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Durch die weite Marschebene arbeitete sich auf nassem, lehmigem Boden eine ungefüge, altmodische Kutsche.
Nur wenn die schweren, holsteinischen Gäule ganz und gar stehen blieben und kopfschüttelnd über das Regenwetter und den anstrengenden Weg nachdachten, ermunterte sich auch der schlafende Kutscher etwas und rief: »Hüh – Lotte, mien Deern, wat deihst du?«
Dann ging »Lotte« weiter, »Hans« tat desgleichen, und Jürgen, der Kutscher, schlief wieder ein.
Auch der einzige Fahrgast hatte sein müdes Köpfchen auf die keineswegs weiche Lehne der Kutsche gelegt und schlief den Schlaf des Gerechten, trotzdem das Persönchen auf dem durchfurchten Wege hin und her flog und die Glieder sehr unsanfte Berührungen mit den Unebenheiten der längst ausgedienten Polsterung hatten.
Aber Kerlchen war müde, – todmüde an Leib und Seel'.
Es hätte am liebsten schon in Buchenwalde geschlafen und sich eingekapselt wie ein kleines Murmeltier, nur um nicht gesehen zu werden und selbst zu sehen, und um nicht fragen zu müssen und gefragt zu werden – endlos lange, öde Fragen, auf die es nicht zu antworten wußte, – Fragen nach seinem verlorenen Glück.
Nur einmal hatte es sich an die Mutter gewendet, und stockend und leise war es von seinen Lippen gekommen: »Muttchen, – ob Fritz nicht bald kommt?«
Und die Antwort hatte unter heißen Tränen gelautet: »Nein, mein Herzenskind, ich glaube es nicht!«
Von da ab war Kerlchen ganz stumm geworden.
Aber ein Brief kam aus der Marsch an Ohm Waldemar von Frau Heinke Tönningsen, der Großmutter Fritz von Rumohrs.
Sie schrieb in großen, ungefügen Buchstaben, der Gutsherr möge ihrem Enkel sagen, er solle sofort nach der Hochzeit ihr seine junge Frau zur Pflege bringen, denn sie sei recht krank und wolle auch das junge, glückliche Paar noch vor ihrem Tode sehen, – unverzüglich möchten sie abreisen.
Ein junges, glückliches Paar war nicht da, in Ermangelung dessen fuhr Kerlchen allein.
Ohm Waldemar war durchaus einverstanden mit diesem Entschluß, – Tante Hedwig »wusch ihre Hände in Unschuld«, und Kerlchens blasse Muusch atmete auf, als ihr Kind im Reisewagen saß.
Nur neue Verhältnisse und Umgebung, – stramme Arbeit und Pflichterfüllung konnten hier helfen.
Kerlchen war jeden Tag ein bißchen »weniger« geworden, es war die alte Geschichte wie vor Jahren, und Ohm Waldemar hatte schon einen Preis für das erste, silberne, fröhliche Herzenslachen stiften wollen, das er von Kerlchens Lippen hörte – aber, er hörte es eben nicht. – – –
Es war ein langgestrecktes, weißes Gebäude, mit Stroh gedeckt und mit niederen Fensterchen, – vor dem die Reisekutsche hielt.
Der große umgebende Hof leuchtete in peinlicher Sauberkeit, das Haus und die großen Wirtschaftsgebäude sahen aus, als seien sie zu Ehren des Gastes frisch angestrichen worden: alles heimelte Kerlchen an.
Eine alte verwitterte Magd nahm das Reisegepäck in Empfang, deutete mit ihrem Finger nach einer Tür, die auf die große Diele mündete und sagte: »Da!«
Kerlchen durchschritt die Diele, öffnete leise die bezeichnete Tür und stand vor einem hohen Himmelbette, aus dessen aufgetürmten Kissen sich ihm eine runzelige, alte Hand entgegenstreckte.
