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Die kleine Jula gehörte zu jenen Kindern, die keinen Vater haben, weil es für sie sündhaft wäre, einen zu haben. Mutter hatte sie gerade so viel, als unerläßlich nötig ist, um geboren werden zu können. Das war in der Gemeinde Pretull. Eine Bauernknechtin hat mit harten Kräften zu tun, sich selbst zu atzen und zu bedecken, so sagte die Magd, kaum sie vom Bette aufgestanden war, zu ihrem Dienstherrn: »Mein Rüsenbauer! Baue dir drei Staffel in den Himmel und nimm mir das Kleine ab!«
Dachte sich der Rüsenbauer: Das wäre nicht dumm. Drei Staffel in den Himmel und nach etlichen Jahren eine brauchbare Halterdirn, und nachher eine eigene Knechtin, die im Haus das Unhandsamste verrichtet und nicht viel kostet. 's täte sich. –
»Ja«, sagte er, »das Kleine nehm' ich dir ab, aber nur der Staffel in den Himmel wegen tue ich's.«
Die Magd schluchzte wohl, als sie in einen anderen Hof zog und sich von dem Kinde trennte; aber der Bauer tröstete sie: »Geh' nur, geh', mach' kein Wasser an, schaust dir doch wieder um ein anderes.«
Die Knechtin ging und sah nicht mehr um und starb nach kurzer Zeit.
Die Jula wuchs heran und war eine brauchbare Halterdirn und wurde eine willige Magd, die im Haus das Unhandsamste mit Geduld verrichtete. In jedem ordentlichen Hof muß ein Hofnarr sein; will der Witzigste sich dazu nicht hergeben, so muß der Einfältigste dran. Die Jula war die gläubige Einfalt, die alles für bare Münze nahm, was klingelte.
Den Sommer ihres neunzehnten Lebensjahres verbrachte sie mit Träumen. Es war sonst nicht ihre Art, tatlos dazustehen und in die leere Luft hineinzustarren, aber in diesem Sommer tat sie's, und im Herbst drauf kam's ans Tageslicht, warum. Es war wieder kein Vater da, aber die junge Mutter preßte ihr Wunder um so stürmischer an die Brust, je eindringlicher man ihr riet, es in fremde Hände zu geben.
Zur selben Zeit traf sie ein Geschick, das ganz unvermittelt dasteht, wie das Ereignis in einer stümperhaften Erzählung, oder wie eine schlechte Laune des Himmels. Zu mir ist nichts davon sonst gekommen, als was die Jula später oft und oft erzählt hat.
Sie zog am Morgen mit ihrem Graskorbe hinaus auf die Wiese und mähte, und rechte das Futter zu einer Schichte. Und als die Sonne aufgeht, bleibt sie ein wenig stehen, stützt sich auf den Rechen, schaut hin und denkt, wie doch die Sonne schön ist! – Wie sie sich wieder zu ihrer Arbeit wendet, sieht sie kein Futter mehr, keine Wiese, sieht den Rechen nicht, den sie in der Hand hält – und schreit auf: »Uh, Halbesel, was ist denn das?« 's ist so ein Nebel vor. Sie reibt sich die Augen, da tanzen rote, grüne und gelbe Sonnen im Nebel herum und sie sieht ihren Rechen noch immer nicht. Jetzt tastet sie umher und findet den Korb nicht, da ruft sie nach den Leuten.
Dort vor dem Hause steht die Bäuerin, die hört's, kommt etliche Schritte herbei und frägt, was denn das heute für ein Geschrei wäre beim Futtermähen?
»Du, Bäuerin«, sagte die Jula, »ich weiß nicht, was das ist, ich sehe auf einmal nichts.«
»So wirst halt blind geworden sein«, meint die Bäuerin.
»Jesus Maria, doch das nicht!« schreit die Jula und reibt mit Angst und Macht an den Augen, »nein – ich sehe ja alles! Ich sehe ja alles!« Aber sie tastet herum und stolperte endlich über die Sense, daß sie sich blutig schnitt. Endlich kamen Leute herbei und führten sie und sagten, es hätte schier den Anschein, als wie wenn sie blind geworden wäre.
