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Wie die Alten sungen ...

(1897)

Artur und ich saßen wie gewöhnlich auf dem First des Eiskellers, schön im Schatten, und besprachen eine Feuerwehrübung, die wir gegen Abend mit der gesamten Pußtajugend machen wollten: Schweinehirts Stefan sollte ein Häufchen vorjähriges Stroh anzünden, Klaubholz darauftun, und wir wolltens löschen.

Da gellten in unser Gespräch von der Kanzlei her zwei schrille Pfiffe. Das bedeutete, daß Papa mit mir sprechen wollte.

»Marius,« rief er, »bitte das Fräulein zu mir, und ihr beiden kommt auch mit!«

Das Fräulein – wo mag denn nur das Fräulein stecken? Sicherlich dichtet sie im Garten. – Richtig, da saß Fräulein Valeska Wunderlich, hatte einen Bleistift im Mund und blickte gen Himmel.

Ich bestellte ihr Papas Befehl. – Sie kramte ärgerlich ihre sieben Sachen in die Mappe, stand auf und sagte:

»Maria, erinnere mich nachher an ›Lust – Brust‹!«

Und wir alle drei gingen in die Kanzlei.

Fräulein Valeska erwiderte Papas Morgengruß mit einem Knicks, Artur und ich salutierten, und Papa begann – zunächst zur Gouvernante:

»Es ist da ganz was Eigenes los, Fräulein. Mein Schwager Heinrich depeschiert eben, er werde übermorgen herkommen, ich möchte ihm einen Wagen zur Bahn schicken. – Nun, wissen Sie, die Sache ist ... hm – ist mir nicht ... so ganz gelegen. Erstens trifft auch der Herr Graf nächstens ein, zweitens ist Artur da, der im Fremdenzimmer wohnt, und dann ... na, kurz – wie soll ich mich ausdrücken? Mein Schwager pflegt, wenn er mal bei uns ist, nicht gleich wieder wegzugehen, besonders wenn er sich heimisch fühlt. Und heimisch fühlt er sich fast immer. – Nicht als ob ich meinen Schwager ungern zu Gast hätte. Im Gegenteil, ich bin sogar sehr erfreut – oder sagen wir: er ist mir recht angenehm. Aber ich möchte, daß er bloß höflich behandelt wird, sehr höflich, gewissermaßen nobel, aber nicht familiär. – Sie verstehen mich doch, Fräulein?«

»Natürlich verstehen wir,« rief ich und stieß Artur meinen Ellenbogen in die Rippen, in der Vorfreude auf einen großen Spaß.

Papa mußte es bemerkt haben.

»Dich, Marius, hat niemand gefragt. Ich erwarte insbesondere von dir, daß du deinem lieben Onkel mit aller Rücksicht entgegenkommen wirst – so kavaliersmäßig, wie es sich für dein Alter und deine Erziehung schickt. Und noch etwas, Marius! Erschrick nicht, Marius: Onkel Heinrich wird natürlich reiten und fahren wollen. Ich habe jetzt kein geeignetes Pferd für ihn – folglich wirst du ihm, wenn er hier ist, Jani zur Verfügung stellen. Du bekommst dafür einen Damensattel. Hast du verstanden?«

»Verstanden – ja. Aber ich gebe Jani nicht her.«

»Marius, ich sehe ein, daß ich dir viel zumute ... Das Pferd ist dein. Gewiß. Ich mache dirs nicht streitig. Wenn aber ich, Papa, dich bitte –?«

Papa hat leicht bitten. Ich darf ihm doch nicht Nein sagen.

Papa legte mein Benehmen gegen Onkel Heinrich dem Fräulein noch recht warm ans Herz und hieß uns zwei abtreten, dem Fräulein aber machte er eine Verbeugung.

Ich lief hinaus, daß mir die Zöpfe flatterten, Artur schritt schnurrbartkräuselnd mir nach. Wir setzten uns wieder auf den Keller, paßten auf, bis Fräulein Valeska vorbeikam, und riefen ihr im Duett nach:

»Lust! Brust! Lust! Brust! Krakarakar!«

Wie die Unken im Teich.


»Sei nicht traurig, Marius,« tröstete Artur, »wir werden Jani schon entsprechend herrichten. Nicht einen Tag wird Onkel Heinrich ihn haben wollen.«

Nun begann eine systematische Dressur Janis. Auf das »Sst«, worauf die andern Pferde stehen bleiben, mußte er angehen – auf einen Zungenschlag, sonst eine Ermunterung, stehen bleiben.