»Gott segne euren Eingang! Bring' deine junge Frau her, Fritz von Rumohr, meine Augen sind schon recht schwach, ich will sehen, ob du ordentlich gewählt hast.«
Frau Heinke Tönningsen richtete sich im Bett hoch, sie hatte trotz Krankheit und Alter kraftvolle Bewegungen, und als sie aufrecht saß und das kleine Persönchen da vor sich erblickte, – entfuhr ihr ein Ausspruch, der gar nicht zu Krankheit und Hinfälligkeit paßte:
»Donnerwetter noch mal zu!!!«
Und gleich hinterher:
»Wo ist Fritz, mein Enkel?«
Da straffte sich Kerlchen mit einem Ruck in die Höhe, warf den Kopf zurück und sagte laut: »Ich bin allein da, – wir sind kein bißchen verheiratet, – aber ich will Sie gern pflegen, Großmutter Tönningsen.«
Das alte Haus in der Marsch hatte wohl noch nie solch ein eigenartiges Menschenkind zu sehen bekommen, das da so zierlich vor dem unförmlich großen Bettgehäuse stand, – Frau Heinke zog Kerlchen mit einem Ruck näher zu sich heran.
»Erzähle!«
Das war eine ziemlich lange Geschichte, aber sie kam gar nicht stockend aus Kerlchens Munde, sie wurde mit einer ganz gehörigen Portion Trotz vorgetragen, und Großmutter Tönningsen rief beim Schluß mit heiserer Stimme:
»Potz Donner und Granaten! Das ist zum Gesundwerden! Das sieht ihm ähnlich! Filou, elendiger! Rumohrscher Dickkopp, Däskopp, – oha!«
Dann wurde Kerlchen von zwei Armen umfaßt, sein Kopf an eine alte Schulter gedrückt, die in einer groben Barchentjacke steckte, und Frau Heinke Tönningsen machte leichte, schaukelnde Bewegungen, als wiege sie ein müdes Kind ein.
Schweig' ganzen still, mien lütte Deern, du bleibst nun bei mir, hörst du? Kein Mensch soll dich zwingen, diesen gottverlassenen Fritzen zu heiraten – oha, was büst du einmal nüdlich, so was hat mein Hof noch gar nicht gesehen, nie – oha!«
Großmutter Tönningsen war eine Frau von raschen Entschlüssen, eine starke Persönlichkeit, nebenbei eine seltsame Mischung von starrem Trotz, Grämlichkeit und Humor.
Sie war krank geworden, weil sie sich unnütz auf dieser Welt vorkam, und hatte sich in den Gedanken, daß es am besten sei zu sterben, so verrannt, daß das glückliche Kerlchen wahrscheinlich zu einer Beerdigung nach dem Marschhofe gekommen wäre, das unglückliche und verlassene Kerlchen aber fand sich einer rasch Genesenden gegenüber, die gleich am nächsten Tage wieder Gehversuche anstellte und den schier entsetzten Landarzt, der eigentlich den Totenschein hatte ausstellen wollen, mörderisch anschrie:
»Potz Donner ja, ich hab' keine Zeit zum Kranksein und Sterben. Sehen Sie die Deern da an, Doktor, die hat mir der Storch gestern auf meine alten Tage noch gebracht, und ein Rumohr, mein eigen Fleisch und Blut, hat schuftig an ihr gehandelt, das muß ich wieder gut machen. Sehen Sie sich mal die Deern an!«
Der Doktor sah – und schüttelte den Kopf..
Das sollte 'ne junge Deern sein? Das waren ja eigentlich nur ein paar Augen, – große, weltfremde Augen in einem kleinen, blassen Gesicht, dazu die ungebändigte Fülle dunkler Locken auf dem zierlichen Kopf – – – «
»Das ischa sonnerbar« murmelte der Doktor, während er seine klappernde Kalesche wieder bestieg und in seinen Bezirk zurückfuhr, um seinen Kunden zu erzählen, daß die »Tönningsen« keineswegs Lust habe, zu sterben, sondern verrückter denn je sei.