»Nein«, rief sie, »blind! Was ihr närrisch seid, wie kunnt ich denn blind werden? – Zu meinem Kind führt's mich geschwind!«
Man führte sie in die Kammer. Sie tastete nach dem Knäblein, sie riß es von seinem Nestchen empor und vor ihr Auge, und jetzt tat sie den Schrei: »Blind! Stockblind!« und stürzte vor dem Bett aufs Knie.
Nun erst, als sie ihr eigenes Kind nicht mehr sehen konnte, wußte sie es, glaubte sie es.
Sie war blind. Und sie blieb von diesem Tage an blind, und sie lebte augenlos noch dreiundsechzig Jahre lang. – Gesagt mußte was werden, und so sagten die Leute, es wäre halt im Blut gelegen, und schwache Augen hätte sie immer gehabt.
Anfangs mögen die Quacksalber und Kurpfuscher gekommen sein mit ihren Schmieren und Pflastern, Tropfen, Laxieren und allen jenen Übeln, die dem Kranken – nachdem ihm sein Leiden vom Himmel gesandt ist – vom Teufel spendiert werden. Dann mag, ohne daß an einen Arzt, an eine Augenheilanstalt gedacht wurde – das Bestreben zu helfen erlahmt sein und man hatte der Armen gesagt: »Wenn's der lieb' Herrgott so haben will, so ist kein anderes Mittel, als wie geduldig leiden!«
Und zu diesem Mittel hat sich die Jula bequemt. Weniger Geduld hatten andere Leute, welche wohl sehen konnten, aber allzuschwarz sahen. Das waren die Vordersten der Gemeinde; diese taten dar, daß sie ohnehin schwer belastet seien, daß die Mutter der Jula nicht in ihrem Bereiche geboren, daß sie aus der Waldgemeinde Alpl gekommen war, und daß die Blinde nun in die Gemeinde Alpl zuständig sei. So wurde sie von ihrem Kinde hinweggeführt und in unsere Waldgemeinde eingelegt. Hier sollte sie als »Einlegerin« von Haus zu Haus wandern und in jedem eine bestimmte Anzahl von Tagen oder Wochen behalten und verpflegt werden.
In mein Vaterhaus kam sie von einem Boten des Nachbars begleitet, die erste Zeit des Jahres zweimal, und wir hatten sie jedesmal zwei Wochen lang zu behalten. Sie hatte einen Buckelkorb, in welchem sich ihre Habseligkeiten befanden, und den sie sich nie vom Boten tragen ließ, sondern auch dann noch selbst schleppte, als sie schon gar alt und mühselig geworden war. Ferner besaß sie einen Handstock, der am Griffknorpel ein Riemlein hatte, den sie außer Haus immer und überall bei sich trug, den sie zur Nachtzeit neben ihrem Bett mit ängstlicher Sorgfalt aufbewahrte, und der ihr wirklich mehr Gutes getan hat, als je ein Mensch auf dieser Erde. Dann hatte sie in ihrem Mieder stecken einen Blechlöffel, bei dem die Verzinnung schon fast weggegessen war und überall die schwarzen Stellen hervorschauten. Was man ihr vorsetzte, das aß sie nur mit diesem Löffel. Endlich besaß sie ein ledernes Geldtäschchen, in welchem sich stets – wenn irgendwo eine Not war – was vorfand. Denn in der ehrwürdigen Kirche zu Krieglach steht der steinerne Opferstock für die Armen, der über kreuz und quer mit Eisen beschlagen ist, nicht umsonst. Etlichemal des Jahres brachte der Richter von Alpl aus diesem steinernen Behälter Geld mit in die Waldgemeinde und verteilte es dort unter die Armen. Die Jula wurde jedesmal unruhig, wenn es hieß, der Richter komme. Zum öfterenmal freilich war es ganz vergeblich, wie sie sich auch um ihn herum zu schaffen machte. Er fragte wohl stets: »Na, Jula, wie geht's? Halt alleweil fleißig? Brav, brav!« Nur gar selten, »zu allen heiligen Zeiten einmal«, wie die Bauern sagen, setzte der Richter noch bei: »Schau du, ich hab' was für dich, Jula. Da lang' her. So, heb's gut auf!«
Da tat sie denn jedesmal bitten: »Nur keine Sechser nit! Alles Kreuzer sind mir lieber. Recht vergelt's Gott! Will schon fleißig beten.«
Mancher Bettelmann hat es erfahren, warum ihr die Kreuzer lieber waren, als wie das »große Geld«.