Wollte man von unsrer Pußta auf die Straße kommen, dann mußte man über eine Brücke. Die Brücke sah man erst, wenn man dicht davor stand, weil sie in der Biegung lag, mitten in einer Baumgruppe. – Auf die Brücke wurde Jani ganz besonders »hergerichtet«.

Cousin Artur stellte sich hin und schwang schreiend einen brennenden Span, während ich Jani langsam hinführen mußte. Kaum sah Jani das Feuerzeichen, da machte er auf einem Hinterstollen Kehrt und rannte davon, was er konnte. Dafür bekam er dann zu Hause Zucker.

Jani, das intelligente Tier, hatte auch bald heraus, daß er immer ganz besondere Leckerbissen bekam, wenn er sich im Wasser niederlegte.

Nach einem Monat sagte Artur befriedigt:

»So, nun kann Onkel Heinrich kommen. Jani ist hergerichtet.«


Drei Tage später war der Onkel da.

Alles kann man dem Mann nachsagen – aber ein Schwärmer: nein, ein Schwärmer war Onkel Heinrich nicht. Er konnte im Glück schwelgen – aber sein Glück war etwas Handgreifliches, meist Eßbares. Wohlgefällig betrachtete er unsre Gänschen und Entchen, die so groß waren wie Truthühner – die Truthühner, die wieder groß waren wie kleine Schafe – und die Schafe, so groß wie Kälber. Schmunzelnd inspizierte er auch den Gemüsegarten.

»Bravo, bravo,« rief er ein über das andremal, »da steht ja alles in Blüte!«

Es war aber nur figürlich gemeint, denn in Wahrheit hings schon allerorten voller Früchte: die Turkestan- und Wassermelonen, die Weinstöcke, die Apfel- und Birnbäume. – Das Summen der Bienen war dem guten Onkel eine besonders angenehme Musik, und er fragte teilnahmsvoll auch gleich nach unsern Kühen, denn er aß den Honig am liebsten mit Butter.

Am Abend hielten Artur und ich auf dem Eiskeller Kriegsrat. Artur schlug ein altbewährtes Mittel vor: man nimmt ein wenig Honig und streicht einen Teller damit an; dann fängt man hundert oder hundertzwanzig rote Baumwanzen und tut sie einzeln auf den Honig; obendrauf häuft man Gartenerdbeeren und bestreut sie dick mit Zucker; das Ganze kriegt der liebe Onkel zum Frühstück.

Ich war schon früher mit mir zu Rat gegangen und hatte mir ein ganz andres, viel feineres Benehmen gegen den Oheim zurechtgelegt – ein Benehmen, das auch vor Papas Augen sicherlich die Probe auf seine Kavaliersmäßigkeit bestehen sollte; dem Onkel Heinrich wirds sehr gefallen und ihn doch veranlassen, seine Zelte auf Pußta Ilintzi abzubrechen.

Artur machte sich sehr patzig mit dem Frühstück, das gar nicht seine Erfindung war. Er müsse dem Onkel Wanzen servieren. – Ich beschwor ihn, es nicht zu tun. So oft etwas dergleichen passierte, gab Papa mir die Schuld – teils aus Gastfreundschaft, teils aus Erfahrung.

Als Artur justament nicht ablassen wollte, sagte ich:

»Onkel Heinrich bekommt keine Baumwanzen, und damit basta!«

»Oho,« rief Artur, »du redest ja schon wie ein Schwadronskommandant.«

»Darf ich auch. Hier hab ich zu befehlen.«

»So?«

Und er tat sehr verwundert.

»Ich bin hier zu Haus, und du bist niemand. Wenn du nicht parierst, komm ich mit der Peitsche.«

»Hahaha! Du kommst mit der Peitsche? Wollen wir sehen.«

Er steckte beide Hände in die Hosentaschen, ging sporenklirrend auf und ab und blieb herausfordernd stehen.

»So schlag doch zu, wenn du Mut hast!«

»Bis du unfolgsam bist und ich eine Peitsche habe,« antwortete ich begütigend. »Du bist mir sie noch schuldig von der Wette.«

Er schwieg kleinlaut, und ich fuhr fort:

»Weißt, Artur, ich muß mich mit Onkel Heinrich gut verhalten – vielleicht hat er mir was mitgebracht und es bloß noch nicht ausgepackt. Du mußt schon Rücksicht auf mich nehmen. – Übrigens bist du sehr eigen gegen mich – gar nicht wie andre Leute, die schöne Kusinen haben.«

»Schöne Kusinen? – Ich?« fragte er.

