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Das Fräulein.

(1903)

Die Verwandten mußten von dem Hagelschlag gehört haben – schon am andern Tag rückte Tante Barbara an: »um dem lieben Schwager in seiner Not zu raten,« wie sie sagte.

»Ein Unglück kommt halt selten allein,« sagte Papa, als er ihr aus dem Wagen half.

Raten wollte sie Papa? Sie? Meinem Papa? Papa brauchte Tantchens Rat wahrhaftig nicht.

Die Schloßen lagen noch eiskalt da, da war Papa schon ausgerückt mit Kutschern und mit Hirten, zu Pferde und zu Fuß. Und alle mußten ihre großen Peitschen mitnehmen. So zog man längs der Linien, der Straßen, und wo vom Weizen noch was übrig war, da stampfte mans und peitschte mans in breiten Streifen nieder.

Ich riß die Augen auf und verstand nicht, was es sollte.

»Mein Sohn,« sagte Papa, »jeder Mensch hat sein Pläsier. Wenn General Geyer uns taxieren kommt, wäre er sehr betrübt, wenig Schaden zu finden. Wenigstens längs der Straße, wo ers sieht, soll der gute Mann auf seine Rechnung kommen.«

Als Tantchen die Verwüstung sah, da kamen ihr die Tränen.

Papa tröstete sie immerzu.

»Ach, lieber Schwager, laß mich weinen! Dieser Ruin durch Gottes Fügung! Und deine kleine Tochter! Den Arm in der Binde.«

Ich rief:

»Aber Tante, du winselst ja wie ein Schloßhund.«

Da hatte sie einen dritten Grund zum Weinen, indem ihr Herz darüber bräche, daß ihrer Schwester einzige Tochter so verroht sei.

»Ich bin zwar,« sagte ich, »zufällig ein Junge – aber das wirst du nie verstehen, barbarische Tante.«

Nun wurde die Tante erst recht aufgeregt. Das sei keine Erziehung, sagte sie, so benehme sich ein junges Mädchen nicht, und ich müßte unbedingt ein Fräulein haben.

Tante blieb drei Tage. Das Thema vom Fräulein blieb auf dem Tapet.

Papa widersetzte sich mit Energie. Er fand, daß ich genug Wissen sammelte, wenn ich täglich zwei Stunden vom Dorfschullehrer unterrichtet würde. Er selbst hätte seine erste Weisheit aus demselben Born geschöpft.

Darum wäre Papa auch nur Landwirt geworden und nicht Jurist wie Tante Barbaras Mann.

»Ja,« sagte Papa, »Jurist sein wäre freilich besser – aber dazu muß man Talent haben. Und Talente sind äußerst selten; die meisten Juristen haben kein Talent – das merken sie aber nicht, das merken nur die Klienten.«

Papa hatte nämlich unlängst durch Onkel Heinrichs Schuld einen Prozeß verloren.

Tante Barbara lenkte ab.

»Das wichtigste der modernen Bildung sind die Sprachen,« rief sie.

»Es ist nicht unbedingt nötig, daß man in mehrern Sprachen zeigt, wie ... klug man ist.«

Sie hielt Papa einen Vortrag über Vaterpflichten und über die Annehmlichkeit, in dieser Einöde ein gebildetes Wesen um sich zu haben. Durch den immerwährenden und ausschließlichen Umgang mit Kutschern, Knechten und Arbeitern – da müsse man verkommen.

»Oh,« sagte Papa, »ich verkehre ja auch viel mit Tant...«

Er wurde leider unterbrochen. Tante Barbara schlug die Tür hinter sich zu, daß der Schornstein wackelte.

Sie kam wieder und entschuldigte sich mit dem Luftzug. Und begann wieder von der Erziehung.

Nun wurde Papa fuchsteufelswild und forderte Tantchen auf, das Thema zu lassen. Er wurde endlich ruhiger und vermied peinlich jede Möglichkeit einer Anknüpfung.