Ihr war ums Austeilen zu tun.
Beten sah man die Jula übrigens seltener, als man glaubt, daß ein Mensch, der so ganz auf den Himmel angewiesen ist, sollte. Im Gegenteil, wenn wir uns an Festtagen etwas eingehend mit dem Rosenkranz abgaben, hörte ich sie nicht selten ihren Knieschemel rücken und ein wenig dabei brummen. Einstweilen schien ihr die Erde wichtiger denn der Himmel. Konnte sie die Erde auch nicht sehen, so doch tasten. Und das tat sie denn getreulich, sie arbeitete. In jedem Hause, kaum sie eintrat, wußte sie sich nützlich zu machen, und war sie die Örtlichkeit einmal gewohnt, so waren ihre Verrichtungen von wirklichem Belange. Sie hackte Streu, sie wiegte die Kinder, ja, sie molk sogar die Kühe. Und wenn es ihr gelang, ihre Arbeiten zur Zufriedenheit des Bauers und der Bäuerin zu machen, so wuchs ihr Eifer und ihre Freude, und sie vergaß, daß sie blind war.
Der Stern ihres Auges war grau, sie sah nichts als den blassen Schein des Tages.
Mein Vater behielt sie häufig länger als zwei Wochen, denn er konnte sie gut beschäftigen und sie wollte nicht fort. Und als hernach wir kamen – wir Kinder mit unserem anspruchsvollen Geschrei, die Mutter aber wie vor und eh an ihre Arbeiten in Haus und Feld gebunden, die Großmutter schon auf den Kirchhof getragen worden war, da wurde die blinde Jula unsere Wärterin und Hüterin, ja, gewissermaßen unsere Erzieherin. Eine treue, verläßliche Führerin – die blinde Jula! Dazumal war sie schon hoch in den Vierzigern. Heute weiß ich es, daß ihr Ideenkreis gar klein, ihr Mund nicht beredt war – aber dazumal horchte ich mit Lust und Andacht ihren Worten, ihren Liedern.
Wie sanft schlief sich's ein, wenn sie die Wiege schaukelte und dazu mit weicher Stimme sang:
»Schlof, mein Büabel süasse,
Die Englein lossn dih grüassn,
Sie lossn dih grüassn, sie lossn dih frogn,
Ob du willst mit eahner in Himmel einfohrn!«
Und was war das für eine Lust, wenn sie uns auf dem Knie hopste:
»Hopp, hopp, hopp
Reit man in Galopp
So reitn kloani Kindelein,
So lang sie noh kloanwinzi sein;
Wenn sie nacher größer wern,
Reiten's wie die hohen Herrn,
Reiten's wie die Bauern drein.
Hopp, hopp, hopp,
Das wird lustig sein!«
Und mit jedem Wort heftiger wurde das Hopsen, so daß wir kleinen Reiter oft hoch in die Luft flogen und vor lauter Lust ein mächtiges Geschrei erhoben.
Ganz grauenvoll aber wurde uns, wenn sie sang:
»Der is a Noor,
Und däs is nit guat,
Der sih sei Nosn wegbeißt,
Und steckt sie auf'n Huat!«
So war die Jula Herrin unserer Gefühle und Stimmungen. Allzulange währte es freilich nicht, so hatten es auch wir Kleinen rein, daß der liebe Gott die Jula nur erschaffen habe, auf daß die Leute ihre Narreteien mit ihr treiben könnten. So hockte ich ihr gerne am Nacken, und was sie auch anfangen, drohen und bitten mochte, sie brachte mich nicht herab; ich sang: »Reiten's wie die Bauern drein: Hopp, hopp, hopp, das wird lustig sein!« und ritt sie zum Erbarmen. War ich endlich herunter und sie erwischte mich beim Rockflügel, und es gelang mir nicht, huschend das Röcklein rechtzeitig im Stiche zu lassen, dann machte sie haarsträubend Anstalten zum Prügeln und rief im entscheidenden Moment: »Für dasmal soll's dir noch geschenkt sein, du Unhold, aber wenn du mir's noch einmal so machst, nachher!«
Ich duckte mich und war stets so dreist zu fragen: »Was denn nachher?«
»Wirst es schon sehen!«
Wie spekulierte sie schlecht! Die Neugierde, was eigentlich »nachher« sein werde, war nicht die letzte Ursache, daß ich ein nächstesmal wieder Schabernack mit ihr trieb. Da sind mir endlich einmal die Augen geöffnet worden.