»Nein, ich, Artur. Ich bin die schöne Kusine.«

»Wer hat denn das gesagt?«

»Papa.«

»Hat sich was mit deiner Schönheit!«

»Laß nur! Ich hab heuer von allen Pußtenmädels den höchsten Maibaum gehabt.«

Am andern Tag stellte sich freilich heraus, daß mir Onkel Heinrich nichts mitgebracht hatte. – Als er ein Gewehr nahm, um in der Erlenremise Tauben zu schießen, schickte ich Artur schnell voraus; Artur tat dort einen Schuß, und als Onkel Heinrich zu den Erlen kam, gabs im ganzen Umkreis keine Taube. – Übertriebene Vorsicht der Tauben; denn so gut Artur und der Onkel schossen – treffen taten sie nie was.

Onkel Heinrich blieb zwei Stunden aus und kehrte sehr verdrossen zurück. Beim Abendessen sagte er zu Papa:

»Es scheinen sich hier Wildschützen herumzutreiben. Ich habe es heute nachmittag knallen gehört.«

Papa faßte mich scharf ins Auge und antwortete:

»Wildschützen? Na, wenn wieder so was vorkommt, werde ich die strengsten Maßregeln ergreifen.«

Ich ließ es aber nicht auf mir sitzen, sondern schüttelte den Kopf und zeigte auf Artur. – Papa machte eine Handbewegung, die bedeutete: »Ich kenne meine Pappenheimer« – und bot dem Gast Kastanienkohl an.


Früh am Morgen waren wir schon fleißig. Wir arbeiteten Onkels Patronen um. Wir nahmen Schrot und Pulver heraus und füllten beides vermischt wieder ein. Solche Patronen knallen genau wie gewöhnliche und sind auch ebenso schwer – aber wenn man mit ihnen schießt, fehlt man auf zehn Schritte ein Kirchentor.

Onkel Heinrich hatte bisher gar nicht das Verlangen geäußert, zu reiten – schon meinte ich, er werde überhaupt darauf verzichten. Jetzt, wo Jani so schön hergerichtet war? Es hätte mir fast leid getan, wenn uns der Mühen Lohn entgangen wäre.

Das ewige Pech auf der Jagd machte Onkel Heinrich endlich ungeduldig. Er fettete seine Flinte ein und beschloß, sich dem Reitsport zu widmen.

Ich erörterte mit Artur die Idee, dem Onkel eine Buchecker in die Satteldecke einnähen zu lassen. Von Lisi, der Köchin – Onkelchen hatte ihr im vorigen Jahr kein Trinkgeld gegeben. – Artur war dagegen. Wenn wir ihm was einnähen, bockt Jani ihn auf dem Fleck herab, und wir kommen um den ganzen Jux.

Gut, Onkel Heinrich sollte reiten.

Er ritt auch – noch am Nachmittag, als es ein wenig kühler war.

Und das ging so zu: Onkel Heinrich saß auf. Als er oben saß, wollte er natürlich von der Stelle. Er tat einen Zungenschlag – Jani stand. Da hieb er ihn mit der Gerte, und der Rappe lief.

»Sst ...! Sst!« machte Onkelchen – das Tempo war ihm zu stark – Jani galoppierte immer besser. Nun kamen sie zur Brücke – der Gaul schlug eine Pirouette – Onkel fiel herunter – und Jani lief nach Haus, sich seinen Zucker holen.

Tags darauf sagte ich zu Artur:

»Wir müssen Onkel Heinrich bitten, noch einmal auszureiten – nach dem Bach – damit er sieht, was Jani alles gelernt hat.«

Artur war ganz meiner Ansicht. Er redete Onkel Heinrich zu, es noch einmal mit dem Pferd zu wagen. Dazu machte er aber ein so dummschlaues Gesicht, daß der Onkel mißtrauisch wurde.

»Hab ich denn meine Knochen gestohlen?« schmälte er.