Tantchen sagte, sie würde am andern Tag abreisen – ich war sehr froh und dachte mir vor lauter Lustigkeit eine Abschiedsüberraschung für sie aus. Es kam aber nicht dazu. Papa hatte zufällig die Lade abgeschlossen, in der er das Brausepulver verwahrte.

Ehe Tantchen abfuhr, kam sie nochmals auf die Sache zu sprechen, die ihr so sehr am Herzen lag.

»Ein letztes Wort, Schwager ...«

»Gut,« sagte Papa und sandte einen Blick zum Plafond, »aber ein letztes ...«

»Laß sie nicht ganz verwildern. Ich bin ihre Tante.«

Papa – ihm war natürlich nicht eingefallen, diese Würde für sich in Anspruch zu nehmen.

Tantchen sprach noch ein halbes Hundert von letzten Worten, bis ihr die Puste ausging.

»Sie muß, sie muß ein Fräulein kriegen, und Klavierspielen lernen wird sie und Handarbeiten und fremde Sprachen. Französisch vor allem. Französisch gehört zur Erziehung wie ... wie ...«

»Der Mist zum Ackerbau,« half ich aus.

Da blieb dem Tantchen endgültig der Atem aus.

Papa zog ihr den Mantel an und trat sie schrittweis zur Tür hinaus, die Verandastufen hinab, über den Kiesweg, durch das Gartentor, und dann saß Tante Barbara im Wagen.

»Sie muß lernen – Französisch – Klavier ...« hustete die Tante, »ein Fräulein – fremde Sprachen ...«

Papa winkte, und der Wagen fuhr los.

Vierzehn Tage darauf kriegten wir vornehmen Besuch: Baron Heinau aus Essegg mit einem fremden Herrn.

Sie wollten Pferde kaufen. Papa ließ ihnen die Butterfly vorführen.

Der fremde Herr befühlte und betastete die Stute – ich fürchtete schon, er würde drauf kommen, daß sie einen Sehnenklapp hatte. Und er riß immer wieder an seiner Kneiferschnur.

Da fiel der Kneifer runter, und der Herr konnte nichts sehen. Baron Heinau aber versteht von Pferden nichts.

»Wie eißen der Pferd?« fragte der Fremde. Er sprach sehr komisch, weil er ein Franzose war.

»Butterflieh,« sagte ich.

»So, Bötterflei.«

Da merkte ich, daß der Herr nicht nur ein Franzose war sondern auch ein Dummkopf.

Papa sagte 1700, Baron Heinau 1100. Und sie redeten hin und her. Ich lief weg.

Als ich zurückkam, sagte Papa eben 1450 und der Baron 1225.

Der Fremde aber sprach zum Baron in einer andern Sprache. Ich mußte lachen – es klang wie: Kaskradarakatsch.

Papa blickte mich ungeduldig an und sprach:

»Baron, ein letztes Wort: 1390.«

Ich dachte an Tante Barbara und ihre langen letzten Worte und lief noch einmal weg.

Ich fand eine tote Schlange, versteckte sie in der Köchin ihrem Bett und kam noch zur rechten Zeit zurück: Papa und der Baron waren um 110 Gulden auseinander.

Der fremde Herr sagte wieder: »Kaskradarakatsch« und trat von einem Fuß auf den andern.

»1375,« rief Papa, – »und wenn des Kaisers Gevatter käm, kriegt ers nicht billiger.«

Der Baron wollte was sagen. Der fremde Herr murmelte: »Kokomosakala,« der Baron antwortete so was ähnliches.

Und er drückte richtig so lang, bis Papa auf 1300 einschlug.

Nachher, als wir beim Kaffee saßen, machte der Baron ein ganz gemeines Gesicht und sprach:

»Ich habe doch gewonnen. Nämlich mein Freund, der Marküh, hat schon immer gesagt, Sie werden 's Pferd nicht hergeben, Herr Roda – und wollte Ihnen 1450 zahlen. Aber ich hab mit ihm um hundert Zigarren gewettet, Sie lassen mit sich reden.«

Papa war sprachlos vor Wut. Sprachlos. Zwei Tage.