Die Jula hielt viel auf hohe Festtage, nicht etwa, weil's da Schmaus gab – diesen religiösen Grund der bäuerlichen Festfreude schien sie nicht zu kennen – sondern weil sie sich wirklich in eine weihevolle Stimmung zu versetzen wußte, die ihr wohltat. Besonders das Weihnachtsfest! Wo das Kind mitspielt, da ist das Weib gewonnen, um so mehr, wenn das Kind der leibliche Sohn des himmlischen Vaters ist, der da geboren wird, um die Welt zu erlösen. Sie, die bettelarme, stockblinde Magd, die für sich keine Freude hatte auf Erden und keinen Freund, der man einst das Kind weg von der Mutterbrust nahm, die keine Erinnerung hegen konnte an schöne Jugendzeiten und keine Hoffnung auf einen besseren Tag, sie konnte es fühlen zutiefst, daß die Welt erlöst ist! Sie, die Lichtloseste, war die Dankbarste für das Licht der Welt, und gleichwohl sie in stiller Christnacht nicht zur Kirche gehen konnte, so blieb sie wach und kniete an ihrem Bette und betete. Sonst, wenn ihr die Arbeit im Kopfe lag und in den Händen zuckte, war sie zum Frommsein nicht aufgelegt, aber heute fühlte sie sich ganz glückselig in dem Bewußtsein, dem lieben Jesukindlein in der Krippe durch ihre ungezählten »Vaterunser« eine Freude zu machen.
In einer solchen Christnacht gingen wir zur Kirche nach Sankt Kathrein am Hauenstein. Nur der Knecht Michel und Kathel die Magd, und die Jula blieben daheim, um das Haus zu hüten. Um vier Uhr morgens kamen wir zurück. Alles schlief; wir begaben uns auch zur Ruhe.
Aber schon nach kurzer Zeit wurden wir wieder aufgeschreckt. Der Nachbar Thomas, der zur Zeit Richter war, schlug an die Haustür und schrie, wir sollten aufmachen. Als er vor meinem Vater in der Stube stand, fragte er schneidig: »Nachbar, ich muß dich schon fragen, was mit der Einlegerin geschehen ist!«
»Die Jula meinst?« versetzte mein Vater, »was wird denn mit ihr geschehen sein? Verhoff's, daß sie frisch und gesund in ihrem Bett wird schlafen.«
»So geh' nur, schau nach!«
Mein Vater ging mit dem Licht in die Kammer – und das Bett der Einlegerin war leer.
»Wie kann denn das sein!«
»Gelt!« sagte der Bauer und sah meinen Vater an. »Das möchte man nicht glauben, daß bei dir ein armer Mensch so schlecht aufgehoben wäre. Kannst lange suchen in deinem Haus, wirst sie nicht finden.«
»Du erschreckst mich, Nachbar, wird doch nichts geschehen sein?«
»Was geschehen ist, frage ich dich! »sagte der Nachbar und fuhr fort: »Ich erzähle, was ich weiß. – Wie ich voreh von der Kirche heim gegen mein Haus hinaufgehe, höre ich unten in der Schlucht was schreien. – Schau, denke ich, sollt' im nächsten Jahr bei mir doch wer hinaussterben, weil die Nachteul' so schreit? Erkenn's aber bald, daß es keine Nachteul' ist, daß wer nach Hilfe ruft. Muß doch schauen gehen, was das zu bedeuten hat, wate im Schnee in die Schlucht hinab und finde mitten im Dickicht und im Eis – wen denn? – Dieselbige, die du da im Bett gesucht hast. Wie sie mich wahrnimmt, hebt sie gottserbärmlich an zu weinen, sagt nur: Zu tausend Gottes Willen, nimm mich in dein Haus! – Sonst habe ich von ihr nichts herausgebracht. Jetzt hockt sie in meiner Stube beim Ofen, sie ist halb erfroren. Und ich möchte nun wissen, Nachbar, was es bei Euch gegeben hat?«
Mein Vater pochte den Knecht Michel wach und fuhr ihn an, was in dieser Nacht, während wir in der Kirche waren, daheim geschehen sei?
