waren bahnbrechend in den Epochen, schöpferisch in neuen Kunstgattungen; die Großmeister der Tonkunst gehören wechselnd bald der einen bald der andern dieser musikalischen Großmächte an.

Heute scheint eine vierte Macht hinzuzutreten: die slavische.

Der größte Zauber der slavischen (nebenbei auch der magyarischen) Musik für das moderne Ohr ruht darin, daß das slavische Volkslied und also auch Melos, Harmonik und Rhythmik der slavischen Kunstmusik im größten Gegensatz zur deutschen Volksweise und darum weiter zu dem Grundcharakter unsrer klassischen deutschen Tonkunst steht, die so lange geherrscht hat, und deren Herrschaft man jetzt abschüttelt. Zur Zeit unsrer großen Klassiker war Wien die deutsche Musik-Hauptstadt; kein Wunder, daß sich slavische und magyarische Musiker jetzt so entschieden gegen Wien kehren, freilich nicht gegen das heutige Wien, sondern gegen das große musikalische Wien, welches längst versunken ist.

Eine ganze Schar, zum Teil sehr begabter, slavischer Komponisten dringt mit ihrer echt nationalen Musik erobernd in Deutschland vor: Dworak, Tschaikowsky, Moskowski, Smetana und wie sie alle heißen. Der Pole Chopin und der Magyare Liszt haben ihnen die Bahn gebrochen. Die neuslavische Musik gewann die Gunst der »neudeutschen« Schule, nicht weil sie deutsch wäre, sondern weil ihre Jünger in gleicher Front mit den Neudeutschen gegen die schlichten Weisen der klassischen deutschen Musik kämpfen und folglich auch – für Wagner und Liszt. Das erkannte Bülow an, als man ihm seine Prager tschechischen Konzertzettel zum Vorwurf machte. Er hatte den Tschechen den Gefallen gethan, nicht weil sie Tschechen, sondern weil sie die Freunde seiner Freunde waren.

Die rein deutsche Musik erscheint vielen Deutschen heute matt, zahm, spießbürgerlich neben den pikanten, brillanten, klagenden und jubelnden, stürmenden und aufregenden slavischen und magyarischen Weisen, und ein Zigeunertanz dünkt ihnen weit genialer als ein sinniges deutsches Lied.

Das liegt im Geiste der Zeit, der auch die Franzosen und Italiener nicht minder als uns selbst ergriffen hat. Jede Kunstrichtung ist gut, wenn sie nur neu ist, und das Neue ist am besten, wenn es am kühnsten und rücksichtslosesten mit der Vergangenheit bricht. Die Pflege des Nationalen ist konservativ; die Revolution ist kosmopolitisch.

Der mächtigste Förderer der Wagnerschen Richtung, Franz Liszt, war von Haus ein Magyare, der in Frankreich, Italien und Deutschland Kosmopolit wurde, nebenbei auch Freimaurer in Frankfurt, St. Simonist in Paris, Abbé in Rom und Kammerherr in Weimar, um uns Deutsche zuletzt zu lehren, was eigentlich unsre echt nationale Kunst sei. Der bezaubernd liebenswürdige Mann war in seiner Kunst ein sehr vornehmer Revolutionär. Er hat seinem Freunde Wagner die vornehme Welt gewonnen, vorab die vornehmen Damen. Die Revolution geht in unsrer Zeit ebensogut von oben aus wie von unten.

Die Gefahr der Ausländerei droht unsrer Musik nicht mehr von den Italienern, sondern von den Franzosen, von den Slaven und von uns selbst, und als unser nationaler Befreier wird in Zukunft der Genius erscheinen, welcher uns in neuem Geiste wieder zum Urquell des deutschen Volkslieds, zu deutscher Gedankentiefe bei voller Reinheit und Klarheit, bei voller Harmonie der Form zurückführt: ganz anders und doch ähnlich wie wir solche Kunst im Geiste einer vergangenen Zeit bereits besessen haben, und wie sie von dorther Tausende auch heute noch in treuer Liebe festhalten, wenn auch nur als ein verlorenes Paradies.

 


 


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