»Verrückt« war Großmutter Tönningsen keineswegs, dagegen fragte sie bei jeder Gelegenheit das Kerlchen, ob es nicht bei »Fritze, meinem Enkel« Spuren von Geistesstörung bemerkt hätte, eine Frage, die Kerlchen jedesmal mit einem Zornausbruch zu beantworten pflegte.
»O Großmutter, wie können Sie nur so was denken! Fritz ist so klug!«
»Ein Däskopp ist er.«
»Nein, nein, ich bin an allem schuld, – ich allein.«
»Nu bist 'ne goldige, sööte Deern.«
»Ach nein, – Fritz ist gut, – ich nicht.«
»He is 'n Filou!«
»Großmutter – ich reise heute noch ab, wenn Sie so etwas sagen – ja wohl, ich tu's!«
»Du bleibst hier! Immer!«
Diese kleinen Kriege spielten sich täglich ab, sie waren ungeheuer notwendig zu Großmutter Tönningsens Genesung.
Aber Kerlchen hätte doch wohl sein Köfferchen gepackt und wäre wieder heimgegangen in sein einsames Mädchenstübchen im Buchenwälder Herrenhause, denn es ging auf die Dauer über seine Kräfte, immer nur polternde Schmähungen über seinen Fritz anzuhören. Seinen Fritz?
Er gehörte ihm ja gar nicht mehr. Es hörte nie etwas von ihm.
»Der Teufel hat ihn geholt,« sagte die Großmutter grimmig.
Also Kerlchen wäre gern heimgegangen, aber der alte Landdoktor war wieder gekommen, hatte es beiseite geführt und gesagt:
»Hier bleiben! Der Anfall kann sich wiederholen, – dann wird's schlimmer. Großmutter Tönningsen braucht Sie, – verstanden?«
Und mit ihm selbst unerklärlicher Weichheit hatte er hinzugesetzt: Wir alle brauchen Sie!«
Doktor Lorentzen war nie aus seiner engeren Heimat herausgekommen. Studiert hatte er in Kiel und dann gleich nach bestandenem Staatsexamen die Praxis seines Vaters in L. übernommen. Er hatte sich früh mit einer Marschbauerntochter verheiratet, die groß und blond, ihn um Kopfeslänge überragte und den Pantoffel siegreich über ihm schwang.
Nur ein einziges Mal hatte er in seinem langen Leben ihr widersprochen, das war, als sie in sein Wartezimmer eingedrungen war und einer schwer kranken, jungen Frau, die einer Operation entgegensah, diese in den grellsten, blutigsten Farben geschildert hatte, so daß der Doktor die halb Ohnmächtige und später krampfhaft Weinende kaum hatte beruhigen können.
Damals hatte er seiner Frau »Befehl« gegeben, nie wieder mit seinen Patienten ein Wort zu reden, und diese heroische Tat wurde noch Jahrzehnte lang zwischen der Frau Doktor und ihren fünf Töchtern mit den Worten bezeichnet:
»Als Vater damals den ›Anfall‹ hatte. –«
Doktor Lorentzen hatte viele Vertreter des »homo sapiens Linné« kennen gelernt, – die Gattung »Kerlchen« war ihm neu.
Er war von seiner großen, blonden Frau und von seinen großen, blonden fünf Töchtern gewöhnt, daß sie tagsüber mit viel Geschrei und vielen schweren Seufzern »schufteten«, wie die Dienstmägde, daß sie jedes kleine Vorkommnis zu einem Haupt- und Staatsereignis aufbauschten und sich über lächerliche Kleinigkeiten bis zum Abend zanken konnten.
Abends wurde dann »Sechsundsechzig« um Pfeffernüsse gespielt, wobei man sich weiter zankte. Die Pfeffernüsse wurden um die Weihnachtszeit für das ganze Jahr gebacken und nahmen mit der Zeit einen merkwürdigen Geschmack und Geruch an, so daß um November des folgenden Jahres herum das »Sechsundsechzig« eine gar üble Sache war.