Nach zwei Tagen sagte er:

»Das dümmste Weib kann noch einen Sohn haben und einen gescheiten Gedanken. Marius, deine Tante hat recht – der Mensch muß Französisch können.«

Das sah ich selber ein.

Papa sagte, er würde nach Esseg fahren – zu Madame Scheuer – wegen des Fräuleins.

»Ich fahr mit,« rief ich sofort.

Papa fand es sofort überflüssig. Kinder hätten da nicht mitzureden.

»Oho,« sagte ich, »wenn ich schon ein Fräulein bekomme, dann muß es eine nach meinem Geschmack sein: sehr hübsch und gut und Zirazara muß sie heißen.«

»Wie?« fragte Papa.

»Zirazara Zikazaka.«

»Kind, du bist ja ganz auf den Kopf gefallen.«

Wir fuhren nach Essegg.

Madame Scheuer empfing uns liebevoll. Sie war eine mächtige Dame mit weißem Lockenhaupt, mit Brillanten und knisternden Seidengewändern.

»Ah, Monsieur wünssen eine Dame? Verstehe. Bon, eine elegante, amüsante, interessante, charmante Dame. Zur Gesellschaft von die gnädige Frau. – Nein? Nur zu Kinder? Kinderken sind auch da? Aber, das ist ja reissend! Eine Mädken? Wie 'übs! Ja, die Kinderseele müssen früh die ersten Sstufen von der Wissenschaft erklimmen. Spraken? Natürlich sprikt die Dame eine Sprake. Selbstverständlich. Oh, Monsieur at Glück. Eben sein eine Dame frei, die in Stellung war bei die Comte ... die Comte ... der Name sein mir momentan entfallen. Eine vornehme, gebildete Dame. Sie wird sich Ihnen vorstellen – jawohl.«

Ich hörte, was Madame Scheuer im Nebenzimmer zum Fräulein sprach:

»Stellen S' sich halt vor. Er is ein reicher Landwirt oder so was – wissen S' – Gutsbesitzer vielleicht, von harmlosem Charakter. Haben noch nie eine Gouvernant gehabt. Reden S' halt. Sie haben ja ein ganz gutes Mundwerk. Und zu einem Herrn – ohne Dame ... das ist doch was für Sie.«

Das Fräulein war farblos. Das Haar hellblond, die Augen wasserblau, das Gesicht glatt.

»Monsieur,« sagte das Fräulein, »ich bin bereit, mich Ihrem geschätzten Haus zu widmen. Ich sehe mehr auf gute Behandlung als auf Gehalt. Deshalb beanspruche ich nur fünfzig Gulden monatlich, ein eigenes Zimmer, standesgemäße Bedienung und jährlich einen Monat Urlaub.«

»Sonst nichts?« fragte Papa.

»Nein, Monsieur – ausgenommen die Achtung, die einer gebildeten Dame gebührt.«

Papa sagte: ja. Zu Haus war er entschieden schärfer. Aber freilich: unter so viel Weibern, was sollte er sagen?

Papa gab dem Fräulein die Reisespesen bis Gutta, unsrer Bahnstation, und das Fräulein wollte gehen.

»Haben Sie ... haben Sie kein Dienstbuch, Fräulein?«

»Ein Dienstbuch?« fragte Fräulein Amelie Tragace frostig.

Nein, das hatte sie natürlich nicht. Ihre Zeugnisse würde Madame Scheuer einsenden.

Papa und ich reisten heim.

Am Sonntag darauf wurde ich gebadet, kriegte ein blaues Haarband um, und Lisi, die Köchin, suchte mich durch frohlockende Rufe zu erwärmen:

»Kind, freu dich, heute kommt dein Fräulein!« Ich freute mich nicht sehr.

Endlich war der große Augenblick gekommen. Matthes fuhr in kühnem Bogen die Rampe hinan. Auf der Treppe standen Papa und ich zur Begrüßung.

Schon beim festlichen Frühstück entwickelte das Fräulein ihre Pläne. »Das Kind« sollte nicht überanstrengt werden. Ich sollte spielend französisch lernen.