»Daheim?« lallte der schlaftrunkene Knecht, »schreist einen so närrisch an, Bauer, was wird denn geschehen sein?«
»Wo ist die Jula? »
»Die Blinde?« fragte der Knecht entgegen und wurde geschmeidiger, »sollte die noch nicht da sein? – Weil der Patsch gar keinen Spaß nit versteht.«
Und weiteres war nicht vom Michel herauszubringen. Die Jula hingegen erzählte unter vielem Schluchzen, daß sie in einem Hause, wo es in der Christnacht so sündhaft hergehe, nicht habe bleiben können. Man möge den Michel und die Kathel nur fragen, was sie für einen sauberen Psalter gebetet hätten? Die zwei würden gemeint haben, eine Blinde sehe nichts; aber sie hätte es gehört; und als sie mit Schrecken die beiden Ohren zugehalten, da hätte ihr's inwendig gestoßen, just, als wie wenn der böse Feind nicht weit weg gewesen wäre. Sie hätte dann den Kopf in ihre Bettdecke graben und beten wollen, aber der Michel wäre gekommen und hätte ihr die Decke über das Haupt geworfen und hätte gesagt, sie wäre in ihrer Jungheit selber nicht besser gewesen. Weil sie darüber hart aufbegehrt habe, und auseinandergesetzt, das Gernhaben und das Schabernacktreiben in der heiligen Nacht, gerade dem Herrgott zum Trutz, sei zweiding! so hätten der Michel und die Magd ihr einen Strohwisch um den Kopf gewunden und sie so lange verhöhnt, bis sie davon sei gegangen in die Winternacht hinaus, und über die Felder hin, und sich dann in die Schlucht arg habe verstiegen.
Mein Vater führte die blinde Jula mit gütigen Worten in unser Haus zurück, und zum Knecht und zur Magd sagte er: »Daß ihr's wißt, in acht Tagen ist das Jahr aus.«
Der Knecht brummte etwas, die Kathel hub zu klagen an, sie, die Fleißige und Arbeitskräftige, würde doch dieser alten, bettelhaften Person wegen nicht den Platz verlieren?
»Du Dirn!« sagte mein Vater gespannt, »zünde mich nicht an! Ich will, daß wir gut auseinanderkommen.«
Die Jula war durch die Erkältung schwer erkrankt. Und als ich an ihrem Bette saß und in das blasse, alternde Antlitz mit den lichtlosen Augen sah, da nahm ich mir vor, wenn sie wieder gesund würde, nicht mehr auf diesem Rößlein zu reiten.
Sie wurde wieder gesund und sie blieb bei uns. Und als wir Kinder ihrer Pflege entwachsen waren, übernahm sie das Stallamt – pflegte die Kühe und Kälber, molk, was zu melken war und versah den Dienst besser und verläßlicher, als ihn je eine Vorgängerin versehen hatte. Mit den Leuten hatte sie nicht viel Gemeinschaft, sie schien sich, das hat sie mir einmal vertraut, zu einfältig dazu. Hingegen verstand sie sich mit den Tieren des Stalles. Abends, wenn sie schon in ihrem Bette lag – das nun im Stalle stand – konnte man sie oft stundenlang sprechen hören. Sie erzählte den Rindern ihre Jugendzeit, teilte ihnen ihre Erfahrungen mit, ihre Ansichten und Bedenken über den Gang der Welt. »Du Kalberl, bist schon auf? Gelt, gut geschlafen hast auf der frischen Streu?« – Sie war es, die mancher Kuh durch gute Worte und Gebärden mehr Milch aus dem Euter zu schmeicheln wußte, als den anderen gelingen wollte; eine Kuh hatten wir, die niemandem Milch ließ als der blinden Jula, wenn diese beim Melken Jodler sang.