Daß man so ganz still arbeitsam sein konnte, wie das Kerlchen, das so viel vor sich brachte und doch nie ein Wort darüber verlor, – das immer zu haben war, wenn man es brauchte und so gescheit plaudern konnte über ganz wichtige Fragen – das war dem Doktor etwas ganz Neues, er wurde ordentlich wieder jung, und seine Pferde bekamen plötzlich eine unbegreifliche Vorliebe für die holperige, tief durchfurchte Marschstraße, – denn selten verging ein Tag, an dem man nicht den Doktorwagen vor dem Marschhofe halten sah.
Großmutter Tönningsen gefiel dies, aber sie machte nicht viel Worte darum.
»Der Doktor weiß, warum er so tut,« meinte sie einmal, – »er weiß, daß er einen ordentlichen Batzen von mir bekommt, für sein Kinderhospital.
Aber der alte Doktor ertappte sich dabei, daß er weit mehr an das Plauderkerlchen dachte als an das Kinderhospital. –
Kerlchen hatte tüchtig zu tun, es wußte Bescheid in Küche, Garten, Hof und Stall, es lernte die Krankheiten und Absonderlichkeiten des Großviehs kennen und behandelte mit wahrhaft mütterlicher Liebe die Kückengesellschaft von Mutter Henne und Ente.
Daneben fand es Zeit, an dem altersschwachen Spinett in der »guten Stube« (von Kerlchen die »kalte Pracht« genannt) seine Fingerübungen aufzunehmen und tüchtig weiter zu bauen auf der guten Grundlage, die ihm Meister Johannsen einst gegeben.
Ach ja, es war eine gute Schule, der Marschhof, und Kerlchen vergaß nichts Altes und lernte viel Neues, doch ja – eins verlernte es ganz und gar, – zu glauben, daß es jemals anders werden könne, zu hoffen, daß noch einmal das »Glück«, – das liebe, sonnige, zu ihm hereinschreiten könne, – Kerlchen wollte nur noch gut sein und glücklich machen.
»Liebes Kleines!
Mir ist in all den Wochen zu Mute, als müßte ich Dir ungeheuer viel Liebes antun, Herzens-Kerlchen, und dann wieder kommt es mir vor, als brauchtest Du uns gar nicht, als wäre Dir allein viel wohler, und als müßtest Du nur mit Groll und Schmerz an uns in der Ferne denken, die wir Dich so übel beraten haben.
Nun ich ganz wieder gesund bin, bin ich die geschworene Feindin von Bümi Schirmer, geborenen Schlichen, nein, ein geborenes »Schaf«, das selbstsüchtig nur an sich dachte und das Glück des lieben, lieben Kerlchens mit zur Tür hinausjagen half.
O Kerlchen, Du glaubst nicht, wie oft ich mich moralisch ohrfeige, und ich würde – ein moderner Fakir – mich auch physisch verhauen, wenn es Dir nur ein Böhnchen nützen würde.
Hast Du eine Ahnung liebes Kerlchen, wo – Dein – – ich meine, wo Fritz von Rumohr ist?
Ich frage Dich so ganz offen danach, weil mich der Gedanke beinahe umbringt, zu glauben, Ihr seid beide unglücklich durch unsere Schuld, – jawohl – durch unsere, denn ich sehe es jetzt immer mehr ein, wie sehr wir Deine Liebe zu uns auf die Probe gestellt haben, die Du unvergleichliches Kerlchen so herrlich bestanden hast, auf Kosten Deines eigenen Glückes.
Und ich bitte Dich innig, mir zu sagen, wo Fritz von Rumohr steckt, denn wenn ich auch bis jetzt jeden Abend ein gütiges Geschick beschwor, mich Deinen verflossenen Bräutigam nicht wieder sehen zu lassen, weil ich sicher annahm, daß ich ihn um der Tränen willen, die er Dir erpreßt, bei der ersten Begegnung totschlagen würde, so bin ich jetzt fest entschlossen, mal zu sehen, ob ich mich beherrschen kann.