Fräulein Amelie zog sich aber gleich mit einer Migräne in ihr Gemach zurück. Diese Migräne dauerte drei Tage. Nach drei Tagen erhob sich Fräulein Amelie neu gekräftigt von ihrem Lager.

Sie war nicht schlimm. Bloß komisch.

Als ich sie in den Stall führte, sah sie scheu links und rechts.

Ich zeigte ihr meinen Jani und sagte: »Streicheln Sie ihn ein bißchen. Wenn Sie sagen ›bitti, bitti,‹ dann hebt er den Vorderhuf.«

Jani hob ein wenig den Fuß, und das Fräulein schrie wie ein Truthahn beim Schlachten.

Jani hatte sich nur die Fliegen unterm Bauch wegtreten wollen – als das Fräulein so laut schrie, erschrak er und fetzte aus.

Da krisch das Fräulein noch viel mehr: sie wolle nichts von Pferden wissen – die beißen vorn, und hinten schlagen sie.

Ich erzählte es Papa. Er lachte und sagte: »Macht nix – als Paradekutscher brauchen wir sie eh nicht. Lern nur deine Lektionen, mein Sohn, damit uns die Barone nicht mehr foppen.«

Ich lernte auch ganz fleißig – zwei Stunden vormittag, zwei Stunden nach Tisch.

Nach ein paar Wochen konnte ich schon was. Da kam Tante Barbara und war sehr zufrieden.

Ich auch und 's Fräulein auch.

Tante Barbara ergötzte sich an dem Wohlklang einer Sprache, die sie nicht verstand. Sie ahnte nicht, daß es mir besonders gefiel, zum Fräulein über die Tante zu sprechen.

Und ich kann nur sagen: ich hatte das Fräulein recht lieb gewonnen.

Da kam auch Onkel Heinrich zu Gast.

Wir frühstückten auf der Terrasse. Das Fräulein war in ihrem Zimmer geblieben, weil sie wieder Migräne hatte. Tante Barbara erzählte von ihr und ihren Erfolgen.

»Na, Kleine, was kannst du denn schon alles?« fragte der Onkel. »Sag mir einen französischen Satz.«

Ich schwieg – mir fiel auf der Stelle nichts Passendes ein.

»Wenn du mich schön bitten kannst, dann geb ich dir, was ich dir mitgebracht habe.«

»Maria!« mahnte die Tante.

»Marius!« ermunterte Papa.

»Also – je vous prie, cher oncle ...« begann Onkel Heinrich.

»Ah,« sagte ich, »nicht Scheene Brüh, Schmeermockl.« Und sprach stolz: » Ponjischenje prosim, dejte mi, co jste mi prinesl!«

Zuerst war Onkel Heinrich starr. Dann begann er zu lachen und lachte – lachte wie toll. Als er zu Atem kam, platzte er heraus:

»Wißt ihr, was sie redet? Slowakisch redet sie. – Französisch, ha, ha! Französisch soll das sein? Unglaublich. Nein, so was!«

Tante Barbara sah ihn entgeistert an.

»Woher ist sie denn, eure Französin?«

Papa blickte nach der Tante, die Tante auf den Onkel. Dann erinnerte sich Papa des versiegelten Umschlags mit Fräulein Amelies Papieren – Madame Scheuer hatte sie ihnen eingesendet. Papa und Tante stürzten auf den Schreibtisch zu und rissen den Umschlag auf, der seit dreiviertel Jahren friedlich in den untersten Schubladen gelegen hatte. Da blieb kein Zweifel: das Fräulein hieß Amalia Tragatsch und war im Trentschiner Komitat geboren. Sie war eine Slowakin, ihre Mutter war eine Slowakin gewesen, der Vater ein Slowak. Bevor sie zu uns als Französin kam, war sie irgendwo bei einem Grafen Wäschebewahrerin gewesen.

Fräulein Amelie Tragace fuhr zwei Stunden später auf die Bahn.

Und Papa bekam die einzige Migräne seines Lebens. Er legte sich ins Bett und stand nicht auf, ehe Onkel Heinrich und Tante Barbara den Hofzaun im Rücken hatten.


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