»Sieh, Onkelchen,« sagte Artur, »die Geschichte bei der Brücke ist nur ein unglücklicher Zufall gewesen. Warum hast du auch grade auf die Straße reiten müssen? Vor der Brücke ist das Pferd noch jedesmal umgekehrt.«

Onkel ließ sich lang nicht erweichen. Nach einer Woche, als es ihm schon hübsch langweilig bei uns geworden war, entschloß er sich dennoch. Aber Artur (der als Kadettenschüler jedenfalls mit allen Gäulen auf dem Du-Fuß stehen mußte) sollte ihn, ebenfalls zu Pferd, begleiten.

Artur bekam von General Geyer ein Pferd geborgt, zog seine Breeches und Lackstiefel an, und so ritten sie fort. Ich trabte auf des Schäfers Eselchen daneben; war auch zu neugierig, wie Artur den Onkel hineinlegen wird.

Bis ans Wasser gings ohne Zwischenfälle. Als wir aber hinüberwollten, versagte Arturs Pferd.

Onkel Heinrich begann sich schon zu fühlen, weil bisher alles so glatt abgelaufen war, und sagte:

»Wartet, ich will zuerst durch.«

Er wollte, aber Jani nicht. Agitza, das kleine Eselchen, spürte drüben die Schafe und furtete ohne Anstand. Dann folgte Artur, freundlich lächelnd und verschmitzt. Sein Schimmel scharrte, und ... auf einmal lag er da. War diese Bestie von einem Schimmel auch so eine, die sich im Wasser gern niederlegte.

Das sehen und sich dazulegen, war für Jani das Werk einer Sekunde. Cousins Lackstiefel und die schwarzen Breeches aus Distanzreiterstoff waren für den Augenblick hin, doch man konnte sie immer noch auffrischen. Onkel Heinrichs goldenes Augenglas aber fanden wir nie mehr in den trüben Fluten.

Wir johlten wie die Schneeknuxe. – Dann kam das Nachspiel.

Keine Ausrede half – die Schuld war sonnenklar. Artur benahm sich auch zu gemein: er ließ mich in der Patsche sitzen und spielte sich in seinen triefenden Breeches vor Papa auf den Märtyrer hinaus.

Papa war unsagbar aufgebracht. Er hielt mir eine Standrede von einer Länge, Breite und Tiefe wie nie zuvor im Leben.

»Marius,« sagte er, »ich habe dich gebeten, jawohl, gebeten, Onkel Heinrich dein Pferd zu borgen. Du konntest mirs offen verweigern. Aber nein, das hast du nicht getan. Mir ins Gesicht hast du Ja gesagt und hintennach, heimtückischerweise hast du das Pferd zu Unarten dressiert. Diese ignoble Gesinnung muß gerächt werden. Marius, sieh mich an: Jani wird verkauft.«

»Papa!« – Es war ein Schrei des wehesten Entsetzens.

»Keine Tränen, keine Szenen, Marius! Nur wenn Onkel Heinrich dir verzeiht, dann bleibt dir Jani. Verstanden?«

Ich nickte mechanisch. Denken konnte ich nicht.

»Mach es mit ihm ab!« setzte Papa hinzu und wandte sich ab. Vielleicht dauerte ihn mein offenkundiger Jammer.

Ich kämpfte lang mit mir. Onkel Heinrich bitten? Zu sterben wäre mir leichter geworden.

Gegen vier Uhr sah ich einen fremden Herrn zu Papa in die Kanzlei gehen.

»Der kommt um Jani,« war mein erster Gedanke.

Ich stürzte zu Onkel Heinrich. Er lag eben im Schaukelstuhl und verdaute.

»Onkel Heinrich! Onkel Heinrich!« schrie ich so gellend, daß er emporschrak.

»Was ist denn los? Brennts?«

»Er verkauft ihn, Onkel Heinrich!«

»Wer? Was? Was plärrst du da? Wer verkauft – was? Was verkauft – wen?«

»Den Jani. Schnell, lauf zu Papa und sag, daß dus nicht leiden willst!« bettelte ich mit gerungenen Händen.

»Fällt mir nicht im Schlaf ein. Meinetwegen kann das Aas ruhig krepieren.«

Gott – den Großen fällt es so schwer, großmütig gegen die Kleinen zu sein.

Und Onkel Heinrich war hartgesotten. – Endlich, nach blutigen Tränen, nachdem ich sogar einen Kniefall vor ihm getan und himmelhoch geschworen hatte, in Zukunft weder keck noch vorlaut sein zu wollen, nahm er mich an die Hand, und in Papas Kanzlei wurde die Versöhnung gefeiert. Jani war mir gerettet.


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