Papa war, nachdem er sich etwas über den Fall beruhigt hatte, nach Rotbach gereist, dorthin ist Fritz gefahren, damals – von hier aus, als er Dich nicht fand.
Aber anstatt seine Äcker zu bestellen und desgleichen in Kopf und Herz den Samen der Vernunft zu säen, ist dieser Feuerkopf nur einen halben Tag dort gewesen, hat seinem Inspektor unumschränkte Vollmacht gegeben und ist gleich wieder in die Welt hinausgestürmt mit einem Rock, einem Stiefelknecht und, will's Gott, mehreren reinen Kragen.
»Wir wissen nicht, wo der Herr Baron find,« hat der alte Inspektor zu Papa gesagt, »'s kann sein, daß er in Italien stecken, kann auch sein, daß er nach Haiti gegangen sind.« –
Also Kerlchen, entweder quält uns dieser inspektorliche Sünder absichtlich, indem er was weiß und uns nichts sagt, oder Dein Sturmwind ist tatsächlich zu den Wilden ausgewandert, wo er jetzt, nur mit Siegelring und Klemmer bekleidet, mit dem Tomahawk umherwütet und Dir gewiß nächstens eine vergiftete Ansichtspostkarte schickt.
Ach Kerlchen! Fühlst Du nicht, wie ernst ich durch all diese Vorkommnisse geworden bin?
Neulich führte mich mein erster Genesungsschritt nach Buchenwalde, aber – es war nichts Rechtes dort zu holen, unsere liebe »Olsch« recht verstimmt, das »Jüngschen« grimmig und voll Sehnsucht nach Dir, und ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, denn der Wäscheschrank, darinnen Deine unnütze Aussteuer schimmelt, wurde lebendig und stampfte mit schweren, eichenen Füßen im Zimmer herum, und Dein leeres Brautkleid erschien als Gespenst und rauschte um meine Bettstatt, wobei es »Wehe, wehe!« schrie.
Nein, nein, ich gehe nicht eher wieder ins Elternhaus, bis der Wäscheschrank in Rotbach steht, und Du im gespenstischen Kleide, – aber – natürlich, Ihr vertrotzt Euch jetzt beide, und Du verzeihst es niemals, daß der Fritz Dich, – daß er sich – daß er uns, – daß er überhaupt – – – ach Kerlchen!
Deine reuige Bümi,«
Was sie nur immer denken, die Leute! Und nun auch die Bümi. Wie wenig sie mich kennen!
Ich mich vertrotzen, – wo ich so genau fühle, daß ich Unrecht getan habe, – ich hab' es ja nicht gewollt, aber es ist doch zum Unheil ausgeschlagen, so hab' ich wohl doch früher zu wenig an Fritz gedacht und bin ihm nicht dankbar genug gewesen, – ihm, meiner Heimat.
Und nun ist die Tür des weißen Häuschens zugefallen, das Glück steckt drinnen, fest, fest und kann nicht heraus zu mir, und ich kann nicht hinein zu ihm.
Wie das alles weh tut!
Wenn ich mein Tagebuch aufschlage, – o so dick und umfangreich ist es geworden – und es durchblättre, dann find' ich doch eigentlich recht wenig Frohes darin, – – es heißt bei den andern immer: »Sonnenkerlchen, Glückspilzchen«, – ach, sie wissen nicht, wie schwer es ist, Sonne abzugeben, wenn man so wenig Sonne einheimst, wenn man immer im Schatten stehen muß.
Mein Unrecht drückt mich furchtbar.
Ich möchte des Abends in der Dämmerung, wenn ich so still mit Großmutter Tönningsen am großen Kamin sitze, in dem die Kastanien braten und knacken, die Arme um ihren Hals legen und ihr sagen, wie todeinsam ich bin, aber meine Stimmung, mein Schweigen: – alles versteht sie falsch und legt es auf ihre Art aus.