Und wenn bisweilen ein Fremder an unserem Hause vorbeiging und er hörte das fröhliche, hell und weich klingende Singen, so mochte es wohl passieren, daß er durch die Stalltür lugte, was denn da drinnen für ein schönes Kind sei. Und sah dann das alte blinde Weiblein! Da kam aber bisweilen – wenn ein paar Feiertage nebeneinanderstanden, die dem Bediensteten weitere Gänge eigener Wege ermöglichten – ein Mann aus der Pretuller Gemeinde; er war noch jung, aber schon kräftig ausgewachsen und trug ein falbes Schnurrbärtchen im Gesichte und einen weißen Federbusch auf dem Hute. Der belauschte mit Lust die Sängerin und schlich schließlich zu ihr in den Stall. Er blieb mitunter länger drinnen, als das Melken währte, und die Jula redete nicht laut, wie sonst, wenn sie allein war, sondern flüsterte. Und wenn sie dann mit der Milch ins Haus kam, lag ein Himmel von Glückseligkeit in ihrem geröteten Antlitze.
Zweimal des Jahres ging sie zur Beichte. Dazu traf sie jedesmal eine Woche vorher umfassende Vorbereitungen und suchte sich im Hause oder in der Nachbarschaft einen Gefährten aus, der sie in die Kirche führte. Es ließ sich jeder gern herbei, denn nach dem Gottesdienste ging die Blinde mit dem Führer ins Wirtshaus und ließ ihm ein Mittagsmahl aufsetzen, dessen sich kein Herrnbauer hätte schämen dürfen. Hatte sie doch ein halbes Jahr lang das ihr zugefallene Armengeld dafür zusammengespart, und außer dem Almosen, das sie mitunter an Bettler verteilte, für sich kaum einen Kreuzer ausgegeben. Und diese Wirtshausstunden, da sie jemanden bewirten konnte mit feinem Speis und Trank, und dabeisitzen und mitfühlen, wie es schmecke – diese Stunden schienen die glorreichsten ihres Lebens zu sein.
Ein paarmal trug es sich zu, daß meine Mutter nicht in die Kirche gehen konnte, weil nicht so viel Geld im Hause war, daß sie sich im Kirchdorf hätte können eine Labnis gönnen. Das nahm die blinde Jula wahr und grollte, daß man ihr die Sache verheimlicht hätte. Geld sei ja doch im Hause! Und sie suchte aus ihrem Bettstroh das bekannte Lederbeutelchen hervor, und die Einlegerin gab der Hausgesessenen Almosen.
In Ruhe habe ich die Jula tagsüber nie gesehen, immer bei einer Arbeit. Und wenn sonst nichts für sie zu tun war, so tappte sie sich mit dem Stock zu einem Steinhaufen hinaus und legte die auseinandergerollten Steine zusammen. Sie wollte nicht die Blinde und die Arme spielen, und wer sie bemitleidete und bedauerte, dem war sie unhold und gab ihm zu bedenken, er möge rechte Leute in Ruhe lassen und zusehen, daß er nicht selbst zu bedauern sein werde!
Sie war die Wachsamste im Hause und wußte auch in allerlei Dingen Auskunft und Bescheid besser und verläßlicher, wie wir anderen; und nicht selten, wenn wir irgendeine in Verstoß geratene Sache alle miteinander mit offenen Augen vergeblich gesucht hatten, war es die blinde Jula, die sie auffand und herbeibrachte. Sie war die erste, die mich an den Schritten erkannte, wenn ich vom Walde heimkehrte; sie war auch die aufmerksamste Zuhörerin, wenn ich manchmal von kleinen Erlebnissen erzählte; sie hatte mich lieb behalten.
Zuweilen in Unglücksfällen, wenn uns der Kopf verloren ging, war sie es, die Rat und Trost wußte. Ich sah sie nie verzagt. Unwirsch war sie oft, aber wenn sie sich ausgebrummt hatte, bat sie alsogleich, daß man es ihr nicht übel nehme.
Ich vermute, die Jula hatte die ganzen dreiundsechzig Jahre nicht ein einziges Wort gesagt, aus welchem zu entnehmen gewesen, daß sie blind war. Die Kühe nannte sie selten bei ihren rechten Namen, die wir ihnen beigelegt hatten, sondern sprach, als unterscheide für sie stets die Farbe, nur von der »Braunen«, der »Scheckigen«, der »Falben«, der »Weißen«.