Sie ist stolz, Großmutter Tönningsen, aber ich glaubte doch bis jetzt auch, ich sei stolz – – Großmutter meint, ich müsse mich vertrotzen und nie, nie wieder ein Wörtchen mit meinem Fritz sprechen, – ach mein Fritz! Ja, er war es doch einmal und bleibt es immer, immer!
Kerlchen ist dir treu, Fritz, auch wenn du's nicht mehr lieb hast, dein Kerlelein, – aber das ist ja gar nicht möglich.
Vergib! Dein Bild verzerrt sich ja ganz, wenn ich es unter der Lupe der anderen sehe, – ich muß mich ganz tapfer zusammen nehmen, damit ich dich sehe, wie du immer warst, so groß, so gut und lieb!
Großmutter sagt, ich würde dich nie wieder sehen, und deine Sachen müßt ich dir wiederschicken, – je eher alles zwischen uns ganz und gar zu Ende wäre, desto besser sei es.
Warum sie dir nur so wenig gut ist, deine Großmutter, – sie kann die Zeit nicht erwarten, bis ich jedes Andenken an dich verpackt und fortgeschickt habe.
Wohin denn, – ich weiß ja nicht, wo du bist, Fritz. Und den Verlobungsring, den du mir anstecktest, tief in den Tannen des Thüringer Waldes, in denen wir ganz versteckt saßen und von unserer Zukunft sprachen, – den soll ich forttun? Das kann ich doch gar nicht!
Den läßt man sich doch nur nehmen, wenn man tot im Sarge liegt, – aber bitte – bitte – dann laß du ihn mir auch – ja? Ich möchte ihn nie hergeben, deinen Ring.
Und jedesmal, wenn der Landbriefträger die Straße heraufkommt und ein Paket trägt, dann sagt Großmutter: »Jetzt schickt Fritz alle deine Briefe und Geschenke wieder.«
Dann überfällt mich eine ungeheure Angst, und ich sehe immer ein Kistchen vor mir, in das du meine Briefe gepackt hast und das kleine Bild von Väterchen und die welken Blumen alle und die Photographie, wie ich noch ein Schulmädel bei Fräulein Kleist war.
Schickst du mir das alles wieder?
Ach, tu es doch nicht! Es ist dann, als wärst du tot.
– – Wie lebendig stand plötzlich mein Fritz vor mir, es war, als schriebe ich ihm einen Brief, und das soll ich ja nie mehr tun, sagt Großmutter Tönningsen.
Gestern war wieder solch ein stiller Dämmerabend, so recht geeignet, sich warm einzumuscheln und sich etwas recht Liebes zu erzählen.
Aber ich hörte eine sehr häßliche Geschichte, die mir Großmutter erzählte von Fritzens Vater, und von Großmutter Tönnigsens Tochter, die dessen Frau war und schrecklich schlecht von ihm behandelt worden sein soll. Fritz hat mir auch schon einmal davon etwas erzählt, aber da klang alles so ganz anders, – da konnte man nur Mitleid mit dem Vater von Fritz haben, und konnte recht bös mit der Großmutter sein, die es nicht besser verstanden hatte, ihrer Tochter einzuprägen: »Er soll dein Herr sein«.
Ach, es war kein schöner Abend.
Die Großmutter saß so finster am Kamin und starrte in die Flammen.
Es war ganz dunkel geworden und sie vergaß den Befehl zu geben, daß die Lampen gebracht wurden.
Da sah ihr Gesicht gespenstisch aus, als die roten Flammen es umspielten, und ihre Lippen sich murmelnd bewegten.
»Mein Kind ist um einen Rumohr gestorben, – es ist eine schlechte Rasse,« raunte sie mir zu.
Ich schüttelte heftig den Kopf und sie sah mich traurig und zornig an.
»Willst du noch mehr Beweise? Danke Gott, daß du ihn nicht geheiratet hast, daß du vorher sehend geworden bist. Er hat es nie ernst mit dir gemeint, wie es sein Vater nicht ernst meinte mit meiner unglücklichen Frauke, die er dafür, daß sie treu zu ihm hielt, in den Tod gepeinigt hat. Fritz ist sein Blut. Wie ein Zigeuner schaut er aus und zigeunernd zieht er durch die Welt. Vielleicht verlacht er dich jetzt mit einer andern, daß du Zigeunerliebe getraut hast.«
Ich lachte laut und seltsam auf und weinte gleich darauf herzbrechend, stampfte mit dem Fuße und tobte ziemlich tollwütig umher.
Nachher schämte ich mich.
Großmutter Tönningsen ist alt und wunderlich. Am Abend spürt man's besonders, – sie sieht dann alt und verfallen aus.
Am Tage ist besseres Auskommen mit ihr, dann ist sie tatkräftig wie ein Junges und redet nicht über Fritz und ihre Nichtachtung für ihn. Aber sie macht dann andere Pläne, die mich bereits anfangen zu ängstigen.
»Ich bin dir Genugtuung schuldig,« sagte sie gestern, »und du sollst sie haben. Ich weiß einen Mann für dich. Ein Mädchen, das nicht heiratet, ist ein Unding, – du wirst den einen Enkel über dem andern vergessen, wirst auf diesem Marschhofe als angesehene Gutsherrin sitzen, über deine ersten Jugendträume lachen und mein Andenken segnen.«
Ich schaute sie verblüfft und sprachlos an, und da sagte sie geheimnisvoll:
»Ich habe noch einen Enkel: Edmund Tönningsen, der Sohn meines Sohnes. Er ist in Amerika geboren, und lange Jahre drüben gewesen, – ein offener Kopf und geborener Geschäftsmann. Jenseits der großen Pfütze hat er 'ne Farm bewirtschaftet, jetzt soll er meinen Hof hier übernehmen, der mir zu groß wird, und dich soll er heiraten.«
»Mich?« schrie ich entsetzt.
»Jawohl! Ich werde den Fritz auf das Pflichtteil fetzen, und du wirst mit deinem Manne das Vermögen bekommen.«
»Mit meinem Mann? Ich habe keinen Mann.«
»Doch, doch, Edmund Tönningsen wird dich heiraten und froh sein, daß er der Mühe des Suchen und Werbens überhoben ist, er ist ganz und gar Geschäftsmann.«
So schrecklich redete die Großmutter und ließ sich durch kein Hohngelächter und durch kein Zornigwerden davon abbringen.
Am ersten Juli wird Edmund kommen und die Zügelführung übernehmen, er hat sich bereits in fürchterlichem Amerikanerdeutsch angemeldet.
»Mein geliebtes Schwesterchen!
Es hilft nichts, ich muß vor die rechte Schmiede gehen, denn ich werde sonst noch verrückt vor allem Nachdenken und Grübeln über Euch beide, – über meinen liebsten Freund Rumohr und meinen einzigen Terle-Terle.
Sag' Du mir, daß es eine Unmöglichkeit ist, daß ein Fritz von Rumohr unehrenhaft handeln kann, – ich habe es an Muttchen, an Ohm Waldemar, an die Walküren geschrieben, erhalte aber ganz konfuse Antworten, aus denen ich nur sehe, daß sie alle tief erbittert auf Rumohr sind.
Mir wurde damals, als ich Euch vermählt glaubte, ein Brief von Fritz nachgeschickt, der den Stempel »Lugano« trug und die für mich völlig rätselhaften Worte enthielt: ›Behalte mich lieb, auch wenn ich nicht Dein Bruder werde. Felicitas hat sich eines andern besonnen und ist einer Heirat mit mir durch kopflose Flucht aus dem Wege gegangen. Ich gehe ins Ausland einstweilen.
Gott behüte Dich und Deine Schwester.
Fritz von Rumohr.«