Für ihr Leben sprach sie nur einen einzigen Wunsch aus; wie alle Menschen, so wollte auch sie empor kommen: Wenn sie eine Schwaigerin kunnt sein auf der Höh'!
Wie oft hörte man sie singen:
»Jo, auf der Olm, do wa mei Glück,
I tauschat mit kana Gräfin nit! –
A Sennerin blieb ih ewiglich,
Und wan ih stirb, wir ih a Schwolbn;
Bis ma da Tod mei Herzerl bricht,
Gang ih nit weg von meiner Olm.«
»Ja«, murmelte sie dann, »schon lang! wenn ich nicht so wäre!«
Dieses »so« war ihre einzige Hindeutung auf ihren Zustand. Übrigens waren ihre anderen Sinne derart ausgebildet, daß man glaubte, sie habe ihre Augen in den Ohren, an der Nase, an den Fingerspitzen. Sonst ist die Seele gewohnt, bei den glänzenden Toren der Augen aus- und einzugehen; aber wo diese Tore verschlossen sind, da tritt sie sich durch die anderen Organe ihren verläßlichen und lieblichen Pfad.
Eines Tages kam einer unserer Nachbarn, zündete sich am Herd die Pfeife an und fragte, wie lange wir denn die Jula noch zu behalten gedächten? Er hätte sie auch zu brauchen. Und das arme Weib, welches man einst nur mit Widerwillen in die Gemeinde genommen hatte, war jetzt in ihren alten Tagen gesucht, umworben und allerorts als eine vorzügliche Arbeitskraft geschätzt.
So weit hatte sie es gebracht. Und wer früher an die Pflicht erinnert werden mußte, die Jula zu nehmen, der pochte jetzt auf sein Recht, sie zu erhalten.
Und der Mann mit dem falben Schnurrbart kam immer noch zu ihr, und brachte ihr stets ein Handbündelchen mit, voll Semmeln, Obst oder Lebkuchen. Wie war ihr hart, wenn sie ihm nichts spenden konnte, und wie war sie meinem Vater dankbar, wenn er den Mann aus der Pretuller Gemeinde zu Tische lud oder sonst ein freundliches Wort mit ihm sprach. Und wenn sie den Burschen belastete an seiner breiten Brust, an seinen Schultern, an seinem stämmigen Nacken – bis zu den dichten Haaren seines Scheitels vermochte sie kaum emporzulangen – da flüsterte sie wohl: »Wie groß du mir geworden bist, mein Tritzel, seit ich dich das letztemal hab' gesehen!«
Freilich, damals, als du ihn das letztemal gesehen hattest, war er ein kleines Kind gewesen, mit roten Wängelchen und himmelblauen Äuglein... O weine nicht jetzt, du armes, achtloses Mutterauge! Du siehst ihn ja; ewig unverdrängt bleibt dir sein Kindesangesicht im Herzen, während andere Mütter, wenn sie vor erwachsenen Söhnen stehen, oft klagen, daß sie kein Kind mehr hätten.
Als ich später in die Welt ging, ließ ich die blinde Jula noch bei meinen Eltern zurück.
Als diese davonzogen – der Vater in das Tal der Mürz, die Mutter in den himmlischen Frieden – da begann die Jula wieder ihr Wanderleben von Haus zu Haus. Aber nirgends soll sie sich mehr so in die Verhältnisse gefunden haben, als bei uns. Ihr Sohn, als armer Bauernknecht im Gebirge, wurde bald von seiner eigenen Arbeitslast gebeugt. Als ich, ins Gebirge zurückgekehrt, die Jula vor einigen Jahren wiedersah, waren ihre Haare grau, und gar gekrümmt stützte sie sich auf den Stock – es war noch derselbe mit dem Riemlein am Griffknorpel. Seither hatte ich mir oft vorgenommen, der vieljährigen Genossin meines Heimatshauses einmal etwas Liebes zu erweisen. Wie es aber zumeist geht, wenn man ein Gutes, das dem Herzen entquillt, nicht gleich am ersten Tage übt – es wurde verschoben bis zu jenem sonnigen Frühlingsmorgen, da der Sarg aus weißen Tannenbrettern vorüberschwankte an meinem Fenster. Ein unendliches Meer von Licht umwogte die Welt; ein sonniger Strom quoll ihr nach ins tiefe Grab.